Wie links ist die »soziale Marktwirtschaft«?

Ein bisschen diktatorisch

Die »Soziale Marktwirtschaft« gilt nach wie vor als erstrebenswertes Wirtschaftskonzept, auch in einigen linken Kreisen. Ihre staatsautoritären Ursprünge liegen in der Zeit des Nationalsozialismus.

»Will you still need me, will you still feed me, when I’m sixtyfour?« fragte Paul McCartney vor vielen Jahren besorgt. Die »Soziale Marktwirtschaft« ist erst 60 Jahre alt geworden, und glaubt man man­chen Umfragen und Meinungsäußerungen, so wird sie jetzt schon vernachlässigt. Nur noch jeder zweite Deutsche meint, die Soziale Marktwirtschaft habe sich bewährt, wie eine Befra­gung des Bankenverbandes ergab.
Sie hat zweifellos ihre Anhänger. Der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, klagte Ende Juni in der Berliner Zeitung: »Der Finanzmarkt­ka­pi­ta­lis­mus hat den Rheinischen Kapitalismus abgelöst.« Wer Profitmaximierung über Moral stelle, gefährde De­mokratie und soziale Marktwirtschaft, sagte Klaus Ernst, der stellvertretende Frak­tions­vor­sitz­en­de der Linkspartei im Bundestag, der Financial Times Deutschland als Reak­tion auf die Pläne für den nächsten Stellenabbau bei Siemens.
Ernst und Sommer träumen von einem »Wohlstand für alle«, der sich infolge eines staatlich ge­ordneten Wettbewerbs einstellt. Sie bejahen da­mit nicht nur ganz allgemein den Staat als Verwal­ter des Kapitalismus, sondern ein spezielles Programm, wie es von deutschen Wirtschafts­po­liti­kern und -wissenschaftlern nach 1945 unter dem Begriff »Soziale Marktwirtschaft« als politisches Konzept verfochten wurde.

Dass die staatsautoritären Vorstellungen der »Väter der Sozialen Marktwirtschaft« ihre Ursprünge vor dem Jahr 1945 haben, spielt bei den Anhän­gern des Konzepts kaum eine Rolle. Sowohl Ludwig Er­hard als auch sein Staatssekretär im Wirt­schafts­ministerium, Alfred Müller-Armack, der als Erfinder des Begriffs »Soziale Marktwirtschaft« gilt, wa­ren während des Nationalsozialismus an einfluss­reichen Stellen als Wirtschaftswissenschaft­ler tätig. Ludwig Erhard leitete ab 1942 das von der Reichs­gruppe Industrie finanzierte »Institut für Industrieforschung«.
Alfred Müller-Armack ließ gegen Ende des Krie­ges wegen der alliierten Bombenangriffe auf Münster das Herz-Jesu-Kloster im nicht weit ent­fern­ten Vreden-Ellewick für sich und das von ihm geleitete Universitätsinstitut beschlagnahmen. Ei­ne Reporterin der Wirtschaftswoche präsen­tierte das Kloster zum Jubiläum der »Sozialen Marktwirtschaft« als einen der »Ur-Orte« der Wirt­schafts­form. Sie legt die Vermutung nahe, dass Müller-Armack den Begriff vor Kriegsende entwickelte, ob­wohl er gedruckt erstmals 1947 in dem Buch »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft« vorlag. Müller-Armacks »mächtiger Gönner« sei das Rüstungskommando der Wehrmacht gewesen und sein »kriegswichtiger Auftrag« sei es gewesen, Möglichkeiten zu erkunden, in den besetzten Gebieten Textilien herzustellen. »Ein ganz bescheidener Mann war das«, wird Gerhard Haspecker zitiert, der jetzige Leiter der im Kloster ansässigen Canisianer-Brüderschaft, der »im Kloster sehr viel gearbeitet« habe. »Aber er hat hier gewiss keine kriegswichtigen Textilien entwickelt.«
Jene Zeit wird von Müller-Armacks wohlwollenden Biografen gern als eine der »inneren Emigration« beschrieben. Dabei war er im Jahr 1933 der NSDAP beigetreten und hatte sich in seinem Buch »Staatsidee und Wirtschaftsordnung im Neuen Reich« rückhaltlos zum Nationalsozialismus bekannt. Auch die spätere Behauptung, er sei zur Rassenideologie der Nazis völlig auf Distanz geblieben, lässt sich nicht halten. Mit direktem Bezug auf Hitlers »Mein Kampf« bekannte sich Müller-Armack zur völkischen Ideologie. Das Volk sei »Einheit des Geblüts und des Bodens wie letzte Übereinstimmung in Fühlen und Denken«, schrieb er.

»Müller-Armack musste sich 1933 nicht vom Liberalismus verabschieden, denn er war auch zu­vor kein Liberaler gewesen«, erklärt Joachim Zweynert von der Thüringer Zweigniederlassung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Zweynert gehörte zu den Veranstaltern eines Symposiums zum 60. Geburtstag der »Sozialen Marktwirtschaft« in Jena, das auf Initiative des Bunds Katholischer Unternehmer stattfand.
Auf Nachfrage der Jungle World hebt Zweynert die Unterschiede zwischen Müller-Armack und einem anderen Vordenker der »Sozialen Marktwirtschaft«, dem Ordoliberalen Walter Eucken, hervor. Der habe sich 1932 für eine »saubere Tren­nung« von Wirtschaft und Staat ausgesprochen, während es Müller-Armack ein Jahr später in »Staats­idee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich« ausdrücklich begrüßte, dass die Staats­macht endlich »grenzenlos« geworden sei. »Alle Vertreter der sozialen Marktwirtschaft waren keine lupenreinen Demokraten in unserem heutigen Sinne, sondern hatten eher ein autoritäres Staatsverständnis«, räumt Zweynert ein. Ihre An­sichten seien »elitär, wenn nicht gar – zumindest aus heutiger Sicht – autoritär« gewesen.
»Das Versagen des parlamentarischen Regi­mes wird gegenwärtig wohl in allen Ländern zugestanden«, schrieb er 1933. »Dass autoritäre Regierungsführung heute in ihrem Endsinne das Volk als Einheit formen will und von seinem zukünftigen Gesamtwillen die endgültige Bestätigung ihres Rechtes erhofft, berechtigt, um ein Wort Mussolinis anzuwenden, das neue Reich direkt als ›akzentuierte Demokratie‹ zu bezeichnen.«

Im Jahr 1968 entgegnete Müller-Armack dem Autor Rolf Seeliger, der ihm seine Texte aus der NS-Zeit vorgehalten hatte, er hielte die »Polemik gegen den damaligen so genannten Altliberalismus auch heute noch aufrecht. Schließlich gehöre ich zu jenen, die im Neoliberalismus und in der Sozialen Marktwirtschaft einen neuen Weg beschritten haben und eine Neuorientierung vom Laissez-faire bewirkten.« Und ansonsten: »Ich habe 40 Jahre auf deutschen Kathedern gelehrt, fragen sie meine Schüler nach meiner Gesinnung. Ihnen schulde ich keine Antwort.«
Auch die Schüler Müller-Armacks hätten hartnäckig zur Rolle ihres Lehrers in der NS-Zeit geschwiegen, sagt die Leipziger Volkswirtschafts­professorin Friedrun Quaas der Jungle World. »Das ist bezeichnend.« Quaas selbst kam in einem Artikel im Juni in der Frankfurter Rundschau ohne die Zeit vor 1945 aus. Darauf angesprochen, sagt sie: »Unterschlagen soll man das nicht, man sollte das richtig einordnen.« Eine autoritäre Linie bei den »Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft« bestätigt sie: »Sie waren auch expertokra­tisch und vielleicht auch ein biss­chen diktatorisch.« Quaas versucht dennoch, Müller-Armacks Ansichten gegen »Liberalisten« wie die von der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) zu verteidigen. Ein Autor der Wirtschaftswoche, Bert Losse, der auch für die INSM tätig ist, betont bei Müller-Armack entsprechend genau das Gegenteil. »Trotz seines Plädoyers für Umverteilung war Müller-Armack kein Anhänger eines allumfassenden Wohlfahrtsstaats. Er sah sehr wohl die Gefahren, die von übermäßiger Verteilung auf die Leistungsbereitschaft ausgehen.«
Die Bereitschaft zur Abwehr solcher »Gefahren« hat auch Müller-Armacks Sohn Andreas, Generalsekretär des »Wirtschaftsbeirats der Union e.V.«, einer Vereinigung von Unternehmern und Führungskräften, verinnerlicht: »Wenn die Menschen ihr Geld vom Staat bekommen, sehen sie nicht mehr, dass zwischen geleisteter Arbeit und Wohlstand ein Zusammenhang besteht«, sagte er voriges Jahr der Welt.