Adrian Tomine und seine Graphic Novels

Blondinen im Bonsaiwald

Adrian Tomine führt mit seinen Graphic Novels in die Community der jungen Asian-Americans. Sein neuer Comic ­»Halbe Wahrheiten« verhandelt die Suche slackerhafter Antihelden nach der passenden Identität.

In Amerika ist Adrian Tomine einer der Stars der unabhängigen Comicszene. Seine Comicreihe »Optic Nerve«, die er 1991 mit 16 Jahren als selbstkopiertes Heft startete, wird seit 1995 von der kana­dischen Independent Comic-Institution Drawn & Quarterly verlegt, mit einer Auflage von mittlerweile über 16 000 Exemplaren pro Aus­gabe. Die aus der Reihe entstandenen Alben, in denen seine frühen, zwischen autobiogra­fischen und fiktiven Elementen changierenden Geschichten orientierungsloser Menschen zwischen 20 und 30 zusammengefasst sind, erschie­nen ebenfalls bei Drawn & Quarterly.
Auch wenn diese verkürzte Beschreibung ein wenig klischeehaft klingen mag, hat Tomine mehr zu bieten als orientierungslose Comics für Verlierer. Autobiografische Selbstfindungs­comics gibt es wahrlich genug. Und schon gar nicht kann man Tomine auf die Imitation des Stils seines Freundes Daniel Clowes reduzieren, was in der Kritik bis heute häufig nahegelegt wird. Er warte auf den Tag, an dem ein Artikel über ihn erscheint, der nicht Clowes Namen enthalte, so Tomine in einem Interview.
Wenn die beiden etwas gemeinsam haben, dann vor allem dies: Ihre Comics zu lesen, macht nicht wirklich Spaß, der Leser kann sich an den Lebensproblemen der Protagonisten nur schwer­lich selbst aufrichten und muss sich oftmals wie ein Voyeur fühlen, der dazu gezwungen wird, zu weit in das Privatleben der Personen eindringen zu müssen. Dieses Konzept der scho­nungslosen Offenlegung der Abgründe seiner Protagonisten verknüpft Tomine oftmals subtil mit seiner eigenen Perspektive als Asian-Ameri­can. Diese Thematik schwingt immer wie­der unter der Oberfläche von Tomines Comics mit, wird jedoch nicht immer explizit gemacht, was ihm wiederum vielfach Kritik eingebracht hat, da Tomine eindeutige Positionierungen ver­missen lasse. Trotz der Absurdität dieses Vorwurfes hat er nun in seiner Graphic Novel »Halbe Wahrheiten«, dem Nachfolger des vielgelobten Sammelbandes »Summerblond«, das Thema der Identität asiatischer Amerikaner in den Mittelpunkt gerückt und spielt dort alle Probleme im Leben dieser Bevölkerungsgruppe durch. Und wie um die Vorwürfe ad absurdum zu führen, fährt er dabei jegliches Klischee auf, das die Leser über Asian-Americans haben könnten.
Der Protagonist Ben Tanaka ist 30, leitet ein Programmkino in Berkeley, führt seit vielen Jahren mit Miko Hayashi eine Beziehung, die an einem toten Punkt angelangt ist. Beide haben japanische Wurzeln. Während sich seine Lebensgefährtin in der asiatischen Commu­nity engagiert, asiatisch-amerikanische Filmfestivals organisiert und schließlich für ein Praktikum beim »Asian-American Independent Film Institute« von Berkeley nach New York zieht, kann Ben mit der Form von Integration, die sie vertritt, nichts anfangen. »Warum muss alles immer ein tolles ›ethnisches Statement‹ sein? Warum macht keiner dieser Leute zur Abwechs­lung mal einen guten Film?« fragt er Miko nach der Vorführung des Siegerfilms auf dem von ihr mitveranstalteten Festival. Diese Frage ist natürlich absolut berechtigt, gleichzeitig jedoch trägt Ben in seiner Fixiertheit auf blonde, weiße Frauen ein ebenso seltsames Konzept im Umgang mit seiner Identität und die an ihn gerichteten Erwartungen mit sich herum. Nachdem Miko in Bens Schreibtisch­schub­lade einen Stapel Porno-DVDs gefunden hat, in denen nur Weiße mitspielen, entscheidet sie, dass nun eine Beziehungspause eingelegt werden ­muss. Ihr Umzug nach New York kurze Zeit später zeigt dabei die Entfernung, in der Ben und sie mittlerweile leben. Ben ist nicht in der Lage, sich weiterzubewegen, weder geografisch noch geistig.
Tomine vermeidet es jedoch glücklicherweise, die Personen und ihre Einstellungen zu Fragen der Identität gegeneinander auszuspielen. Eben­so wenig, wie es wirkliche Sympathieträger gibt, zeigt er einen richtigen oder falschen Umgang mit dem eigenen kulturellen Hintergrund. Der Comic gibt keine Antworten auf diese Fragen und reißt viele Themen nur kurz an, etwa die gegenseitige wie auch die Selbstwahrnehmung der unterschiedlichen Gruppen der asiatischen Community in Amerika. An diesem Beispiel wird die Komplexität der Thematik deut­lich: Ben ist als Nachkomme japanischer Einwanderer mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs in ganz ande­rer Weise konfrontiert als seine gute Freundin, die lesbische Südkoreanerin Alice Kim. »Deine Leute haben meine Leute geplündert und vergewaltigt! Meine Oma betritt bis heute nicht mal ein japanisches Restau­rant«, erklärt sie Ben auf dem Weg zu einer Familienfeier, wo er sich als ihr Boyfriend ausgeben soll, denn: »Ich bin mir sicher, meine Familie sieht mich immer noch lieber mit einem japanischen Freund als mit einer koreanischen Freundin.« So wird deut­lich, dass es die Identität asiatischer Amerikaner nicht geben kann.
»Halbe Wahrheiten« ist ein Comic über Klischees, die Internalisierung rassistischer Strukturen und die Verunsicherung sexueller Iden­tität. Verbunden werden diese Themenstränge durch die vermeintlichen Defizite – »Short­comings«, so der Titel im Original –, mit denen sich die Figuren, insbesondere Ben, herum­zuschlagen haben. Diese Probleme werden von ihnen immer wieder an ihre kulturelle und ­sexuelle Identität rückgekoppelt. »Was ziehst du, wenn du einen Asiaten heiratest?« fragt Ben seine Kumpelfreundin Alice Kim. »Den Kürzeren.« Die Defizite, die er wahlweise in seiner Körper- oder Penisgröße verortet, treten in Form von Selbstzweifeln immer stärker in den Vordergrund, als Ben permanent an den Versuchen scheitert, blonden, weißen Frauen näher zu kommen. Die Punk-Performance-Künstlerin Autumn will ihn nicht küssen, »wegen der Keime«. Sasha, die bisexuelle Bekannte von Alice, dagegen sagt: »Ich könnte jetzt total ehrlich zu dir sein und dir ganz brutal ins Gesicht sagen, warum ich Schluss mache. Aber ich halte mich lieber zurück, denn ich bin mir nicht sicher, ob du dich jemals davon erholen würdest.«
Für Ben, der all seine Probleme auf seine Herkunft zu schieben versucht, sehen alle Asiaten, insbesondere Asiatinnen, gleich aus: »Du weißt schon: schwarze Haare, braune Augen, etc.« Trotzdem reist er seiner Ex-Freundin schließlich nach New York hinterher, unentschlossen, ob er sie zurückgewinnen oder endgültig verlas­sen will. Die Entscheidung wird ihm von Miko abgenommen. Ben kehrt alleine nach Berkeley zurück. Alice wiederum, auch die Verkörperung eines Klischees – »Ich hab mir vorgenommen, mit mindestens hundert Mädels was anzufangen, bis ich meinen Doktor habe« –, bleibt in New York, bei ihrer großen Liebe Meredith Lee. Meredith ist Hochschullehrerin an der New York University und steht so im Kontext von »Halbe Wahrheiten« gewissermaßen für die wissenschaftliche Herangehensweise an Fragen der kulturellen wie sexuellen Identität: »Ist deine Vorliebe für weiße Frauen eine sublime Form der Assimilation? Versuchst du, deinen gesellschaftlichen Status zu bessern … «
Auch diese Fragen bleiben unbeantwortet. Tomine will keine Abhandlung mit Lösungs­ansätzen für die unterschiedlichen Probleme der asiatischen Community in Amerika, und ­sicherlich nicht nur dort, vorlegen. Fragen muss er schließlich auch nicht beantworten, wichtig genug, dass jemand sie stellt. Stattdessen zeigt Tomine in einfachen, aber umso eindrück­licheren Bildern Strategien, mit diesen Fragen umzugehen bzw. ihnen aus dem Weg zu gehen. Was der Leser hinterher nicht mehr kann.