Forschungen am Gehirn von Ulrike Meinhof

Klammer im Kopf

Die Kontroverse um Forschungen an Ulrike Meinhofs aufbewahrtem Gehirn fördert obskur anmutende wissenschaftliche Thesen zu den Ursachen von politischem Widerstand zu Tage. Die RAF wird in der aktuellen Diskussion zunehmend pathologisiert.

Am 8. November 2002 enthüllte Bettina Röhl in der Magdeburger Volksstimme, das Gehirn ihrer Mutter Ulrike Meinhof sei 1976 nach deren Tod in Stammheim nicht mit dem Rest der Leiche bestattet, sondern mehr als 20 Jahre von dem Tübinger Neuropathologen Professor Jürgen Peiffer aufbewahrt worden. 1997, neun Jahre nach seiner Emeritierung, hatte Peiffer das asservierte Gehirn an seinen Magdeburger Kollegen Professor Bernhard Bogerts weitergereicht, der es, in feine Scheibchen zerlegt, untersuchte. Bogerts verglich Meinhofs Gehirn mit dem des Dorfschullehrers und Dichters Ernst August Wagner, der am 4. September 1913 im schwäbischen Degerloch seine Frau und seine vier Kinder und später im nahen Mühlhausen neun Dorfbewohner tötete, psychiatrisiert wurde und sich 1938, gegen Ende seines Lebens, noch zum »ersten Nationalsozialisten« seiner Anstalt erklärte. An Wagners Gehirn will Bogerts physiologische Gründe für dessen Verhalten erkannt haben.

Mit bloßem Auge erkennbar. Ulrike Meinhofs Gehirn war 1976 von den gerichtlich bestellten Obduktionsärzten, den Professoren Rauschke und Mallach, entnommen worden. Mallach, Mitglied der Waffen-SS und später Unterscharführer der SS-Panzerdivision 'Hitlerjugend', drückte 1977 die Köpfe von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Gips und bewahrte die Totenmasken in seinem Institut auf. Seinen Söhnen soll er, nach dem Tod der Gefangenen aus der RAF, erklärt haben: »Jetzt herrscht endlich wieder Ruhe.«

Peiffer hat nach Meinhofs Tod in einem weiteren offiziellen Gutachten festgestellt, ihr Gehirn weise »mit bloßem Auge« zu erkennende Veränderungen auf (FAZ, 9. November), Folgen einer osteoplastischen Schädeltrepanation am 23. Oktober 1962 wegen eines Kavernoms im Sinus Cavernosus, das abgeklemmt wurde. In seinem Befund, so die Internationale Untersuchungskommission zum Tod Ulrike Meinhofs, »findet sich jedoch kein Hinweis auf die Klammer, die sie angeblich seit 1962 im Kopf tragen soll.« (Der Tod Ulrike Meinhofs, 1979)

Mit der Internationalen Untersuchungskommission kooperierte Peiffer nicht. Er teilte lediglich mit, er »habe entsprechend der Deklaration des Weltärztebundes eine auch über den Tod einer Patientin hinausreichende Schweigepflicht, von der mich nur ein gerichtlicher Beschluss lösen kann«. Was ihn nicht davon abhielt, das Gehirn später an seinen Magdeburger Kollegen weiterzugeben.

Peiffer stellte eine »Kausalität zwischen der Hirnveränderung und den realitätsverlustigen Terrorhandlungen« fest und schrieb weiter: »Aus fachärztlicher Sicht wären Hirnschäden des hier nachgewiesenen Ausmaßes und entsprechender Lokalisation unzweifelhaft Anlass gewesen, im Gerichtsverfahren Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit zu stellen.«

Bogerts erklärte im November gegenüber der Presse: »Die Schuldfähigkeit Meinhofs war zu hinterfragen. Auf Grund des nicht zu entfernenden Tumors im mittleren Schläfenhirn, verbunden mit den Schädigungen durch den Eingriff 1962, lag nahe, dass ihre Psyche gestört war. Das Abgleiten in den Terror« sei, so der Magdeburger Professor weiter, »durch die Hirnerkrankung mit zu erklären«. Nach derzeitigem Kenntnisstand stehe zweifellos fest, dass eine derartige Hirnschädigung zu erheblichen psychischen Störungen und zu erhöhter pathologischer Aggressivität führe.

Bogerts knüpft an Bemühungen der Bundesanwaltschaft von 1973 an, Meinhof unter Zwangsnarkose neurologisch untersuchen zu lassen und dabei eine Szintigraphie durchzuführen. Damals sprach Bundesanwalt Zeis seine Absicht offen aus: »Wäre doch sehr peinlich, wenn sich herausstellte, dass alle diese Leute einer Verrückten nachgelaufen sind.«

Zuvor bereits - bei Ulrike Meinhof wurden die Folgen der totalen Isolation im Toten Trakt sichtbar, das von den Ermittlern erhoffte Geständnis blieb aber aus - hatte die Bundesanwaltschaft den Leitenden Medizinaldirektor Goette in Köln-Ossendorf beauftragt, »zu prüfen, ob die Beschuldigte in eine Heil- und Pflegeanstalt gebracht werden muss.«

Andreas Baader schrieb dazu in einer Erklärung am 18. Juni 1975: »... der einfall des bundesgerichtshofs, ihren kopf aufzumachen, um festzustellen, woher die gedanken des menschen kommen - das konkrete projekt der bundesanwaltschaft war der stereotaktische eingriff ins hirn.« Ein Eingriff dieser Art war bereits in den 50er Jahren im CIA-Projekt 'Blauer Vogel' als Methode der Willensbrechung politischer Gefangener untersucht worden. (Pieter Bakker Schut, Stammheim, 1986)

Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft stießen in eine Richtung vor, die in den USA bereits vorgezeichnet war. Im Herbst 1967 hatten Neurologen der Universität Harvard nach einem langen heißen Sommer mit Straßenschlachten in vielen amerikanischen Großstädten über die mögliche »Rolle von Hirnerkrankungen« als Ursachen der Gewalt spekuliert. Sie forderten »intensive Forschung und klinische Untersuchungen über diejenigen Personen, die Gewalttaten begehen, um Leute mit einer niedrigen Gewaltschwelle auszumachen, diagnostizieren und behandeln zu können, ehe sie weitere Tragödien auslösen.« (Johannes Kockel, Die subtile Kontrolle, in camera silens, 1995) Professor Andy, Neurochirurg an der Universität von Mississppi, schrieb damals: »Ich denke, dass Leute, die in einen Aufstand, wie etwa in Watts oder in Detroit verwickelt sind, abnormale Hirntätigkeit haben müssen.« (Der Kampf gegen die Vernichtungshaft, 1975)

Der italienische Terrorismusforscher Angelo Ventura gibt eine Erklärung, warum die Ursache »terroristischer Gewalt« gerne in psychischen Merkmalen lokalisiert wird: »Wenn der Terrorismus tatsächlich einzig ein Produkt von Dysfunktionen des sozialen und politischen Systems wäre, würde er aufgrund des kausalen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung Züge des Fortschritts an sich tragen, das heißt eine Legitimation erhalten und quasi 'geadelt'.« (Stefan Seifert, Lotta Armata. Bewaffneter Kampf in Italien, 1991)