Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich

Untotes ist nicht sexy

Dem universitären Mainstream gilt Klaus Heinrich als unwissenschaftlicher Querulant, Querulanten schätzen ihn als Geheimtipp in Taubenblau.

Klaus Heinrich sieht aus wie seine Bücher. Taubenblau wie deren Einband sind auch die Anzüge und Krawatten, die er stets zu tragen pflegt. Bekannt ist er allerdings weniger als Schriftsteller, sondern als bezaubernder Redner. So sind fast alle seiner Publikationen Transkriptionen seiner Vorlesungen an der Freien Universität Berlin. Heinrich dachte, während er redete, und während er redete, ging er auf und ab, fünf Schritte nach Norden, gefolgt von fünf Schritten nach Süden. Auf so manche wirkten auch seine Vorträge als Reden ins Blaue. Jacob Taubes, der philosophische Konkurrent Heinrichs, kritisierte dessen Unterhaltungstechnik als ein »endloses Gespräch«. Das Vorlesungsverzeichnis der FU könnte dieses Urteil bestätigen, in ihm wurde 1998 die letzte Veranstaltung Heinrichs so ankündigt: »Zum Verhältnis von transzendentalem und ästhetischem Subjekt XLII (Teile I-XLI nicht vorausgesetzt)«.

Allerdings resultiert Heinrichs Leidenschaft der dialektischen Betrachtung aus seinem erotisierten Verhältnis zur kritischen Theorie. Seine Kunst besteht darin, jede unerbittlich detaillierte Argumentation in die unausweichliche Kritik am Bestehenden zu führen. Am 9. November sprach Heinrich im Berliner Jüdischen Museum auf dem Heiner-Müller-Symposium »Die Nation beerdigen ...«. Während sich dort Gregor Gysi und Klaus Theweleit an der Rettung der Nation versuchten, bezeichnete Heinrich im Sinne Müllers die Substanz der deutschen Nation als »vampirischen Opferkult«. Ihre zentrale Intention sei die Verwandlung der Todesangst in Todessehnsucht. Dieser »nach vorn geklappte Ursprung« wirke seit den Befreiungskriegen als »unterirdische Obsession der Vernichtung« und lebe bis heute als »Untotes« fort. In der Überwindung der Todesangst liegt für Heinrich der Kern der Religion. Im Nationalsozialismus sei der Rückgriff auf die Religion als Form der öffentlichen Selbstverständigung erfolgt, als Einverständnis mit der Zurichtung.

Sich heute positiv auf die Nation zu beziehen, verbiete sich aus eben dieser Geschichte. An anderer Stelle charakterisierte Heinrich das deutsche Dasein als eine »ewige, realitätsentleerte Frontkämpferhaltung«, die ihren philosophischen Ausdruck in Martin Heideggers »Sein zum Tode« gefunden habe. 1948 gehörte Heinrich zu den studentischen Gründungsmitgliedern der FU, später leitete er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 das dortige Institut für Religionswissenschaft. Während er im universitären Mainstream als unwissenschaftlicher Querulant gilt, ist er unter Querulanten ein bekannter Geheimtipp. Sein Buch »Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen« (1962), eine Dialektik des Protests sowie seine programmatische Direktive, »die vornehmste Aufgabe einer Universität besteht darin, der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben«, lockten in den siebziger Jahren die Berliner Linke in seine Vorlesungen. Zu denen, die danach weder eine politische Karriere machten, noch in Stammheim landeten, gehören Ulrich Enderwitz und Rudi Thiessen; der eine ist bekannt für seine politische Nähe zu den Antideutschen, der andere für seine Nähe zum Rock'n'Roll. Gegründet wurde die Berliner Religionswissenschaft als Reaktion auf die Verdrängung des Nationalsozialismus.

Anders als in gleichnamigen Einrichtungen üblich, beschäftigte man sich hier nicht nur mit dem, wo Religion draufstand, sondern vor allem mit dem, wo Religion drin war. Die Religionsphilosophie sollte als »Korrektiv der Philosophie, als das von der Philosophie Verdrängte« betrieben werden und zwar nicht so, »als sei von ihrer Aufhebung niemals die Rede gewesen«. Der Begriff der Verdrängung verweist schon darauf, dass Heinrich neben der Marxschen Kritik die Psychoanalyse zu seiner wichtigsten Disziplin machte. Von den Nazis als jüdische Wissenschaft bekämpft, stand sie auch im nachnazistischen Deutschland im Verruf, keine saubere Angelegenheit zu sein.

Die Tendenz der deutschen Philosophie nach 1945, Heideggers »Geschick des Seins« zum außerordentlichen Gegenstand des Interesses zu machen, war für Heinrich ein Anlass, den Verdrängungsleistungen und den Formen der intellektuellen Affirmation des Schicksals entgegenzuwirken. Als sich 1967 die studentischen Gründer der FU mit einer Erklärung gegen die Rebellion ihrer Nachfolger wandten und sie dazu aufriefen, die Trennung zwischen dem Staats- und dem Universitätsbürger zu wahren, verweigerte Heinrich als einziger Ehemaliger seine Unterschrift und kritisierte seine Weggefährten: »Das Unvermögen unserer Universitäten sich zu ändern, ist das gleiche Unvermögen, das sie 1933 nicht widerstehen ließ.«

Er warf ihnen vor, die Lehre des NS vergessen zu haben, dass nämlich »eine politisierte Universität identisch sei mit einer vermeintlich unpolitischen«. Die größte Anerkennung, die ihm die Universität für diese Kritik aussprach, bestand darin, ihn als einziges lebendes Gründungsmitglied nicht zu den Feierlichkeiten zum 50jährigen Bestehen der FU im Jahr 1998 einzuladen. Schon lange zuvor stellte Heinrich enttäuscht fest, dass sich das Verhältnis zur Universität »enterotisiert« habe. Der Autonomieverlust wegen der totalen Bürokratisierung der Akademie sei durch eine »Ersatzbefriedigung« kompensiert worden. Statt etwas vorzuhaben, was auf die Änderung des Bestehenden ziele, sei das Forschungsvorhaben zu ihrem Fetisch geworden.

Die Stelle des utopischen Potenzials habe ein spirituelles Harmonieprinzip eingenommen, indem die rebellischen Studenten ihre Bedürfnisse mit denen der Universität und der Gesellschaft gleichsetzten. Die studentische Intention sei daher eher Hegels Utopie des Geistes gefolgt als der Marxschen Einsicht in die antagonistischen Interessen der Klassen oder dem Freudschen Modell eines auf Verdrängung beruhenden Selbst. Ende der sechziger Jahre saß Heinrich in einer TV-Talkshow zum Thema Grenzerfahrung. Reinhold Messner lehnte sich behaglich in den Sessel, erzählte von den Bergen, die er schon bezwungen hatte, und war sichtlich überfordert von Heinrichs Antwort.

Die einzige Erfahrung, die der Erfahrung eine Grenze gesetzt habe, seien die Vernichtungslager der Nazis gewesen. Messners Erwartung, einen gemütlichen Plausch zu führen, endete in seiner völligen Verstörung. Heinrich beschrieb später die Gemütlichkeit als »deutsches Stichwort«. In ihm manifestiere sich die Drohung der deutschen Geselligkeit, jederzeit in Brutalität umschlagen zu können, ungemütlich zu werden. Dieses »Sichfallenlassen auf Zeit der in gemeinsamen Aktionen Verstrickten, das jederzeit wieder in die gemeinsame Aktion umschlagen kann«, machte es Heinrich unmöglich, sich in der deutschen Gesellschaft und in ihren Unterhaltungsshows gemütlich einzurichten. So blieb er draußen.

Man muss sich die kryptische Forderung Müllers nach einem »Dialog mit den Toten« nicht zu Eigen machen, um doch zu bemerken, dass die in den neunziger Jahren intensivierte Erinnerungsarbeit nichts mit seiner Aufforderung zu tun hat, »die Nation zu beerdigen«. Das Resultat des häufig als »unbefangen« bezeichneten Umgangs mit der Geschichte ist trotz der Flut von Ausstellungen, Filmen, Dokumentationen, Forschungszentren, Mahnmalen und Gedächtnisfeiern eine Entlastung, die weiterhin die Vorstellung einer Opfergemeinschaft aufrechterhält. Das meint Heinrich, wenn er feststellt, die Art und Weise, wie man sich der deutschen Geschichte erinnere, habe deren »Untotsein« noch befördert.