Die Thesen des Sportwissenschaftlers Arnd Krüger zum Olympiamassaker 1972

Der Fall Krüger, eine Abwicklung

Die kruden Thesen eines Göttinger Sporthistorikers zum Olympiamassaker 1972 seien von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt,
befand die Universität Göttingen. Aber jetzt zeigt sich: Er hatte alle Belege frei erfunden.

Noch vor wenigen Wochen war die Empörung über den »Fall Krüger« ein bisschen größer, als man sie für gewöhnlich kennt: Der Göttinger Sportwissenschaftler Arnd Krüger hatte im Juni behauptet, die elf israelischen Sportler, die beim Münchner Olympiamassaker 1972 ermordet wurden, seien freiwillig in den Tod gegangen.
Daraufhin erklärte Thomas Bach, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), aus Krügers Thesen spreche ein »antisemitisches Menschenbild«, Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland sagte, Krügers Thesen grenzten an Volksverhetzung. Und auch das Präsidium der Georg-August-Universität, an der Krüger lehrt, verurteilte dessen Vortrag, weil »durch diese Äußerungen antisemitischen Positionen Vorschub geleistet wird«. Wenige Wochen später kam eine Ombudskommission dieser Universität jedoch zu dem Schluss, Krüger sei kein wissenschaftliches Fehlverhalten nachzuweisen. Es war eine Art Freispruch.
Doch jetzt liegen Informationen vor, die beweisen, dass Arnd Krüger noch weniger Belege für seine kruden Thesen hat, als zunächst angenommen. Noch schlimmer: Professor Krüger hat alles, was für seine Thesen sprechen könnte, erfunden oder halluziniert.
Der Reihe nach: Im Institut für Sportwissenschaft der Universität Göttingen trafen sich am 20. Juni 2008 die deutschen Sporthistoriker zu ihrer Jahrestagung. Von Arnd Krüger, dem Leiter des gastgebenden Instituts, war ein Vortrag mit einem irritierenden Titel angekündigt: »Hebron und München. Wie vermitteln wir die Zeitgeschichte des Sports, ohne uns in den Fallstricken des Antisemitismus zu verhaspeln?« Dazu hatte er ein Abstract eingereicht, in dem es zu dem Münchner Olympia-Attentat 1972 heißt: »Ähnlich wie beim Hebron-Massaker 1929 gingen Israelis bewusst in den Tod, um der Sache Israels als gan­zer zu nutzen.«
Zwanzig Minuten Zeit hatte Krüger, um seine Thesen zu unterfüttern. Er zitierte zunächst einen eigenen Aufsatz, den er 1999 in englischer Sprache verfasst hatte. Zum Massaker von München 1972 heißt es da: »Es war nicht sehr überraschend, dass eine palästinensische Terror­organisation die Gelegenheit nutzte, um Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln zu nehmen. Auch die Israelis waren nicht überrascht, und daher blieb nur eine kleine ausgewählte Gruppe von ihnen, alle mit militärischem Dienstrang, im Olympischen Dorf, während die meisten Mitglieder des Teams es vorzogen, in München bei Freunden zu wohnen – aus Sicherheitsgründen verteilt über die ganze Stadt, um nicht als Ziel zu dienen.«
Krüger stellte in seinem Vortrag die Frage, warum seine These, die Sportler seien wissen- und willentlich in den Tod gegangen, noch niemand untersucht habe: »Dummheit? Verschwörung? Laien? Angst vor Anti-Semitismus-Vorwurf?« Mögliche Antworten lieferte er gleich mit: »die Verlängerung der Schuld(en) Deutschlands gegenüber Israel und damit des besonderen Verhältnisses«.
Das Hebron-Massaker, von dem er sprach, fand im August 1929 statt. Da hatte die zionistische Untergrundbewegung Hagana die in Hebron lebenden Juden gewarnt, sie habe konkrete Hinweise auf einen Überfall, doch die jüdische Community vertraute darauf, dass sie doch seit Jahren in guter Nachbarschaft mit Arabern lebte. Eine Fehleinschätzung, 67 schutzlose Juden wurden umgebracht.
In Krügers Darstellung entstand daraus ein »Hebron-Mythos«: Von dem Massaker habe »die jüdische Bevölkerung in gewisser Weise profitiert«. Ähnliches könne man für München 1972 behaupten: Die Sportler hätten sich ebenfalls trotz Warnungen für die zionistische Sache geopfert.
Den Hinweis auf die vermeintliche Parallele verdanke er einem jungen israelischen Wissenschaftler, Amichai Alperovich. Der jedoch ist empört, dass er als Urheber der kruden Hebron-München-Parallele gehandelt wird. »Krüger hatte mir eine E-Mail geschickt, in der er sich nach einer Verbindung von Hebron und München erkundigte«, sagt Alperovich. »Ich sagte ihm, dass ich nicht weiß, wovon er spricht und dass ich nicht verstehe, wie er auf eine solche Verbindung kommt. Von mir hat er das nicht.«
Den einzigen Beleg, den Krüger für die von ihm behauptete Hebron-München-Parallele anführte, nämlich die Forschungsarbeit eines jungen Historikers, hat er schlicht erfunden.
Aus seinem historisch falschen Verständnis der Tragödie von 1929 – er glaubt ja, dass die Menschen freiwillig in den Tod gegangen seien, dabei starben sie, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ihnen aus ihrer Nachbarschaft heraus Gefahr drohte – leitete Krüger weitere Fragen ab: »Welches Verständnis eines Wertes eines Menschenlebens steht dahinter?« wollte er wissen und: »Darf man das unterschiedliche Menschenbild in Israel und Deutschland in diesem Zusammenhang diskutieren?«
Arnd Krüger zauberte einen neuen Beleg aus der Tasche, wieder vermeintlich aus der jüngeren israelischen Forschung stammend. 2007 hatte die Soziologin Yael Hashiloni-Dolev eine Dissertation vorgelegt, die die Reproduktionsgenetik in Deutschland und Israel verglich. »Deutschland ist ein Land, das gegenüber neuen Techniken äußerst kritisch ist«, stellt Hashiloni-Dolev dort mit Blick auf pränatale Untersuchungen fest. »In Israel herrscht dagegen eine große Technikbegeisterung.« In Krügers Wahrnehmung bedeutet das, in Israel werde ein Fötus nur dann als »kulturell (und daher medizinisch) lebensfähig« betrachtet, wenn er »gesund« und »normal« sei, ja sogar: »Jüdische Kultur versucht Leben mit Behinderungen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern.« Das aber hat mit Hashiloni-Dolevs Dissertation nichts zu tun.
Als klar wurde, dass Krüger seine These vom lebensfeindlichen Judentum nicht halten kann, zog er seinen vermeintlichen Beleg zurück: »Es war in jedem Fall ahistorisch, diese Dissertation heranzuziehen, denn mit einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2007, die die letzten Jahre behandelt, einen Schluss zu ziehen auf das Jahr 1972, ist ahistorisch.« Dass Hashiloni-Dolev gar nicht behauptet hat, was Krüger bei ihr zu lesen glaubte, sagt er damit nicht.
Auch andere vermeintliche Belege Krügers erweisen sich als falsch. So verwies er auf den israelischen Olympiateilnehmer im 50-Kilometer-Gehen, Shaul Ladany. Mit dem sei er befreundet gewesen, bei einem Wettkampf 1971 habe er ihn betreut. Der stark sehbehinderte Ladany sei der letzte gewesen, der über den Balkon vor dem Terrorkommando habe fliehen können. Warum, so fragt Krüger, sei Ladany geflohen, und nicht die anderen – das müsse man doch als Beweis für seine These vom Opfertod verstehen.
Shaul Ladany, bis zu seiner Emeritierung Professor an der Ben-Gurion-Universität im Negev, sagt, dass Krüger ihn nie betreut habe, wie er behauptet. Sein Apartment, in dem auch zwei israelische Sportschützen lebten, die ihre Waffen bei sich führten, sei auch nicht unmittelbar überfallen worden, nur die links und rechts liegenden Apartments. Das sei der Grund, warum er flüchten konnte.
Auch dieser scheinbare Beleg für Krügers Thesen erweist sich also als erfunden: Ladany sagt, Krüger habe sich nie mit ihm unterhalten.
Auch andere Quellen, die ein Historiker hätte benutzen müssen, hat Krüger nie abgefragt. Er behauptete beispielsweise, »vor dem Attentat waren die israelischen Zeitungen voll mit Kritik an der schlechten Sicherheitssituation im Olympischen Dorf«, aber danach habe nichts mehr dort darüber gestanden. Später gab er zu, auch diese Behauptung noch nie gecheckt zu haben: »Das muss ich überprüfen.«
Für eine Tatsache hält Krüger die Vermutung, dass die elf Sportler freiwillig in den Tod gegangen seien. Er war schließlich »Zeitzeuge«, wie er betont: 1968 war Krüger als Mittelstreckenläufer Olympiateilnehmer, 1972 war er als Journalist bei den Spielen akkreditiert. Mit einigen israelischen Leichtathleten war er befreundet, und eine Israelin, die 800-Meter-Läuferin Hana Shezifi, habe ihm für den 5. September, an dem abends das palästinensische Terrorkommando die Israelis überfiel, »unter dem Siegel der Verschwiegenheit« etwas gesagt: Sie sei aus dem Olympischen Dorf ausgezogen, zu Freunden in die Münchner Innenstadt. »Es gab Informationen und Warnungen, dass ein Anschlag auf das israelische Team geplant war«, sagt Arnd Krüger. Nicht nur Hana Shezifi, sondern große Teile der israelischen Mannschaft seien in Münchner Privatwohnungen untergebracht worden, unter anderem das gesamte Frauenteam.
Diese These hatte Krüger ja schon 1999 veröffentlicht, und im Frühjahr 2008 etwas Ähnliches im Interview mit der Göttinger Studentenzeitung Seitenwechsel geäußert: Die geblieben seien, »hatten sich freiwillig gemeldet und wussten, dass die Palästinenser kommen würden«.
Der einzige Beleg, den Krüger für diese vermeintliche Tatsache anführt, ist ein Gespräch, das er angeblich vor 36 Jahren mit Hana Shezifi geführt hat.
Shezifi erinnert sich an Krüger, sagt aber, dass sie seit über dreißig Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Dass sie ihm etwas von Warnungen und einem Auszug aus dem Dorf erzählt habe, bestreitet sie. Die gesamte israelische Mannschaft sei am Abend des 4. September in die Münchner Aufführung des Musicals »Anatevka« mit Shmul Rodensky gegangen. Shezifi und ihr Mann hatten das Musical kurz vorher bereits in Israel gesehen und trafen sich lieber mit Freunden in München, wo sie auch übernachteten.
Was Krüger Shezifi in den Mund legt, hat diese also nie gesagt, nicht mal angedeutet. Und Krüger hat sie vor der Veröffentlichung seiner Thesen auch nicht kontaktiert.
Arnd Krüger hat sich mittlerweile von seinen Thesen distanziert. Am 11. September will nun die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (DVS) mitteilen, ob sie ihn ausschließen wird.