Günther Anders' »Über Heidegger«

Mehr Schwein als Sein

Anlässlich seines 100. Geburtstages sind Günther Anders' Aufsätze zur Philosophie Heideggers wieder erschienen.

In seinem Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen«, zuerst im Jahr 1956 erschienen, spricht Günther Anders von der Notwendigkeit einer Gelegenheitsphilosophie und meint damit eine Mischung aus Journalismus und Metaphysik. Anders, der im weitesten Sinne der kritischen Theorie zugerechnet werden kann, war vor allem mit dem philosophischen Rückzug in den Elfenbeinturm nicht einverstanden. Zwar sei Theorie bereits Praxis, Denken allein aber noch kein Handeln. Der Adorno-Preisträger von 1983 monierte etwa die auf Praxisverweigerung weisende esoterische Sprache Theodor W. Adornos; über die Frage des nötigen gesellschaftlichen Engagements einer kritischen Philosophie gab es schon während der Emigration heftige Kontroversen mit Max Horkheimer. Adorno beginnt seine »Negative Dialektik« (1966) mit dem bewussten Verzicht kritischer Theorie auf Praxis: Praxis sei, gerade nach Auschwitz, auf unabsehbare Zeit vertagt, wenngleich auch unabdingbar, damit Auschwitz sich nicht wiederholt. Marx hatte noch im revolutionären Fieber postulieren können, dass die Kritik zur materiellen Gewalt werden kann, sobald sie die Massen ergreift.

Auf diese Massen ist allerdings kaum mehr zu bauen, nachdem sie im Nationalsozialismus die antihumanen und antisemitischen Ressentiments zur materiellen Gewalt erhoben. Der Feind hat zu siegen nicht aufgehört; Auschwitz muss sich nicht wiederholen, um die Dialektik der Aufklärung blind weiterlaufen zu lassen. Vorerst, so Anders, endet die neuzeitliche technische Rationalität in der »atomaren Drohung«, in der Möglichkeit der Selbstauslöschung des Menschen. Deshalb könne das engagierte Denken das engagierte Handeln nicht delegieren.

Auch wenn Günther Anders ein Außenseiter blieb, so steht er mit seinem kritischen Denken doch im Zentrum einer intellektuellen Situation von Theorie und Praxis in den Restaurationsjahren der Nachkriegszeit, deren Pole Verzweiflung, Ohnmacht und fast anarchistische Aufbruchstimmung heißen. Ernst Bloch stellt in den Fünfzigern sein »Prinzip Hoffnung« fertig, Hannah Arendt »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, Adorno in den Sechzigern die »Negative Dialektik« und Ulrich Sonnemann dazu die »Negative Anthropologie«.

Ähnlich wie Anders hat Herbert Marcuse in »Der eindimensionale Mensch« (1964) die ideologische Vernichtung des Individuums gesehen. Auch Günther Anders ging es vor allem um die reale Annullierung des Subjekts, die in der Idee der Subjektivität bereits angelegt ist. Damit hat er wesentlich die Subjektkritik des Poststrukturalismus vorweggenommen, und man liest durchaus schon nach Foucault klingende Machtkritik. Was später bei Baudrillard zur regressiven Postmoderne der Simulation wird, ist bei Anders die »Welt als Phantom und Matrize«. Anders' Resümee: Wir leben nicht in einem Zeitalter, sondern innerhalb einer Frist, gekennzeichnet von einer »Apokalypseblindheit«, wollen die drohende Katastrophe nicht wahrhaben. Später wird der Historiker Eric Hobsbawm vom »Zeitalter der Extreme« sprechen, der Wegbereiter der Cultural Studies, Edward P. Thompson, vom »Zeitalter des Exterminismus«.

Günther Anders hat die internationale Anti-Atom-Bewegung mitinitiiert, er engagierte sich gegen den Vietnamkrieg, demonstrierte gegen Kernenergie, führte einen Briefwechsel mit Claude Eatherly, dem Piloten, der die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hatte; Anders schrieb über Brecht und Kafka und verfasste selbst Romane, so etwa die »Molussische Katakombe«. Molussien ist Teil einer Negativutopie, die Anders auch in seinen philosophischen Schriften erwähnt, deren fiktiven Gelehrten er zitiert. Zu Anders' Schriften gehören Tagebücher, Fragmentsammlungen, Kurzgeschichten, Gedichte, Berichte, Glossen. Sie erschienen im C.H. Beck-Verlag, der anlässlich des 100. Geburtstags des Philosophen eine Sammlung seiner Aufsätze und Notizen zur Philosophie Martin Heideggers herausgebracht hat. Das Buch heißt bündig »Über Heidegger«; der Umfang von gut 500 Seiten verweist auf die Bedeutung Heideggers. Nicht nur für Anders. Hannah Arendt nannte Heidegger einmal den »heimlichen König« der deutschen Philosophie. Sein Einfluss scheint fast ubiquitär, und um keinen Philosophen hat es größere Kontroversen gegeben.

Was macht Heidegger so brisant? Kurze Antwort: Heidegger war Faschist; Heidegger war Mitglied der NSDAP, er sah im Nationalsozialismus die Rettung, denunzierte seine jüdischen Kollegen, verlangte den Hitlergruß im Seminar, als dieser an nazideutschen Universitäten schon wieder abgeschafft war, relativierte den Holocaust mit dem Hinweis auf das Schicksal der Ostdeutschen; dann, nach 1945 sollte nur noch ein Gott die Deutschen retten können. Die ganze Kontroverse über Heidegger dreht sich um die Frage, inwieweit die Person Heideggers von seiner Philosophie geschieden werden kann, gerade weil hier Person und Denken zusammenfallen.

In nahezu aberwitzigen (De-) Konstruktionen haben beispielsweise Lyotard, Vietta und Derrida versucht, Heidegger zu retten. Die Juden, die Heidegger antisemitisch meinte, seien gar keine Juden gewesen; Heidegger habe vielmehr den Weg der inneren Emigration eingeschlagen und damit sogar dem NS-System Widerstand geleistet; Heidegger habe die Metaphysik, die er so gern zertrümmern wollte, nicht genügend zertrümmert, er blieb also aus Inkonsequenz am Faschismus hängen etc.

Dabei stand Heideggers über Sympathie hinausgehende Nähe zum Nationalsozialismus nie in Frage; die entsprechenden Texte waren längst bekannt, so auch Heideggers zweimalige Absage, einen Ruf an die Universität in der Reichshauptstadt Berlin anzunehmen: »Warum wir in der Provinz bleiben«, fragte Heidegger damals seine deutschen Schwarzwaldbauern, in deren nickendem Schweigen er die Antwort fand. Das war aber nicht ein ansonsten weltoffenes, nur zufällig mit dem NS sich berührendes Denken, dem aus privaten Vorlieben die Landluft mehr zusagte als die große Stadt. Heideggers Philosophie ist provinziell, ihre »Kategorien sind landwirtschaftlich geworden«, wie Anders schreibt, »Ackerbau-Kategorien«.

Es sind die Kategorien der so genannten Fundamentalontologie, die Heidegger in »Sein und Zeit« von 1927 formulierte, und die viele Intellektuelle in den Bann zog. Er gab vor, erstmals seit 2 000 Jahren - also passend zum dämmernden Dritten Reich -, erstmals seit Platon die Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen, und vorbei an Subjekt und Objekt, an Anthropologie, Biologie, Soziologie und Psychologie ihr auf den Grund zu gehen. Das schien, im Vergleich zur belanglosen Gelehrsamkeit akademischer Philosophie bis dahin, ein bahnbrechender Vorstoß in die praktischen und konkreten Bereiche des unmittelbaren Lebens zu sein: ein »Sorge« seiendes und sich »besorgendes« »Dasein«, das in seiner »Entschlossenheit« dem bloßen »Man« sich entgegenstellte. Die für folgende Debatten so wichtigen Pariser Frühschriften von Marx, die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von 1844, wurden erst 1932 bekannt, erst dann konnte vor allem mit der Theorie der Entfremdung Heideggers Bedeutung korrigiert werden. Bis dahin schien Heidegger sogar für linke und jüdische Intellektuelle emanzipatorisch anschlussfähig, um etwa Zionismus und Räterepublik, »ubi Lenin, ibi Jerusalem«, zusammenzubringen.

Eine Schein-Konkretheit, wie sich herausstellte, die ein »Dasein« entwirft, das ganz ohne Bedürfnisse bleibt, Angst und Sorge kennt, aber keinen Hunger, kein Begehren: »Der Bereich von Heideggers Konkretheit beginnt hinter dem Hunger und hört vor der Wirtschaft und der Maschine auf: in der Mitte sitzt das 'Dasein' herum, hämmert sein 'Zeug' und beweist dadurch 'Sorge' und den Neubeginn der Ontologie.«

Dass die Person Heidegger von ihrem Denken und von ihrer Wirkung nicht zu trennen ist, hat Günther Anders - der von 1921 bis 1924 bei Husserl und Heidegger in Freiburg studierte - in zwei kaum rezipierten, jetzt in »Über Heidegger« wieder zugänglich gemachten Artikeln entwickelt: »Nihilismus und Existenz« von 1946 und »Die Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie« von 1948.

Heideggers Seinsphilosophie ist Ausdruck eines Jahrhunderts des Individualismus ohne Individuum. Heidegger kritisiert nicht die totale Verwertung des Seins, die Reduktion des Elends auf individuelles Schicksal; ihm geht es vielmehr um das »Geschick«, gegen die »Seinsvergessenheit«. Heidegger zitiert Kierkegaards »Die Zeit der Distinktionen ist vorbei«, weil es ihm eben nicht um Distinktion - Analyse und Kritik - geht, sondern um das Denken des Seins als »Heilsbringung«, um eine »ontologische Religion«.

Das passt durchaus zur heutigen Zeit, in der Distinktionen nicht mehr Werkzeuge der kritischen Reflexion sind, sondern Repräsentationsmittel des Spektakels der Verwertungsgesellschaft.

Journalismus und Metaphysik sind bei Heidegger die Signaturen der Seinsvergessenheit. Anders hingegen entwirft daraus eine Gelegenheitsphilosophie, also eine situationistische, investigative Philosophie der Praxis. Die letzten Dinge, von denen die Metaphysik Kunde geben will, sind heute die ersten Dinge des erbärmlichen Alltags, mit dem wir es zu tun haben; deshalb ist Anders' gelegenheitsphilosophischer Versuch, die Metaphysik journalistisch zu retten, durchaus vergleichbar mit Adornos Forderung nach einer »Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« am Schluss der »Negativen Dialektik«.

Günther Anders: Über Heidegger. C.H. Beck, München 2001, 500 Seiten, 34,90 Euro