Modernisierung in Kamerun und ihre Kosten für die arme Bevölkerung

Die Vertriebenen von Yaoundé

Kamerun soll endlich ein »modernes, funktionierendes Land« werden, verkünden seine Regierenden. Zur angestrebten Modernisierung gehören die Bekämpfung der Korruption und die Umgestaltung der Großstädte. In den ärmeren Vierteln der Hauptstadt Yaoundé hat sie bereits mit Räumungen begonnen.

Zur besten Sendezeit läuft der Spielfilm »Die Strafe« auf Canal 2, dem zweiten Kanal des kame­runischen Fernsehens. Er zeigt einen korrupten Minister, der während seiner Audienzen Bündel von Geldscheinen an Mitglieder seines Clans oder die Chefs von Unterstützerclubs verteilt. Das ist ein durchaus realistisches Szenario. Die Filmemacher haben sich nicht einmal die Mühe gegeben, irgendwie den Eindruck zu erwecken, die Fiktion habe nichts mit der Realität zu tun: Der von einem Schauspieler gespielte Minister hat ein Bild des derzeitigen Präsidenten Paul Biya auf dem Schreibtisch stehen. Aber am Ende wird der Minister bei einer Kabinettsumbildung – wie sie real auch in den kommenden Wochen stattfinden wird – abgestraft.
Die Zuschauer – wie Sylvia, bei der ich an diesem Abend zu Gast bin – können zu Hause auf dem Sofa grinsend verfolgen, wie der Minister ge­feuert wird. Wie ihm das Dienstauto abgenommen wird und das Diensthandy plötzlich keinen Empfang mehr hat: Der vermeintlich rettende Anruf beim Präsidenten kommt nicht durch.
Kamerun wurde in den vergangenen Jahren von der NGO Transparency International mehrfach als »der korrupteste Staat des Planeten« eingestuft. Weite Teile der Bevölkerung haben sich damit abgefunden und seufzen nur: »Das ist Kamerun, das ist Kamerun.« Das sagt auch der junge Koch Rodriguez an der dritten Polizeikontrolle, in die unser Sammeltaxi gerät, damit die Beamten den Passagieren unter Vorwand irgendeines fehlenden Papiers oder Stempels Geld abknöpfen können.

Dem wollen die Regierenden nun, so behaupten sie jedenfalls, ein Ende setzen. Einige prominente Köpfe rollten. Und viele goutieren die Szenen im Fernseher genüsslich, wenn es mal wieder einen notorisch korrupten Amtsträger trifft. Obwohl es noch offen ist, ob die anlaufende Welle von Entmachtungen und Prozessen wirklich etwas an den Praktiken der Regierenden ändern wird. Geht es doch – so wird hinter vorgehaltener Hand oft gesagt, so ist es aber auch in manchen Blättern wie der oppositionellen und hochgradig respektlosen Karikaturenzeitung Le Popoli zu lesen – auch darum, unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung potenzielle Rivalen des alternden Präsidenten Biya aus dem Weg zu räumen.
Einige hochrangige Herren wurden von der Kriminalpolizei verhört und in Untersuchungshaft genommen oder von Gerichten verurteilt. Die höchste Strafe, die in jüngster Zeit für einen korrupten Ex-Minister ausgesprochen wurde, beläuft sich auf 40 Jahre Haft.
Zugleich dient diese Form der Korruptionsbekämpfung den Machthabern in der Hauptstadt Yaoundé dazu, den Druck abzuwehren, den westliche Mächte von Washington bis Paris und die internationalen Finanzinstitutionen wie der IWF zunehmend auf das Regime von Präsident Biya (und andere afrikanische Autokraten) aus­üben. Früher wurde deren Korruption geduldet, sorgten solche Regierungen doch für »Stabilität« und hielten die »kommunistische Subversion« fern, aber auch die sozialen Ansprüche der Bevölkerung nieder. Heutzutage dagegen gilt die Korruption im Westen vielfach als zu teuer, als Verstoß gegen die so genannte good governance. Hat man hier doch zusätzliche Einsparpotenziale entdeckt, nach­dem die Gefahr teurer sozialistischer Experimente gebannt war.
Die Bevölkerung wird ohnehin seit langem belästigt und lässte es oft beinahe apathisch über sich ergehen. Der Student Cyril etwa nennt die Po­lizisten an den vielen Kontrollstellen nur mange-mille (»Friss tausend«), angelehnt an den Namen eines Vogels, der mange-mil (»Hirsefresser«) heißt. Die Polizisten fressen allerdings kein Getreide, son­dern Geldscheine von 1 000 Franc-CFA. Das sind umgerechnet 1,50 Euro, ein durchschnittlicher Lohn liegt in der Regel zwischen 40 und maximal 100 Euro.

Kamerun, so verkünden es seine Regierenden, soll nun aber endlich ein »normal funktionierender«, »ordentlicher« Staat werden. Dazu gehört der Abbau der grassierenden Korruption, die bis heute de facto jeden Versuch einer nationalen Ent­wicklung im Keim erstickt hat – da jeglicher nationale Reichtum sofort privater Aneignung durch einige wenige anheimfiel. So weist der diplomierte Soziologe Patrice verständnislos darauf hin, dass in manchen Stadtteilen der Wirtschaftsmetropole Douala, wie etwa Maképé, ungeheuer teure Limousinen vor den Häusern einiger weniger stehen, aber in der ganzen Umgebung nur ungeteerte Straßen mit Buckeln und riesigen Löchern zu finden sind. »Was nützt dir das teuerste Auto, wenn du es wegen des Zustands der Stadt schnell kaputtfährst?« fragt er entrüstet.
79 Prozent der befragten Kamerunerinnen und Kameruner, so ergab eine der von Transparency International durchgeführten Umfragen, mussten im vorigen Jahr erhebliche Schmiergeldsummen zahlen, um Zugang zu Grundversorgungsgütern und -dienstleistungen zu bekommen. Beispielsweise um im Krankenhaus aufgenommen und ver­sorgt zu werden, um Kinder zum Schuljahresbeginn einschreiben zu können, um an das Wasser- oder an das Stromnetz angeschlossen zu werden. Und das ist noch nicht alles. Denn jeder, der im Staatsapparat oder öffentlichen Dienst auch nur über ein wenig Macht verfügt – in einem Staat, der hauptsächlich in seinen polizeilichen Ausprägungen und kaum bis gar nicht in seinen sonst üblichen Versorgungsaufgaben in Erscheinung tritt –, nutzt seine Position nur zu oft aus, um an­dere Ansprüche durchzusetzen.
An Universitäten gibt es etwa, so berichtete eine Frauenzeitschrift, ein geflügeltes Wort, das an den französische Begriff für »sexuell übertragbare Krankheiten«, abgekürzt MST, angelehnt ist. Es lautet »NST« und steht für »sexuell übertragbare Zensuren«. Tatsächlich verteilt so mancher Dozent und auch so mancher männliche Gymnasiallehrer die Noten für Schülerinnen oder Studentinnen, gegen sexuelle Dienstleistungen. Diese Feststellung lässt sich keinesfalls für alle Lehr­kräfte verallgemeinern. Aber es handelt sich doch um ein verbreitetes Phänomen.
Nicht nur im Kampf gegen die wild wuchernden Auswüchse von Korruption und Machtmissbrauch versuchen die politischen Machthaber in Kamerun, ihren Anspruch auf eine »Normalisierung« des Landes durchzusetzen und das Versprechen, dass »Gesetz endlich Gesetz« sein müsse, einzulösen.
Die angestrebte Modernisierung betrifft derzeit insbesondere die urbanistische Umgestaltung der größeren Städte des Landes, wofür es seit lan­gem Pläne gibt, die bisher jedoch kaum jemand interessiert haben. Seit kurzem ändert sich das, und die Umgestaltung wendet sich gegen die Einwohner von Elendsvierteln, unabhängig davon, ob sie in provisorischen Behausungen wohnen oder in festen Häusern. In Yaoundé sind nach An­gaben der Zeitung Le Messager bis zur zweiten Augustwoche bereits über 5 000 Familien aus ihren Wohnungen vertrieben worden, ohne Entschädigung und ohne dass man sie unterrichtet hätte, wohin sie nun gehen können. Manche der Betroffenen sind in die Dörfer zu ihren dort leben­den Eltern oder Großeltern zurückgekehrt. Andere suchten in anderen Stadtteilen oder Elendsquartieren von Yaoundé Zuflucht – von wo sie aber mitunter nach kurzer Zeit, im Zuge erneuter Räumungen, wiederum vertrieben wurden.

In den Vierteln Ntaba, Elig-Edzoa und Etoa-Meki kamen die Bagger Mitte August. Mitten in der Regenzeit, wenn es oft mehrere Stunden am Tag ausgiebig und wie aus Kübeln regnet, wurden Häuser und Werkstätten zerstört. In manchen Fäl­len wurden zwei Tage zuvor Warnungen ausgesprochen, in anderen kamen die Bulldozer unangekündigt. Die meisten Kamerunerinnen und Kameruner beobachten die Ereignisse mehr oder minder entsetzt vor dem Fernseher.
Von Douala kommend, treffe ich kurz nach der Räumung eines solchen Elendsviertels in der Hauptstadt Yaoundé ein. Ein Anhalter, den die Fa­milie meiner Freunde, die mich begleiten, unterwegs mitgenommen hat, ist begeistert. Der etwa 40jährige hält die Entwicklung dem neuen Generalbeauftragten der Regierung für den städtischen Raum Yaoundé, Gilbert Tsimi Evouna, zugute: »Endlich sorgt mal jemand für Ordnung! Dieses unkontrollierte Bauen und Wohnen muss­te ja einmal ein Ende haben. Und sehen Sie nur, wie er den Verkehr geregelt hat! Früher herrschte das reine Verkehrschaos. Alle fuhren, ohne Ampeln und ohne Vorfahrtsregeln, wild durcheinander, wie es ihnen passte. Jetzt wird auf jeder größeren Kreuzung ein Polizist stationiert. Und wehe dem, der sich nicht an Vorfahrtsregeln hält!« Die anderen Fahrgäste sitzen, befremdet von seinem Enthusiasmus, schweigend daneben und lassen ihn reden.
Der Ballungsraum der Stadt Douala hat mit drei Millionen Einwohnern mehr als der der Haupt­stadt Yaoundé. Das Verkehrschaos in Douala unterscheidet sich merklich von dem etwas stärker geregelten Verkehr in der Hauptstadt. Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass der Staat die Straßeninfrastruktur hier einfach verrotten ließ: In Douala und erst recht in seinem Industrievorort Bonabéri, wo viele Straßen ungeteert sind und es auch nicht viele Ampeln gibt, weisen die Verkehrswege oft riesige Schlaglöcher auf, die sich in der Regenzeit im Juli und August mit Schlamm füllen. Seit kurzem allerdings verspricht das Regime Abhilfe. Chinesische Firmen reparieren das Verkehrsnetz, etwa in Bonabéri, oder bauen neue Ausfallstraßen. In der Regel brin­gen sie ihre eigenen Arbeitskräfte gleich mit, die in mehreren Schichten rund um die Uhr arbei­ten und in Containern auf dem Firmengelände übernachten. Einheimischen Firmen hat man die Arbeiten nicht anvertraut, da man befürchtete, das Geld würde im korrupten System verschwinden.
Etwas dagegen zu unternehmen, dass die urbanen Zentren im Verkehr ersticken, der überwie­gend aus Sammeltaxis, in jüngerer Zeit auch aus Motorrädern besteht, die inzwischen als billige Massenware aus China importiert werden, gilt in den Augen aller Anwohner, mit denen ich sprechen konnte, durchaus als wohltuend.
Nicht so die parallel dazu durchgeführte Räumung ganzer Armenviertel, die auch bei vielen nicht unmittelbar Betroffenen wegen ihrer brutalen Durchführung auf Ablehnung stößt. Aber auch sie wird im Zeichen der »endlich seriösen« Stadtplanung, des »Aufräumens« und der »Verschönerung« der Hauptstadt durchgeführt. Wer nicht ins Stadtbild passt, wird einfach an den Rand oder hinaus gedrängt. »Aber was nutzt es, eine schöne Stadt zu haben«, fragt Franck Olivier Kouame von der Wohnrauminitiative »Collectif interafricain des habitants« deshalb, »wenn die Einwohner leiden?« Ihm zufolge sind über 90 Pro­zent derer, die geräumt wurden, mittellose oder arme Familien. Die neue rabiate Stadtplanung mit dem Bulldozer sei »auch eine Folge der wachsenden Kluft zwischen Reichen und Armen, die beängstigende Ausmaße annimmt«. Die Stadtplanung drohe sich allmählich aber auch gegen die Wohlhabenden zu wenden, da die Zerstörung ganzer Siedlungen und ihres sozialen Geflechts zu einer ständig wachsenden Kriminalität führe.
In Ntaba kommen wir an, kurz nachdem die Bagger ihre Arbeit beendet haben. Wir sehen noch die frischen, verkohlten Trümmer. Die Grundmau­ern der festen, aus Beton gebauten Häuser, die es in diesem Elendsviertel neben eher barackenähnlichen Bauten auch gab, wurden im Anschluss an die Arbeit der Planierraupen mit Benzin übergossen und angezündet. Einige junge und ältere Männer haben sich an den Straßenrand gesetzt und verkaufen Gegenstände aus Metall, die sie aus den Ruinen gerettet haben. Zum Teil handelt es sich um ehemalige Anwohner, die auf diese Weise etwas von ihrem früheren Hausrat retten, andere beklagen sich darüber, alles verloren zu haben: Bücher, Geschirr, Möbel, Haus­rat. Andere wiederum sind Profiteure, die von außerhalb kommen und sich an dem, was für vie­le Einwohner eine Katastrophe darstellte, bereichern.
Im Stadtzentrum demonstrieren unterdessen ein paar hundert der früheren Anwohner vor dem Sozialministerium. Es sind keineswegs alle ehemaligen Bewohner, denn kaum jemand glaubt an den Erfolg kollektiven, gar politischen Handelns. Mit »Politik« verbinden junge Leute hierzu­lande eher Bilder von Wahlkundgebungen, bei denen Bündel von Geldscheinen an die braven An­hänger verteilt werden. Aber zumindest kommt nun öffentlich vorgetragener Protest zustande.
Eine junge Frau schreit lauthals in die Kameras: »Ich war schwanger, ich habe soeben entbunden! Und jetzt sitzen wir auf der Straße! Wo sollen wir hin, kann uns das einer von den Verantwortlichen mal erklären?« Ein stämmiger Mann trägt eine in eine Decke gewickelte Leiche vor die Kameras. Es handelt sich um eine, wie er angibt, 92jährige Frau, die, nachdem sie nach dem Abbruch ihres Hauses mehrere Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte, an Unterkühlung verstorben ist.

Am folgenden Tag demonstrieren die auf­ge­brach­­ten Vertriebenen vor dem Sitz des Premierministers. Doch unmittelbar erreichen werden sie nichts. Allerdings laufen einige Tage später Gerüchte um, wonach insgeheim einige Entschädigungszahlungen getätigt worden seien. Die Proteste hindern die Regierung nicht daran, Ende Au­gust einen weiteren Abbruch vorzunehmen. Dieses Mal trifft es La Briqueterie (Die Ziegelei), ein innerstädtisches Viertel. Seit den dreißiger, verstärkt seit den fünfziger Jahren wurde es vor allem von Haussa bewohnt, wie man hier Einwanderer aus dem Norden Kameruns und aus Nach­barländern in der Sahelzone nennt. Bekannt war das Quartier für seinen Markt. Der »untere« Teil des Stadtviertels, der hangabwärts in wenigen hundert Metern Entfernung von den Regierungsgebäuden und in Steinwurfweite von dem neuen riesigen Sportpalast liegt – den kürzlich eine chinesische Firma errichtet hat –, wurde vollständig zerstört.
Wie weit wird die Bulldozerpolitik gehen können, bevor sie auf ernsthafte Widerstände stößt? Das ist bislang nicht ausgemacht. Aus La Bri­queterie berichten die Medien, es habe erstmals Versuche der Bewohner gegeben, sich zusammenzuschließen, um gegen Bagger und Polizisten Widerstand zu leisten; allerdings hätten mehrere Lastwagenkolonnen Anti-Aufstands-Polizei den Widerstand im Keim erstickt. Ob die Regierung sich das oft erlauben kann, weiß derzeit niemand.