»Venus Boyz«

Mein Body ist die Hardware

Der Genderverwirrfilm »Venus Boyz« dürfte zu einem Must des lesbischen Kinos werden.

Alles geht sehr arty zu in den ersten Minuten von Gabriel Baurs Dokumentarfilm »Venus Boyz« über die Drag-King-Szene in New York und London. Kahlköpfige kleben sich im Halbdunkel vor einem Spiegel Gesichtshaare an und ziehen sich die Augenbrauen nach. Ob es Frauen oder Männer sind, ist nicht zu erkennen. In der nächsten Einstellung gibt es nächtliches Großstadtlichtergeflirr zu sehen; dann kommt wieder einer der Kahlköpfe vom Anfang ins Bild. Er gehört Bridge Markland. Schwarz hebt sich ihr Kopf vor einer Autofensterscheibe ab, an der Regentropfen hinunterlaufen, in denen sich die Lichter brechen und zur bunten Farbfläche verwischen. »Ich zielte auf die Auflösung von Wirklichkeit, ich wollte eine nicht definierte visuelle Zone«, kommentiert Baur ihr ästhetisches Prinzip, »Film ist ja immer ðreality in dragÐ.«

»Venus Boyz« ist bereits auf zahlreichen schwul-lesbischen Filmfestivals und auf der Berlinale mit Erfolg gelaufen und zumindest in der deutschen Lesbenszene schon Kult. Womit er die Nachfolge von »Paris is burning« antritt, mit dem Jeannie Livingston 1991 den New Yorker Drag Queens und ihren legendären Performance-Wettbewerben - man könnte auch »Kostümbälle unter Einsatz des Lebens« dazu sagen - ein Denkmal setzte. Die Philosophin Judith Butler hat mit den Überlegungen, die sie in »Körper von Gewicht« zu dem Film anstellt, »Paris is burning« in den Kanon feministischer Theorie-Debatten eingeschrieben. Ein ähnliches Schicksal dürfte auch »Venus Boyz« erwarten.

Die Kombination von Schwanz, Bart und Busen, verschiedenen Lebensentwürfen und -formen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, das Ausloten, Besetzen und Gestalten einer dritten Zone, die durch die Drag-Performance ebenso wie durch das Experimentieren mit Hormonen entsteht - das sind auch hier die zentralen Themen. Nur dass für Gabriel Baur die biologische Frau der Ausgangspunkt ist. »Ich spiele Männer. Aber ich spiele auch Frauen. Es macht Spaß, Männer zu spielen, weil ich keiner bin«, erklärt die in Berlin lebende Performerin Bridge Markland in »Venus Boyz«. Wir folgen ihr über die Brooklyn Bridge zum New Yorker Club, in dem sich an diesem Abend die Stars der Szene einfinden werden. Mit 17 - David Bowie ist ihr Idol - sei sie bereits total »crossgendered und androgyn und so« gewesen. Der Berliner Dialekt ist toll.

Wie wichtig dem Film die Brücke als Symbol des Übergangs und Ort des Dazwischen ist, soll man spätestens begreifen, wenn nach etwa fünf Minuten Vorspann der Filmtitel neben einer Großaufnahme der Brooklyn Bridge eingeblendet wird. Denn »Venus Boyz« gestaltet sich als eine Art Überfahrt vom glamourösen New York in die Innenräume der Performer, hin zu ihren Stabilität und Ruhe ausstrahlenden Sofas, ihren Arbeits- und Lieblingsplätzen in der Stadt; und dann wieder zurück auf die Bühne. Anders als die ProtagonistInnen aus »Paris is burning« ist den Venus Boyz der Zugang zur bürgerlichen Welt nicht grundsätzlich versperrt. Die meisten verfügen über Jobs; sie haben Träume, finden Worte für ihre traurige Vergangenheit und komplizierte Gegenwart. Sie wissen, dass ohne Arbeit und Disziplin nichts geht, und auch, dass sich ein Leben an den Rändern durch abendliche Drag-Performances im Schutzraum der eigenen Szene nicht dauerhaft in Glamour verwandeln lässt.

In »Venus Boyz« herrscht Gelassenheit. keine an Realitätsverlust grenzenden Eitelkeiten wie bei den KollegInnen aus »Paris is burning«. Etwaige Neurosen hat frau/ man zumindest vor der Kamera im Griff, und die eigene Bedürfnislage ist so weit erforscht, dass selbstironische Witze dazugehören. Meistens. »Anstatt einer wütenden Frau wurde ich lieber ein lustiger Mann«, erklärt Mo Fischer alias Mo B. Dick. Sie hat den ersten Kings-Club »Casanova« in New York gegründet und nach dessen Schließung und ihrer Rolle in John Waters' »Pecker« an einer Schauspielerkarriere gearbeitet. Humor, das betonen alle, ist wichtig - ebenso wie Distanz. Entsprechend sind die von den Kings erfundenen und performten Männerfiguren witzige Karikaturen männlicher Stereotypen; der schwarze Rapper oder Karl, das alternde vergrätzte Moppelchen, der Durchschnittsmacho oder der Tollenfreak sind Alter Egos, nicht das eigentliche Ich. Mehr als um die Essenzialisierung des Mannes geht es hier um die Vervielfältigung der Biografie und die Aufspaltung in diverse und entschieden androgyne Charaktere. Damit wird die Essenzialitätsfalle konsequent umgangen, und es entsteht Pop im besten Sinne: als die wilde Kombination des Unpassenden. Drag als Lebenskunst mit begrenzter Reichweite.

Die Venus Boyz sind Profis im Unterlaufen des Geschlechterkatalogs, auch wenn der Spieleinsatz beinahe ihr gesamtes Leben ist. Trotzdem nervt stellenweise die Begeisterung über den mit der männlichen Maskerade gewonnenen Machtzuwachs. Männlichkeit, hergestellt durch Nadelstreifenanzug, rasierte Kopf- und gepäppelte Barthaare, perfekt angeklebte Schnäuzer oder Ziegenbärtchen, ebnet den Weg zur Selbstbehauptung und - ganz wichtig - verschafft den Respekt anderer Männer. Das ist Konsens. »Der Penis ist da«, meint Diane Torr, ein Plastik-Imitat schwingend, »warum ihn nicht benutzen?« Sicher. Aber auch andere Referenzen wären denkbar. Nicht aber im Venus-Universum, da hört der Spaß dann wirklich auf.

Weil keiner der Kings mit Weiblichkeit sonderlich gute Erfahrungen gemacht hat, avanciert Maskulinität zur unangefochtenen Referenzgröße, und schnalzende Hosenträger werden zu verlässlichen Antidepressiva. »Ich kann mich wie ein totales Nichts fühlen. Aber dann, wenn ich diese Nadelstreifenhose anziehe« - Schnalzen - »jedesmal, wenn ich mir eine Anzugjacke anziehe, fühle ich mich etwas mächtiger. Und ich denke, I'm fucking hot, ich bin fickend heiß.« Dass Heteromänner den kahl rasierten Kopf bei einer Frau als Verweigerung von Sex deuten, erlebe sie als Befreiung, fährt Bridge Markland fort. Aber natürlich sei das auch ein bisschen dumm. Sie stehe ja eigentlich »mehr auf Männer«, fügt sie auflachend hinzu.

Weniger spielerisch, sondern mit ganzem körperlichen Einsatz versucht eine Gruppe Londoner Künstler, ihre Vision von einem dritten Geschlecht zu verwirklichen. Die Langzeitfolgen der vorgenommenen Hormonbehandlungen seien nicht absehbar, erklärt Del LaGrace Volcano. Aber die Realisierung eines Traums von sich, die radikale Selbstermächtigung durch die eigenwillige physische Gestaltung seien das Risiko und die Nebenwirkungen wert: »My body is my hardware.« Und seine »Dig-Klit« findet er wunderschön, sie inspiriert seine künstlerische Arbeit. Er ist überzeugend in seiner Freude. Nicht das Spiel oder die Sexyness des (nachgeahmten) Machotums, nicht die Brücke, das Hin und Her, sondern die Aneignung eines Geschlechts jenseits von Mann und Frau erklären die »neuen intergendered Männer« zum Ziel.

Sie habe eine Reise vom Bekannteren zum Fremden unternehmen und die Zuschauer langsam an Tabuzonen heranführen wollen, erläutert die Regisseurin. Die Frage nach der Freiheit des Einzelnen soll neu aufgeworfen werden. Ob dieser durchaus sehenswerte Film der talking heads mit dem einen oder anderen experimentellen Zwischenschnitt Tabus brechen kann, bleibt allerdings zweifelhaft. Zu gewohnt und gemütlich konsumierbar ist das Format der über sich selbst Auskunft erteilenden und in funky Metropolen beheimateten »Exoten«. Dass Travestie bestenfalls Ambivalenz im Spektakel produzieren kann, darauf hat Butler im Zusammenhang mit »Paris is burning« hingewiesen. Und dass Shoppen, radikaler Narzissmus und der Traum vom Selfmade Man immer auch den Brückenschlag zum Chauvinismus sichern, lässt sich aus diesem Emanzipationskonzept nicht wegreden. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Frauen (und Männer), die nicht ins Geschlechterkonzept passen und womöglich zusätzlich »nicht weiß« sind, enorme Probleme kriegen und haben.

»Venus Boyz«, Schweiz 2001, 104 Min.
R.: Gabriel Baur, D.: Dréd Gerestant, Diane Torr, Del LaGrace Volcano, Bridge Markland, Mo Fischer, Storme Webber, Queen Bee Luscious, Mistress Formika, Judith Halberstam; Start: 4. Juli