Konfrontation zwischen Pakistan und Indien

Angriff der Reinen

Nach einem Anschlag auf das Parlament in Neu Delhi droht die Verschärfung der Konfrontation mit Pakistan. Indien beschuldigt die Regierung des Nachbarlandes, islamistische Gruppen im Kaschmir-Konflikt zu unterstützen.

Die Sicherheitskräfte vor dem indischen Parlamentsgebäude winkten die bis an die Zähne bewaffneten Attentäter einfach durch das Eingangstor. Nur weil der nach einer Staatskarosse aussehende Wagen, vollgepackt mit Plastiksprengstoff, Handgranaten und Kalaschnikows, falsch abbog, fiel den Wächtern auf, dass etwas nicht stimmte. Als Polizisten versuchten, das Auto anzuhalten, eröffneten die uniformierten Insassen das Feuer.

Im Inneren des Parlaments, der Lok Sabha, befanden sich noch etwa 200 Abgeordnete und mehrere Minister. Vor dem Gebäude schossen die Angreifer um sich und zündeten mehrere Handgranaten. In dem einstündigen Feuergefecht wurden sechs Polizisten, ein Gärtner und fünf Attentäter getötet; 27 Menschen wurden verletzt.

Dass der Anschlag vom vergangenen Donnerstag die Spannungen zwischen Indien und Pakistan bedrohlich verschärfen würde, wurde noch am selben Tag deutlich. »Wir werden die Terroristen und ihre Hintermänner liquidieren, wo auch immer sie sein mögen«, kündigte der indische Innenminister Lal Krishan Advani an. An wen er diese Drohung adressierte, war auch ohne die Nennung von Pakistan klar. Anfang Oktober war ein ähnlicher Überfall auf das Parlament des Bundesstaates Jammu und Kaschmir verübt worden, bei dem 38 Menschen starben. Für das Attentat wurde damals die pakistanische Gruppe Jaish-e-Mohammed verantwortlich gemacht; in der Folge forderten verschiedene Politiker, dem amerikanischen Beispiel zu folgen und »Terroristenlager« in Pakistan anzugreifen. Diese Forderung wurde auch jetzt aus den Reihen der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP laut.

Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf, der umgehend ein Beileidsschreiben schickte, versetzte die Armee daher noch am Donnerstag in Alarmbereitschaft und rief den Generalstab zu einer Strategiekonferenz zusammen. Am nächsten Tag sagte der indische Außenminister Jaswant Singh, es gebe »glaubwürdige technische Beweise«, dass die Lashkar-e-Toiba (LT), die »Armee der Reinen«, hinter dem Anschlag stecke. Er forderte Pakistan auf, die Aktivitäten der LT zu unterbinden und ihre Führung zu verhaften. Während ein Sprecher des pakistanischen Außenministeriums erklärte, man werde entsprechende Beweise gegebenenfalls untersuchen, spekulierte der Sprecher des Präsidenten öffentlich über eine Täterschaft des indischen Geheimdienstes. Diese Theorie hatte zuvor schon die LT-Führung in Umlauf gebracht.

Selbst wenn Indien die Verantwortung der LT eindeutig belegen könnte, ist es zweifelhaft, ob Islamabad tatsächlich gegen sie vorgehen würde. Die LT gehört zu jenen bewaffneten Gruppierungen, die mit der Unterstützung des Geheimdienstes und der Armee im indischen Teil Kaschmirs aktiv sind und die in Pakistan als Freiheitskämpfer verehrt werden. Musharraf kann es sich gegenwärtig kaum leisten, die Islamisten im Land noch mehr gegen sich aufzubringen.

Zwar ist die innenpolitische Destabilisierung Pakistans ausgeblieben, die viele Beobachter als Folge von Musharrafs Unterstützung der USA im Afghanistan-Krieg erwartet hatten. So kam General Musharraf, der sich 1999 an die Macht geputscht hatte, einem möglichen Staatsstreich durch die Absetzung mehrerer islamistischer Generäle zuvor. Die Beteiligung an den von islamistischen Parteien organisierten Demonstrationen sank im Verlauf des Krieges deutlich. Das lag jedoch weniger an der Stimmung in der Bevölkerung als vielmehr an der ungebrochenen Fähigkeit der Diktatur, Proteste zu unterdrücken.

Die Demonstrationen wurden von einem starken Aufgebot von Sicherheitskräften begleitet, die mehrfach Teilnehmer erschossen. Als die Islamisten im vergangenen Monat zu einem nationalen Protesttag samt Generalstreik aufriefen, ließ die Regierung vorher mehr als 500 ihrer Führer verhaften und erklärte den 9. November kurzerhand zu einem Feiertag. So blieb unklar, ob die Straßen wegen des Feiertags oder wegen des Streikaufrufs leer waren.

Einer im Auftrag des US-Magazins Newsweek in der zweiten Kriegswoche durchgeführten Umfrage zufolge sympathisierten ganze drei Prozent der Pakistaner mit den USA, während 83 Prozent auf Seiten der Taliban standen. Ein fast ebenso großer Anteil betrachtete Ussama bin Laden als Mujahid, als heiligen Krieger, und drei Viertel sprachen sich gegen die Nutzung pakistanischer Luftwaffenbasen durch die USA aus.

Für Empörung sorgen auch die Bilder von getöteten pakistanischen Kämpfern. Über die Zahl der Pakistaner in den Reihen der Taliban gibt es keine verlässlichen Schätzungen, einige Berichte gehen aber davon aus, dass dem Krieg 8 000 bis 14 000 pakistanische Taliban zum Opfer fielen. Über die Auswirkungen, die eine Heimkehr der Überlebenden haben wird, lässt sich nur spekulieren. »Diese Kämpfer werden nun mit ihren Waffen in alle Nachbarländer ausschwärmen. Die Regierungen müssen sich auf diese Bedrohung vorbereiten, die jegliche Form, Dimension und Intensität annehmen kann«, orakelte die pakistanische Tageszeitung News International.

Die eleganteste Lösung für dieses Problem bestünde darin, die Rückkehrer nach Kaschmir zu schleusen, wofür die Regierung allerdings die Hilfe von Gruppen wie der LT bräuchte. Im Bürgerkrieg in Kaschmir stellen diese pakistanischen, von einer panislamischen Ideologie geleiteten Verbände mittlerweile etwa ein Drittel der Rebellen. Sollte Musharraf tatsächlich Maßnahmen gegen eine dieser Gruppen ergreifen, wäre die Empörung, insbesondere im Geheimdienst und in der Armee, vermutlich ungleich größer als nach der Entscheidung, sich gegen die von Pakistan aufgebauten und bis Kriegsbeginn unterstützten Taliban zu wenden. Kein anderes Thema behandeln die Nachrichten in Pakistan so oft wie Kaschmir, kein anderes Thema kann die tief gespaltene Gesellschaft in vergleichbarer Weise einigen.

Nicht nur Indien verlangt von Musharraf diesen gefährlichen Schritt. Bei seinem Besuch Anfang Dezember drängte auch der Direktor der CIA, George J. Tenet, den Präsidenten zu einem Vorgehen gegen militante Islamisten. Das amerikanische Justizministerium empfahl schon Anfang November, LT und Jaish-e-Mohammed auf die Liste der internationalen Terrororganisationen zu setzen, das Außenministerium ist dem Vorschlag jedoch bislang nicht gefolgt.

Bleibt Pakistan nun tatenlos, steht allerdings weit mehr auf dem Spiel als ein Verlust der neu gewonnenen Gunst des Westens. Nach dem Anschlag vom Oktober hatte sich die indische Armee damit begnügt, nach zehn Monaten relativer Ruhe an der Waffenstillstandslinie mit dem Beschuss pakistanischer Stellungen eine neue Runde der ritualisierten Artillerieduelle einzuleiten. Die Staatschefs haben sich seither einen schrillen Krieg der Worte geliefert und den jeweils anderen gewarnt, dass ihre »Geduld am Ende« sei und sie dem Gegner »eine Lehre erteilen« würden.

Sollte die indische Regierung nun zur Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik werden und tatsächlich die Ausbildungslager militanter Gruppen in Pakistan angreifen, könnte dies leicht zu dem fünften Krieg zwischen den beiden Staaten führen, die mittlerweile Nuklearmächte sind. Das in der konventionellen Bewaffnung unterlegene Pakistan behält sich für diesen Fall ausdrücklich die Option des atomaren Erstschlages vor.