Christian Krachts »1979«

Herzlose Finsternis

Christian Kracht ist nicht der Peter Scholl-Latour des Pop.

Auf dem Weg nach Teheran sah ich aus dem Autofenster, mir wurde etwas übel, und ich hielt mich an Christophers Knie fest. Sein Hosenbein war von den aufgeplatzten Blasen ganz nass. Wir fuhren an endlosen Reihen von Birken vorbei. Ich schlief.

Später hielten wir an, um uns zu erfrischen. Ich trank ein Glas Tee, Christopher eine Limonade. Es wurde sehr rasch Nacht.«

Das sind die ersten beiden Absätze von »1979«. Ein paar Zeilen in diesem Buch, und der Ich-Erzähler, der Held des Romans, ist eingeschlafen. Er macht die Augen wieder auf, trinkt ein Glas Tee, dann wird es zum zweiten Mal dunkel.

Diese Stimmung von Düsternis, einer unendlichen Müdigkeit, wird den Erzähler - und mit ihm den Leser - bis zum Ende der Geschichte nicht wieder verlassen, im Gegenteil: Es wird schwarz und schwärzer. Aber in diese Nacht hinein flashen ein fetischistischer Realismus und eine dandyeske Gespreiztheit, wofür viele den Autor Christian Kracht hassen.

In der FAZ sprach Hubert Spiegel dem Roman jede Größe ab, feierte ihn aber dennoch als »Pamphlet gegen die moralische Verrottung des Westens«. Die Rezension eröffnete prominent die Beilage zur Frankfurter Buchmesse, ein geradezu apokalyptisches Foto nahm die obere Hälfte der Seite ein: Bomberpiloten im Morgengrauen, mit hängenden Köpfen auf dem Weg zu ihren Maschinen. Bildunterschrift: »Der Augenblick vor dem Aufstieg, der in den Abgrund führt«. Schwer zu überbietender Pomp.

Ähnlich feierlich besprach Elke Heidenreich das Buch im Spiegel, und sogar Harald Schmidt sprach von einem großen Ernst, der einen aus »1979« anwehe. Christian Kracht allerdings beharrt darauf, das Buch sei »light entertainment«, »humorig« wie sein erster Roman »Faserland«. »Ich habe beim Schreiben immer laut lachen müssen, weil ich dachte, so einen Kitsch kann man jetzt nicht wirklich hinschreiben. Alles ist so grotesk überhöht und camp, dass Sie sicher finden können, dass '1979' schlecht sei, aber ernst und tragisch ist es nun wirklich nicht.«

Der Ich-Erzähler, ein Innenarchitekt, befindet sich also mit seinem Freund Christopher auf dem Weg nach Teheran. 1979, Vorabend der islamischen Revolution, der Moment der Geschichte, an dem etwas den Anfang nahm, von dem der 11. September 2001 usw. Vielleicht. Mal sehen.

Die beiden sind ein schwules Paar, der Erzähler hat sogar einen Schnurrbart. Christopher ist unermesslich reich, interessiert sich für persische Architektur, will ein Buch darüber schreiben, hat seit ein paar Tagen Hautausschläge und Fieber. Der Erzähler ist Christopher ergeben und wird von ihm verachtet. Die beiden geraten auf eine Party in Teheran, auf der eine sich des Untergangs gewisse Gesellschaftsschicht zum letzten Mal Dinge macht, von denen sie weiß, dass sie sie am nächsten Tag nicht mehr machen kann. Eine Frau im blauen Kleid schießt mit einem Luftgewehr in die Luft, ein Haschwald wird besichtigt, ein obskurer Orgonapparat ausprobiert. Drogen werden genommen. Der DJ spielt Throbbing Gristle.

Einer trägt ein Punk-T-Shirt mit einem Hakenkreuz. Ein geheimnisvoller Rumäne mit behaarten Füßen taucht auf. Mavrocordato. Er erkennt in dem Erzähler ein »offenes Gefäß« und prophezeit ihm, dass er sich in wenigen Tagen halbieren werde. Christopher fällt in eine Glastür und stirbt Stunden später in einem heruntergekommenen Krankenhaus. Der Erzähler erbt die kostbaren Schuhe seines Freundes, Berluti-Schuhe, »die besten Schuhe der Welt«. Die Revolution bricht aus. Er irrt durch ein irgendwie auch glückliches Teheran, trifft Mavrocordato, verzehrt mit ihm dunkle Speisen, um unsichtbar zu werden und klettert eine Fassade hoch, um Überwachungskameras in »hermetische Zustände« zu versetzen.

Dann beauftragt Mavrocordato den Erzähler, nach Tibet zu fahren und dort den heiligen Berg Kailash zu suchen. »'Diesen Berg müssen sie im Uhrzeigersinn umkreisen, er ist eine Art gigantische Mandala der Natur, also ein Gebet der Weltbegehung.' 'Das klingt ja völlig dämlich. Was soll ich denn da?' 'Massoud hat ihnen doch sicher davon erzählt, dass Amerika der große Feind ist.' 'Großer Satan hat er sogar gesagt. Soll ich mir das jetzt nicht lieber aufschreiben?' 'Ach hören Sie auf, Sie Witzbold. Gehen Sie in die Küche, seien Sie ein dear und holen sie uns eine Tüte Chips.'«

Schnitt. Ein Halbes Jahr später, der Erzähler auf dem Weg zum Berg Kailash, zu Fuß. Er hat sich einen Sherpa gemietet, der ihn nach Tibet über die chinesische Grenze bringen soll. Es geht immer höher hinauf, wird immer kälter, erst Geröllfelder, dann Eiswüsten, die Berluti-Schuhe, die besten Schuhe der Welt, können »noch nicht einmal einen Monat in den Bergen überstehen«, sie lösen sich auf, werden durch Filzrollen ersetzt, die Unterhose von Brooks-Brothers wird an einen interessierten Mönch verschenkt. Die letzte Verbindung zur Zivilisation ist gekappt. Dann ist der Berg erreicht. Der Erzähler wandert um ihn herum, aber nichts passiert.

Er schließt sich einer tibetanischen Pilgergruppe an, wiederholt die Bergumrundung, wirft sich gemeinsam mit den Tibetern in den Staub und träumt davon, mit ihnen den Berg immer und immer wieder zu umrunden. Er ist »seit den Tagen im Kindergarten« zum ersten Mal wirklich glücklich.

Aber dann: Eine chinesische Militärpatrouille stöbert die Pilgergruppe auf. Weil der Innenarchitekt chinesisch spricht, wird er für einen russischen Spion gehalten und in ein Umerziehungslager gesteckt. Er verbringt die Tage und Nächte angekettet in einem üblen Verließ, stinkend und am Rande des Verhungerns und Verdurstens. Aber er ist ein »guter« Häftling, nimmt die Selbstkritik und sogar die Folter an: »Ich dachte an Christopher, daran, dass ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber endlich seriously abzunehmen.« Der tiefste Grund der Geschichte, die absolute Auslöschung, ist da aber noch längst nicht erreicht.

In ein paar Stunden hat man das Buch durch. Das schöne rote Leseband ist eigentlich überflüssig. Der Roman ist montiert aus unzähligen, gar nicht mal aufwendig verputzten Versatzstücken literarischer, religiöser, cinematografischer, exclusiver und trivialer Art. Dabei macht es Kracht mit seinen Vorlagen nicht anders als mit seinen Hemden: Er kehrt das Etikett nach außen.

Klassische Reiseliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, speziell die von Robert Byron und Paul Bowles, sind Einflüsse, auf die sich Kracht immer wieder beruft, Joseph Conrads »Heart of Darkness« fällt einem ein, aber auch das Land Mordor aus dem »Herrn der Ringe« taucht auf. Wer »Mavrocordato« in die Suchmaschine Google eintippt, erfährt, dass es sich um einen griechischen Freiheitshelden handelt, einen späten Begleiter Lord Byrons und Mary Shelleys.

Führt das auf eine Spur? Nicht wirklich, aber der Name klingt großartig.

Wer dasselbe mit »best shoes in the world« macht, stößt auf einen Artikel aus der Londoner Sunday Times, der mit dem Versprechen Berlutis endet, einen neuen Schuh herzustellen, der getragen werden kann »from the snows of the Himalayas to the streets of Paris«. Die tibetanischen Pilger erinnern an den griechischen Chor in »Mighty Aphrodite« von Woody Allen, der Trick, mit dem der Erzähler im Kerker ein Feuer macht, ist direkt von Tom Hanks in »Castaway« abgeschaut.

Statt Räucherkerzen bei der Lektüre anzuzünden, kann, wer will, mit diesem düsteren Buch und den zahlreichen Fundstücken und Andeutungen auch umgehen wie mit einem Adventuregame: In jeder Ecke, in die der Leser mit seiner Maus fährt, öffnet sich ein Fenster oder ein geheimer Gang. Manchmal macht es auch einfach nur Quack.

Gäbe es diese konsequenten Brechungen nicht, müsste man den Eindruck haben, »1979« buhle geradezu darum, in 20 Jahren im Deutschunterricht der Gymnasien durchgenommen zu werden, wie heute Heinrich Böll oder Christa Wolf. Aber, was wäre so schlimm daran? Das Buhlen, der gesuchte Ernst, die Bedeutungshuberei, die Langeweile, die Vorhersehbarkeit - sie wären unerträglich. Wenn Kracht sich diesen ernst gemeinten Fragen (Sonntagsfaz, 11. September, bin Laden, Islam) nicht mit diesem von vielen als schwer erträglich empfundenen Unernst entziehen würde, könnte er vielleicht ein paar Tausend Bücher mehr verkaufen, aber auch in jede Talkshow geladen und von allen befragt werden: Herr Kracht, Ihr Buch spielt in Teheran, Sie wohnen in Asien, Sie kennen sich aus: Erzählen Sie doch mal! Was wollen die Mullahs? Was können wir tun? Ist der Westen wirklich so dekadent usw.

Kracht würde als Weisheitsfigur herumgereicht werden wie Grass und Walser oder Botho Strauß oder er würde zum Peter Scholl-Latour der Popliteraten werden. Wer will das aber? Kracht wehrt sich nicht nur in Interviews gegen »das Blei, das (ihm) in die handgenähten Schuhe gepackt wird« (SZ). Auch sein literarischer Stil tut das.

Überraschenderweise führt gerade der nachlässige Unernst, der ironische Manierismus dieses Stils dazu, einen Kinoraum herzustellen und das Buch für eine Projektion zur Verfügung zu stellen. Er stellt die notwendige Distanz her. Der vollkommen leere Protagonist bildet eine perfekte Leinwand. Die Distanz schafft einen Raum, die kalte Düsternis der Erzählung füllt diesen mit der notwendigen Nacht. In unseren Projektionsräumen stapeln sich die Filmrollen. Ein schönes Buch.

Christian Kracht: 1979. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2001, 183 S., DM 34