Die neue Deutungsmacht

Die Bedeutung der Entschädigungspolitik für die internationale Akzeptanz der Bundesrepublik Deutschland.

Ein »langweiliges Thema«, mit dem sich lediglich eine »kleine Minderheit« auseinandersetze, nannte Otto Küster, der Beauftragte der Bundesregierung für die Verhandlungen mit Israel, Anfang der fünfziger Jahre seinen Arbeitsbereich. Denn, so fuhr er fort, »mein Thema ist nun also immer noch, Mitte 1953, diese alte Wiedergutmachungsaufgabe«. (1)

Diese Worte sollten acht Jahre nach dem 8. Mai 1945 nicht den Wunsch nach einem Abschluss der Auseinandersetzung zum Ausdruck bringen, sondern den Unmut darüber, dass sie so wenig Interesse gefunden hatte. Sie waren nicht geringschätzig gemeint. Das wäre auch eine groteske Fehleinschätzung gewesen. Denn für die Bundesrepublik ist die Entschädigung der NS-Opfer ein zentraler Ausdruck ihrer Distanzierung vom NS-Regime und somit ihrer »Wiedergutmachung«.

Diese Politik entstand nicht aus eigenem Antrieb, sondern sie wurde im Kontext des Kalten Krieges als Voraussetzung für die Beteiligung an den westlichen Bündnisstrukturen gefordert. Allerdings fand sie nach den Vorstellungen der westlichen Alliierten in den Lasten, die der Bundesrepublik u.a. durch die Rüstungskosten im Rahmen der Aufnahme in die Nato auferlegt waren, ihre Schranken. Für die westdeutsche Politik wiederum standen die Interessen derjenigen im Mittelpunkt, die sich noch wenige Jahre zuvor zur Volksgemeinschaft zählten.

Programmatisch kam diese Haltung in Konrad Adenauers Regierungserklärung von 1949 zum Ausdruck. Mit dem Motto, »das Streben nach Linderung der Not, nach sozialer Gerechtigkeit, wird der oberste Leitstern bei unserer Arbeit sein« (2), schien die Rede hoch gesteckten Erwartungen zu entsprechen. Doch dann ging Adenauer auf alle möglichen Opfergruppen ein: auf Ausgebombte und Vertriebene, ehemalige Beamte und Entnazifierungsgeschädigte. Von einer gesellschaftlichen Gruppe sprach er allerdings nicht: von den Verfolgten des NS-Regimes. Diese Haltung fand sich auch in der Entschädigungspolitik wieder. Zu ihrer Vorgeschichte gehört die Rückerstattung des in der NS-Zeit systematisch geraubten Besitzes noch in der Zeit alliierter Besatzung. Sie machte die Gesamttendenz dieser Politik deutlich.

Auf westdeutscher Seite war man zunächst der Ansicht, es gehe lediglich um die internationale Restitution von Vermögenswerten. Man musste jedoch bald feststellen, dass auch die Herausgabe von Raubgütern in den Westzonen und später in der Bundesrepublik an ihre ehemaligen Besitzer verlangt wurde. Trotz interner Widersprüche hielten es die Alliierten grundsätzlich für unerträglich, dass nach geltendem Fiskalrecht »erbenloses Vermögen« der Gesellschaft zufallen sollte, die den Mord zu verantworten hatte. Sie regten die Bildung einer internationalen jüdischen Interessenvertretung für diese Fragen an. »Hier bekamen es die Ministerpräsidenten und ihre Berater mit der Angst zu tun. Sie stellten sich vor, dass große Vermögenswerte, die man für den Wiederaufbau dringend bräuchte, ins Ausland abgezogen würden.« (3)

Druck und Gegendruck

Offensichtlich hatten die Deutschen keine Skrupel, über den Besitz der Ermordeten im Interesse des Wiederaufbaus weiterhin zu verfügen. Als Konsequenz aus dieser Haltung gab die US-Besatzungsbehörde ihre ursprüngliche Absicht auf, mit den deutschen Politikern zusammen ein Gesetz zu erlassen; sie oktroyierte das Militärregierungsgesetz Nr. 59. Als oberste Entscheidungsinstanz für Streitfälle wurde ein alliiertes Gericht eingesetzt.

Ziemlich günstig standen die Vorzeichen für jüdische Verfolgte bei den Verhandlungen mit Israel und der Claims Conference Anfang der fünfziger Jahre. Denn bereits in einem Interview vom November 1949 hatte Adenauer auf die Kritik an seiner Regierungserklärung reagiert und den Schaden zu begrenzen versucht, indem er als erstes positives Zeichen zusagte, »dem Staat Israel Waren zum Wiederaufbau im Werte von zehn Millionen Mark zur Verfügung zu stellen«. (4) Allerdings musste der verantwortliche Redakteur ein Jahr später feststellen, daß aus diesem Versprechen nichts geworden sei.

Wegen der israelischen Forderung nach einer Stellungnahme zum Mord an den Juden war Adenauer nach einer Zeit des Zögerns von der »Bedeutung einer Erklärung zur Judenfrage für (die) öffentliche Weltmeinung« (5) überzeugt. Er räumte die Bereitschaft zu Entschädigungszahlungen ein. Einschränkend verwies er auf die »Grenzen, die der deutschen Leistungsfähigkeit durch die bittere Notwendigkeit der Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertriebenen gezogen« seien.

Hier finden wir also nicht nur die Prioritätensetzung aus der Regierungserklärung wieder, sondern auch einen Hinweis darauf, warum er zu Konzessionen bereit war. Es ist der Druck der Weltmeinung, der wegen der internationalen Akzeptanz in einem gewissen Umfang entsprochen werden muss. »Sanfter Druck hinter den Kulissen« von US-Politikern bestärkte ihn darin, sich für einen positiven Abschluss einzusetzen. Die Aufnahme von Kontakten und schließlich das 1952 unterzeichnete Abkommen stellten für die deutsche Seite einen großen moralisch-politischen Nutzen dar und trugen dazu bei, dass die Westintegration der Bundesrepublik international akzeptiert wurde.

Mehr als sanfter Druck wurde auf die Bundesregierung bei der Entschädigungsgesetzgebung im engeren Sinne ausgeübt. Die Westalliierten schrieben sie ihr in Grundzügen vor. So ordneten sie in den Bonner Verträgen an, welchen Entschädigungsverpflichtungen sich der künftig mit weitgehenden Souveränitätsrechten ausgestattete westdeutsche Staat nicht würde entziehen dürfen. Kernstück dieser alliierten Anweisung ist der Überleitungsvertrag. (6) Die deutsche Delegation nahm bei den Verhandlungen eine weitgehend passive Haltung ein. Sie beschränkte sich im wesentlichen darauf, dem alliierten Entwurf »einige Giftzähne zu ziehen und ihn den deutschen Vorstellungen anzunähern« (7).

Zu diesen »Giftzähnen« gehörte auch die von Frankreich und Großbritannien erhobene Forderung, den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern. Frankreich wollte die Entschädigung von französischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen erreichen. Der deutsche »Erfolg«, diese Frage auszuklammern, war nicht zuletzt deshalb erzielt worden, weil insbesondere die USA daran interessiert waren, der Bundesrepublik nicht allzu hohe finanzielle Lasten aufzuerlegen.

Damit nahmen sie dieselbe Haltung wie beim Londoner Abkommen über die Regelung der deutschen Nachkriegsschulden ein. Weil dort Reparationsverpflichtungen gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zurückgestellt wurden, hatten nach vorherrschender Rechtsmeinung auch alle NS-Opfer, die in diesen Staaten lebten, keine Chance auf die Durchsetzung ihrer Forderungen.

Die vom Bundestag beschlossenen Entschädigungsgesetze gaben der deutschen Politik schließlich die Definitionsmacht über die Entschädigungsberechtigung von NS-Verfolgten und nicht zuletzt über den Entschädigungsanspruch selbst. Personelle, politische und ideologische Dispositionen mussten sich also auswirken. Die Entschädigungsgesetzgebung spiegelt die Denkweise wider, in der die westdeutsche Gesellschaft auf die Nazi-Verbrechen reagierte. Ihr Hauptmerkmal ist, dass die NS-Opfer und Widerstandskämpfer schlechter gestellt waren als die anderen Gruppen, denen Entschädigungs- und Versorgungsansprüche eingeräumt wurden. Also standen sie hinter Kriegsopfern, Lastenausgleichsempfängern oder Beamten des NS-Staats am unteren Ende der Versorgungsskala.

Anstatt alle NS-Verfolgten anzuerkennen und zu entschädigen, wurden die verschiedenen Opfergruppen durch das BEG bis hin zur vollständigen Verweigerung ihrer Rehabilitierung sortiert. Durchgeführt wurde »die uns auferlegte Wiedergutmachung« (Carlo Schmid) schließlich von Beamten, Richtern und Ärzten, die in der Regel bis 1945 auf der Seite der Täter standen oder selbst Täter waren. »Wiedergutmachung« war deshalb, konnte sie schon nicht verhindert werden, in ihrer Konzeption und Durchführung ein später Sieg der alten Volksgemeinschaft über ihre Opfer.

Ergänzt wurde die Entschädigungsgesetzgebung Ende der fünfziger Jahre durch die so genannten Westverträge. Diese Abkommen mit elf europäischen Staaten resultierten aus der Missachtung der Forderungen, die bei den Londoner Verhandlungen gerade von den Nachbarstaaten der Bundesrepublik vorgetragen worden waren. Der Druck der NS-Verfolgten in diesen Staaten war jedoch so groß, dass eine europäische Integration nicht ohne einen symbolischen Schritt Deutschlands, ein Eingehen auf die Ansprüche denkbar erschien. Rund eine Milliarde Mark wurde deshalb gezahlt, wobei die deutsche Seite jeweils erklärte, sie betrachte diese Zahlungen als eine »abschließende Regelung«. Andere Staaten, zum Beispiel Griechenland, gaben dagegen zu Protokoll, sich vorzubehalten, erneut Forderungen zu stellen, wenn es zu einer allgemeinen Prüfung der im Londoner Schuldenabkommen zurückgestellten Schäden kommen werde. (8)

War die Entschädigungsgesetzgebung eine im Rahmen der Bonner Verträge festgelegte Voraussetzung, um weitgehende staatliche Souveränität zu erreichen, und eröffnete das Luxemburger Abkommen den Zugang zu den politischen und militärischen Bündnisstrukturen des Kalten Krieges, so leisteten die Westverträge durch die Besänftigung der europäischen Nachbarn einen Beitrag zur europäischen Integration der Bundesrepublik. Die Entschädigungspolitik hatte sich als ein notwendiges und zugleich effizientes Instrument erwiesen, internaional akzeptiert zu werden. Abgeschlossen wurde diese Periode im Jahre 1965 durch das BEG-Schlussgesetz, nach dem ab 1969 keine Neuanträge auf Entschädigung mehr gestellt werden konnten. In Zeiten, in denen der damalige Kanzler Ludwig Erhard sein »Wir sind wieder wer« verkündete, sollte auch unter das aufgezwungene Pflichtprogramm »Entschädigung der NS-Verfolgten« ein Schlussstrich gezogen werden.

Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag

Mit dem Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrags zwischen den ehemaligen Alliierten auf der einen, der Bundesrepublik und der DDR auf der anderen Seite kam 1990 ein Vertragswerk zustande, das zwar nicht so genannt wird, faktisch aber das Äquivalent für einen Friedensvertrag darstellt. Damit war die Zeit der Stundung von Reparationen, wie sie im Londoner Abkommen gewährt worden war, prinzipiell vorbei. Doch vermieden Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher eine schriftliche Fixierung dieser Problematik im Vertragswerk. Helmut Kohl rechtfertigte seine Haltung in einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush 1990 damit, dass man nicht »50 Jahre nach dem Krieg noch einmal mit Reparationen anfangen« (9) könne. Dies sei auch aus innenpolitischen Gründen unmöglich. Man hoffte, dass sich durch die Vermeidung eines formellen Friedensvertrags und die Umgehung der Reparationsfrage das Problem von selbst erledige.

Um die bisher übergangenen osteuropäischen Staaten nicht zu brüskieren, war es jedoch nötig, zumindest kleinere Summen zu zahlen. Ein Ergebnis waren zum Beispiel die Stiftungen für Verständigung und Aussöhnung, die in Russland, Weißrussland, der Ukraine und später dann in Tschechien mit einem finanziellen Volumen von 1,5 Milliarden Mark eingerichtet wurden. Doch wandten sich jetzt überraschenderweise die USA erneut der Problematik zu, die von ihr selbst mit erzeugt worden war: dem Zurückstellen der Ansprüche von NS-Opfern zugunsten politischer Erfordernisse des Kalten Krieges.

Stuart Eizenstat, der Sonderbeauftragte der Regierung für diese Fragen, nannte im Vorwort zu einem nach ihm benannten Bericht mehrere Gründe für die neue US-Haltung: »The end of Cold War gave us the chance to examine issues long pushed to the background. Some previously unavailable documents have been declassified, and made publicly avaible. As Holocaust survivors come to the end of their lives, they have an urgent desire to ensure that long-suppressed facts come to light and see a greater degree of justice to assuage, however slightly, their sufferings. And a younger generation seeks a deeper understanding of one of the most profound events of the twentieth century as we enter the twenty-first.« (10) Nach Auffassung der US-Regierung ging es also nicht einfach darum, die bisher ausgebliebene Rückerstattung und Entschädigung nachzuholen, sondern auch eine kritische Reflexion der Versäumnisse wurde angemahnt.

Erstaunlicherweise war man in Deutschland lange Zeit der Ansicht, sich aus dieser Debatte weitgehend heraushalten zu können. Noch auf der Londoner Raubgoldkonferenz im Dezember 1997 begnügte sich die deutsche Delegation damit, dem Auditorium die Erfolge deutscher Geschichtspolitik darzustellen. (11) Vier Ereignisse markieren jedoch das Scheitern des Versuchs, Distanz zu demonstrieren: die Einbeziehung des Allianz-Konzerns in die Sammelklage gegen europäische Versicherungen, die Aufdeckung der Beteiligung von Dresdner und Deutscher Bank am NS-Raubgoldhandel unmittelbar vor der Londoner Raubgoldkonferenz, die Einreichung von Sammelklagen gegen deutsche Banken wegen des Raubgoldhandels und gegen deutsche Unternehmen wegen nicht gezahlter Löhne für Zwangsarbeit und schließlich einige Äußerungen aus US-amerikanischen Regierungskreisen, dass man persönliche Entschädigungsleistungen für die weiterhin als Opfer zweiter Kategorie behandelten Menschen in Osteuropa erwarte.

Als sich die schweizerischen Banken wegen ihrer vergleichsweise unbedeutenden historischen Lasten zu einem Abkommen bereit fanden und der Deutschen Bank im Zusammenhang mit einer Fusion Zulassungsschwierigkeiten auf dem US-Markt entstanden waren, konnte sich die deutsche Seite den Forderungen nicht mehr vollständig entziehen. Wie schon in den fünfziger Jahren hatte also äußerer Druck bewirkt, dass Deutschland sich mit der Frage der Entschädigungen beschäftigen musste.

Doch unterschätzte man auch jetzt noch die Tragweite des Themas. Mit dem Verweis auf den »humanitären« Charakter der in Aussicht gestellten Leistungen hatten Wirtschaft und Regierung gleich zu Beginn deutlich zu machen versucht, dass sie sich rechtlich nicht in der Pflicht sahen. Entsprechend gering war ihre Zahlungsbereitschaft. Die ersten Vorstellungen über die zu erbringenden Leistungen entsprachen denn auch der bisher praktizierten Almosenpolitik. 1,5 Milliarden Mark soll der erste Unterhändler Bodo Hombach der Wirtschaft als bereitzustellende Summe genannt haben. Zwischen 200 000 und drei Millionen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hielt er für anspruchsberechtigt. Bundeskanzler Gerhard Schröder wiederum teilte mit, er halte die öffentlich genannten Summen von 2,5 bis drei Milliarden Mark für unrealistisch. (12) Dem standen jedoch (später erhobene) Forderungen in Höhe von 20 bis 40 Milliarden Dollar gegenüber.

Im Juni 1999 stellte die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft der Öffentlichkeit dann ihre Vorstellungen offiziell vor. Drei Milliarden Mark wollte sie unter der Voraussetzung »dauerhafter Rechtssicherheit« insgesamt zahlen: die Hälfte davon an Überlebende, die »aufgrund ihrer heutigen Lebenssituation bedürftig sind«, die andere Hälfte für einen »Zukunftsfonds«. Erst nach harten Auseinandersetzungen erklärte sich die Bundesregierung - im Unterschied zu einer strikt ablehnenden Wirtschaft - nach einem »letzten Angebot« von acht Milliarden Mark im November schließlich bereit, noch einmal zwei Milliarden zuzuschießen. So konnte am 8. Dezember 1999 eine Fondsausstattung von zehn Milliarden Mark vereinbart werden.

Da die Summe als Maßstab für die Abgeltung aller Ansprüche gesetzt war, prägte die Frage nach den Empfangsberechtigten und die Aufteilung des Geldes unter ihnen die Verhandlungen. Ursprünglich war die Ansicht vertreten worden, in erster Linie seien Forderungen aus den USA - und dort vor allem jüdische - abzugelten; die Mehrheit der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Osteuropa könne unberücksichtigt bleiben. Eine solche Sichtweise findet sich noch in einem der ersten Papiere der Stiftungsinitiative. Anspruchsberechtigt sollte nur sein, wer »mindestens sechs Monate in einem Lager« verbracht habe. Außerdem sollte die Höhe der Zahlung vom Einkommensniveau im Aufenthaltsland abhängig gemacht werden.

Damit wäre nicht nur der größte Teil der NS-Opfer in Osteuropa von Zahlungen ausgeschlossen worden, sondern der relativ kleine Kreis der Anspruchsberechtigten hätte auch noch wesentlich geringere Zahlungen erhalten als Empfänger in den USA. Das Konzept der Stiftungsinitiative erschwerte die Verhandlungen insofern, als die Nachkommen der Täter - wie die Anwältin Deborah Sturman formulierte - die Opfer ihrer Väter in Gruppen einteilen und diese dann mit meist lächerlichen Beträgen abzuspeisen versuchten. (13)

Beschlossen wurde schließlich, dass Zwangsarbeit unter der Bedingung von KZ- oder KZ-ähnlicher Haft mit einem Betrag bis 15 000 Mark, Zwangsarbeit in der Industrie mit höchstens 5 000 Mark abgegolten wird. Weiterhin von Zahlungen ausgeschlossen bleiben zum Beispiel Landarbeiter und Haushaltshilfen, durch die Wehrmacht zur Zwangsarbeit gezwungene »nicht Deportierte« (14), Kriegsgefangene, insbesondere die sowjetischen, deren Schicksal nicht einfach unter die normalen Lebensbedingungen von Kriegsgefangenen subsumiert werden kann, und die Angehörigen der bereits vor dem Stichtag der »Stiftungserklärung« (16. Februar 1999) Verstorbenen.

Deutlich benachteiligt bleiben diejenigen, die unter den Begriff »Rest der Welt« subsumiert und die erst gar nicht zu den Verhandlungen zugelassen wurden. Die ihnen zugestandene Summe ist so gering, dass sie noch weniger als bei den anderen Gruppen ausreichen wird, um den Ansprüchen zu genügen. Hierzu gehören Sinti und Roma, sofern sie nicht in einem der an den Verhandlungen beteiligten mittel- und osteuropäischen Staaten leben; Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die in Staaten leben, die nicht an den Verhandlungen beteiligt waren; Häftlinge der Konzentrations- und Arbeitserziehungslager aus westeuropäischen Staaten; Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die nach 1945 nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind. (15) Der Anwalt Michael Hausfeld wertete dieses Ergebnis mit den Worten: »Die Deutschen handeln überhaupt nicht aus einem tiefen moralischen Bewusstsein heraus. Sie weigern sich, eine Verbindung zwischen den Verbrechen der Vergangenheit und ihren heutigen Leistungen herzustellen.« (16)

Darüber hinaus bestand die deutsche Seite darauf, das Abkommen als »Globalabkommen« zu konzipieren. Damit sollen nicht nur jegliche Entschädigungsforderungen endgültig obsolet werden, sondern auch die unerwartet aufgekommenen Diskussion um Reparationen soll keine Grundlagen finden. Ihren Ausdruck fand diese Strategie in der Forderung nach Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in den USA. Angesichts der vielen weiterhin nicht erledigten Entschädigungsforderungen soll der Rechtsweg, der durch die Klagemöglichkeit in den USA so »gefährlich« geworden war, mit der Gründung der Stiftung endgültig versperrt werden. Bedenken hiergegen waren u.a. von Juristen des State Department geäußert worden. Sie wiesen auf den Umstand hin, dass die Frage der Reparationen auch aus US-amerikanischer Sicht weiterhin ungeklärt sei.

Die entstandenen Irritationen konnten schließlich beigelegt werden, indem die USA - wie Otto Graf Lambsdorff dem Bundestag ausdrücklich mitteilte - sich zu der Formulierung bereit erklärten, sie würden »keine Reparationsansprüche gegen Deutschland geltend machen« (17).

Grundsätzlich konnte die Bundesregierung also nicht veranlasst werden, sich nach Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrags einer notwendigen Entschädigungsregelung zu stellen. Selbst bei den Verhandlungen über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern gelang es ihr, mit so genannten humanitären Leistungen den Rechtsanspruch der Opfer zu unterlaufen und damit den entschädigungspolitischen Schlussstrich von 1969 zu behaupten. Sie war dabei so erfolgreich, dass ihr sogar Vorhaben wie die Einrichtung einer Bundesstiftung für die »vergessenen Opfer«, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurde (18), bis heute nicht abverlangt werden.

Ob sie allerdings in der Lage sein wird, in Zukunft alle weiteren Zahlungen mit dem Hinweis auf das gerade abgeschlossene Globalabkommen zu verweigern, ist dennoch fraglich. Die griechischen Wehrmachtsopfer haben wegen der unbestreitbaren Legitimität ihrer Forderungen und der Einschaltung internationaler Gerichte wohl am ehesten die Chance, die Blockade zu durchbrechen.

Von Kohl zu Schröder

Unter Helmut Kohl hatte es geheißen: »Die Kasse bleibt zu.« Für Gerhard Schröder war es vor diesem Hintergrund eine gute Gelegenheit, sich im Wahlkampf 1998 mit der Bereitschaft, Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu leisten, als Reformpolitiker der Neuen Mitte zu präsentieren. Doch wie Kohl mit der Einrichtung von Versöhnungsstiftungen in Osteuropa nicht zu einem Staatsmann wurde, der die Rechte der Opfer deutscher Verbrechen anerkennt, so wenig entspricht der politische Kurs Schröders den Erfordernissen, die sich aus der Aufarbeitung deutscher Geschichte ergeben.

Es kann sogar angenommen werden, dass auch Helmut Kohl nicht anders gehandelt hätte als sein Nachfolger. Denn dessen Credo, den NS-Verfolgten zum »Schutz der deutschen Industrie« Zugeständnisse zu machen und damit »Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes« entgegenzutreten, war so eindeutig aus dem Blickwinkel deutscher Interessen formuliert, wie es selbst Konrad Adenauer nicht schroffer hätte tun können.

Dem entspricht, dass die begrenzte Zahlungsbereitschaft der Bundesregierung mit vielen Fakten korrespondiert, die bekannte Stereotype deutscher Erinnerungsverweigerung aktualisieren. Bekannt sind die Äußerungen seiner wissenschaftlichen und politischen Helfer, die zum Beispiel Zwangsarbeit auf Bauernhöfen als normale Erscheinung bäuerlichen Wirtschaftens klassifizierten (Lambsdorff) und sich sogar zu der Aussage verstiegen, etliche dieser Nazi-Sklaven hätten hier die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht (Lutz Niethammer).

Verdichtet kommt diese Verweigerung in den ersten Entwürfen zum Gesetzentwurf für die »Stiftung Erinnerung - Verantwortung - Zukunft« aus dem Bundesfinanzministerium zum Ausdruck. So wurde weder im Gesetzestext noch in seiner Begründung gesagt, dass die Bundesrepublik Deutschland mehr als 50 Jahre die Entschädigung für Zwangsarbeit verweigert hat und dass sie dies bedauert. Stattdessen erweckte man den Eindruck, die Vereinbarungen seien notwendig geworden, weil andere Staaten mit früher geleisteten Zahlungen unsachgemäß umgingen.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es: »Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft baut zwar auf umfangreichen deutschen Reparationen und Wiedergutmachungsleistungen auf. Diese haben allerdings häufig den einzelnen Kriegsgeschädigten und Verfolgten nicht erreicht. Deutschland kann und will die Versäumnisse der Staaten, die Reparationen vereinnahmt, diese aber nicht oder nicht angemessen an individuell Geschädigte ihres Gebietes weitergegeben haben, nicht ausgleichen.« Dem entspricht, dass an keiner Stelle des vorliegenden Textes das Verbrechen an den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern angemessen dargestellt wird.

So wird vermutlich mit der Absicht, die Dimension des Verbrechens zu verkleinern und die rechtlichen Bedingungen für individuelle Entschädigungsansprüche zu verschlechtern, die Maxime der »Vernichtung durch Arbeit« geleugnet und behauptet, »Schädigungen« seien »aus dem Kriegsgeschehen erklärbar«. Nicht zuletzt werden die geringen Zahlungen mit dem Argument begründet, dass höhere Leistungen »neues Unrecht im System der Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgenregelungen hervorrufen« würden, weil Verfolgte mit vergleichbaren Schäden zuvor noch weniger erhalten hätten.

Doch gibt es auch einen interessanten Unterschied zur Ära Kohl. Während dieser in der Nachfolge Adenauers damit befasst war, den »Bruch in der deutschen Nationalgeschichte« zu kitten, hat Schröder mittlerweile soviel Distanz, dass er ihn mit einem Blick in die Zukunft aus dem Weg zu schaffen sucht. Im Kontext der Entschädigungspolitik ist der Zukunftsfonds ein prägnantes Beispiel für diese Strategie. Mit dem Auftrag, zur »Sensibilisierung für Menschenrechtsverletzungen« beizutragen, sollte er in der Stiftungskonstruktion ursprünglich das selbe Gewicht wie die Zahlungen an die Opfer haben. Mit ihm wird eine Institution geschaffen, die systematisch an ideologische Aufgaben gehen kann, mit denen sich Rudolf Scharping zur Legitimierung des Angriffskriegs auf Jugoslawien noch fast allein auseinandersetzen musste.

Diese Politik ist nicht neu. Spätestens seit der sozialliberalen Koalition - nach dem entschädigungspolitischen Schlussstrich unter Erhard also - wurde hiermit begonnen. So wies Willy Brandt schon die Entschädigungsforderungen Titos mit dem Hinweis auf eine künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit zurück. Umgekehrt argumentiert man heute etwa gegenüber Griechenland, es gäbe kein Recht auf Entschädigung, weil so viel Zeit vergangen sei.

Fand unter Adenauer die Entschädigung in der deutschen »Leistungsfähigkeit« ihre Grenze und verschaffte man sich mit Hilfe der Gesetzgebung über die einzelnen Opfergruppen Deutungsmacht, so wird heute grundsätzlich die Legitimität der Forderungen bestritten. Wie die letzte Entschädigungskontroverse besonders am Beispiel der Finkelstein-Debatte gezeigt hat, werden auf dieser Grundlage die Täter zu Opfern und die Opfer zu Tätern umgedeutet, die unrechtmäßige Forderungen stellen und sich mit unlauteren Mitteln durchzusetzen versuchen.

Ein zentraler Aspekt dieser neuen Deutungsmacht ist also der Versuch, aus der Geschichte sich ergebende Handlungsverpflichtungen zu ignorieren und sie durch neue Ideologeme zu ersetzen. Deshalb bleibt die IG Farben i.A. unbehelligt, NS-Täter können weiter ihre Rente beziehen und den Opfern wird bedeutet, dass sie kein Recht auf Entschädigung haben. Dabei ergibt sich die paradoxe Situation, dass sich die Bundesregierung mit dem Zukunftsfonds zur Hüterin der Menschenrechte zu erheben versucht, während sie gleichzeitig von Gerichten wegen ihrer Entschädigungsverweigerung der Völkerrechtsverletzung in den USA und zuletzt in Athen schuldig gesprochen wird. Ob die neue Form der Erinnerungsverweigerung erfolgreich sein wird, ist deshalb noch nicht entschieden.

Ein »langweiliges Thema« ist die Entschädigung der NS-Opfer, wie der eingangs zitierte Otto Küster meinte, aber schon deshalb nicht, weil die Kontroverse darüber die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchzieht und bis heute nicht abgeschlossen ist. Wie der Rückblick zeigt, ist sie auch von erheblicher politischer und zeitgeschichtlicher Brisanz. Doch hat Küster Recht, dass sich mit ihr in der Regel immer nur eine »kleine Minderheit« auseinandersetzt. Nach dem Abschluß der Verhandlungen über die Entschädigung für Zwangsarbeit in der NS-Zeit ist damit zu rechnen, dass das allgemeine Interesse auch diesmal stark nachlassen wird. Angesichts der weiterhin offenen Fragen wäre dies jedoch die Wiederholung eines Fehlers, der offensichtlich schon in den fünfziger Jahren gemacht wurde.

Anmerkungen:

(1) Otto Küster: Wiedergutmachung als elementare Rechtsaufgabe, Frankfurt/M. 1953, S.3.

(2) Deutscher Bundestag, 6. Sitzung vom 21. September 1949, Stenographische Berichte, Bd. 1, S.23ff.

(3) Hans Günter Hockerts: Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 49/01, S.171. Hockerts kommentiert dieses »Problem« mit der Bemerkung: »Wahrscheinlich hat das beginnende Wirtschaftswunder, zusammen mit der Bereitschaft vieler Verfolgter, sich auf einen Vergleich einzulassen, häufig für eine weiche Landung gesorgt.« Ebd., S.173.

(4) Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 25. November 1949.

(5) Constantin Goschler: Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945 - 1954), München 1992, S.264.

(6) In Teil IV. wurde ihr auferlegt, Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer »Rasse«, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschaung verfolgt wurden, eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Siehe Verträge der Bundesrepublik Deutschland, Serie A: Multilaterale Verträge, Bd. 7, 1957, S.279.

(7) Wilhelm G. Grewe: Rückblenden, 1976-1951, Frankfurt/M. 1979, S.146.

(8) Zum Verhandlungsverlauf siehe Ernst Féaux de la Croix/Helmut Rumpf: Der Werdegang des Entschädigungsrechts (Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland Bd. 3), München 1985, S.227ff.

(9) Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts 1989/1990, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, S.864.

(10) U.S. and Allied Efforts To Recover and Restore Gold and Other Assets Stolen or Hidden by Germany During World War II. Preliminary Study. Coordinated by Stuart E. Eizenstat, May 1997, S.IV (Foreword).

(11) Foreign & Commonwealth Office: Nazi Gold. The London Conference. 2-4 December 1997, London 1998, S.279-292.

(12) Handelsblatt, 17. Februar 1999.

(13) Aufbau, 12/99.

(14) Für sie wie für die Landarbeiter wurde allerdings letztlich eine »Öffnungsklausel« geschaffen, die es den jeweiligen Staaten ermöglicht, ihnen Leistungen zukommen zu lassen. Doch gehen diese Zahlungen von der Gesamtsumme ab, die dem jeweiligen Land zugestanden worden ist. Sie werden also den anderen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in diesem Land abgezogen.

(15) Vgl. Lothar Evers: Verhandlungen konnte man das eigentlich nicht nennen ..., in: Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, hg. von Ulrike Winkler, Köln 2000, S.232f.

(16) Aufbau, 24/99.

(17) Protokolle, 14. Wahlperiode, S.10752.

(18) Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 20. Oktober 1998, Kapitel IX.3.