Allen Ginsberg zum 75. Geburtstag

Can’t Beat It

Er produzierte »Howl« und »Reality Sandwiches«, ernährte sich von LSD und Seegras, lebte in New York und war immer on the road. Am 3. Juni wäre Allen Ginsberg 75 Jahre alt geworden. Barbara Jentzsch stöberte in seiner Biografie und sprach mit seinem ehemaligen Sekretär

Wie hätte der Dichter Allen Ginsberg, professioneller Bohemien und Bürgerschreck, wohl seinen 75. Geburtstag gefeiert? Vielleicht mit einer Nudelsuppe, einem Haiku, einem Libretto über George W. Bush oder mit einem Poetry Slam? Wahrscheinlich mit all dem gleichzeitig. Das war so seine Art.

Die Allen Ginsberg-Stiftung in New York winkt ab. Nein, zum 3. Juni 2001 sei nichts Besonderes geplant, aber irgendetwas werde sich bestimmt ergeben. Möglicherweise eine Lesung seiner Gedichte.

Warum er Gedichte schrieb, erklärte Ginsberg 1984 während seiner China-Reise: »Ich schreibe Gedichte, weil das englische Wort Inspiration vom Lateinischen 'Spiritus', der Atem, kommt, ich möchte frei atmen können.

Ich schreibe Gedichte, weil mein Vater ein Poet war, meine Mutter aus Russland stammte, kommunistisch redete und im Irrenhaus starb. Ich schreibe Gedichte, um in meinem Kopf ein akkurates Bild zu zeichnen.

Ich schreibe Gedichte, weil es verboten war, in den Vereinigten Staaten über Sex zu schreiben.

Ich schreibe Gedichte, weil Hitler sechs Millionen Juden ermordet hat, ich bin Jude.

Ich schreibe Gedichte, weil ich allein sein will und mit Menschen sprechen möchte.

Ich schreibe Gedichte, weil der Dichter Walt Whitman gesagt hat: 'Widerspreche ich mir? Na gut, dann widerspreche ich mir. Ich bin weit gefächert, aus mir spricht Mannigfaches.'«

Der Lyriker William Carlos Williams war in den dreißiger Jahren Ginsbergs Nachbar und Mentor: »Als wir beide noch jünger waren, kannte ich Allen Ginsberg als einen jungen Poeten in Paterson/ New Jersey, wo er als Sohn eines bekannten Dichters zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Er war von schmächtiger Gestalt und sehr verwirrt von dem Leben, wie er es während jener Jahre nach dem Ersten Weltkrieg angetroffen hatte und wie es ihm dann in New York City und Umgebung gegenüber trat. Er war immer drauf und dran wegzugehen - wohin, schien keine Rolle zu spielen. Er beunruhigte mich, und ich hätte nie gedacht, dass er lange genug leben würde, um erwachsen zu werden und einen Band Gedichte zu schreiben. Seine Fähigkeit, zu überleben, zu reisen und weiterzuschreiben finde ich erstaunlich. Dass er dabei seine Kunst weiter vorangetrieben und vervollkommnet hat, verblüfft mich nicht weniger.«

Auch Ginsbergs Freunde und Bekannte waren verblüfft, als der von Walt Whitman und den visionären englischen Dichtern des 18. Jahrhunderts inspirierte Beatpoet 1956 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte und in San Francisco mit seinem zornigen Endlosgedicht »Howl« ans Mikrofon trat. »Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie im Morgengrauen sich durch die Negerstraßen schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze, Hipster mit Engelsköpfen, süchtig nach dem alten himmlischen Kontakt zum Sterndynamo in der Maschinerie der Nacht.«

Amerikas Erstaunen, das sowohl ein Erschrecken wie auch Entzücken über die unkonventionellen Töne von Ginsberg war, hat sich nie ganz gelegt. Denn der rastlose, von einer unendlichen Neugier auf neue Erfahrungen besessene Hipster aus New Jersey war dem Zeitgeist immer drei Schritte voraus. Mochte die Massenkultur die drogengesättigten Visionen der Beat Generation im Laufe der Zeit auch tolerieren und der Dichter selbst Jeans und T-Shirt gegen Anzug und Krawatte eintauschen - es hat Ginsberg nicht geschadet.

Der vor vier Jahren verstorbene Schriftsteller sei eine Art nationale Institution gewesen, sagt der New Yorker Dichter und ehemalige Sekretär von Ginsberg, Bob Rosenthal. »Film, Radio, Zeitungen - die Medien rissen sich um ihn als eine letzte Ikone der vierziger, fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahre. Er hat die Hipsters repräsentiert, die Beats, Hippies, Punks und was auch immer danach kam.«

Aber das Leben als Ikone konnte auch anstrengend sein. Man habe, so Rosenthal, von Allen Ginsberg immer erwartet, dass er sich selbst treu bleibt und sich der Medienmaschinerie verweigert. Als der nicht mehr ganz junge Autor einmal sein Einverständnis dazu gab, dass ein Foto von ihm in einer Gap-Werbung verwendet wurde, hagelte es höhnische Kommentare. Dass Ginsberg sein Honorar der von ihm gegründeten Autoren-Akademie spendetet interessierte niemanden, erzählt Rosenthal. Man habe, meint er, bei Ginsberg immer höhere Maßstäbe angelegt als etwa bei Burroughs, aber zugleich seien dies ja auch die Maßstäbe gewesen, die Ginsberg selbst gesetzt habe.

»Er konnte nicht auf Bestellung schreiben«, versichert Rosenthal. »Selbst als so etwas Unschuldiges wie ein kleiner tibetanischer Buchladen bei Ginsberg anfragte, ob er ein Gedicht über dänische Schultaschen, die er selbst gerne benutzte, schreiben würde, konnte Allen es nicht tun. Dabei wollten sie den Autoren fünf dieser Büchertaschen geben. Aber er konnte nicht auf Bestellung über Büchertaschen schreiben, und natürlich probierten wir, also ich und die anderen Autoren, ein Gedicht zu schreiben, das als echtes Ginsberg-Poem durchgehen sollte, aber er akzeptierte keines von ihnen, also haben wir diese Schultaschen nie bekommen.«

»Kultautor«, »Guru«, »Prophet«, »Buddha der Beat-Bewegung«, »Großvater der Pop Literatur« nennen die Kritiker Allen Ginsberg heute. Und dann zählen sie auf, was sich der Mann, der auf Fotos oft mit einem riesigen, blauweiß-roten Uncle-Sam-Zylinder zu sehen war, zugute halten kann. Mit seinen Zeitgenossen Jack Kerouac, William Burroughs und Gregory Corso hob Ginsberg im Nachkriegsamerika die Beat Generation aus der Taufe. Seine für die amerikanische Literatur revolutionären reimlosen Gedichte, seine Prosatexte, Reiseberichte, Tagebuchnotizen, Platten und Fotos prägten das Denken und Empfinden einer ganzen Generation.

Ginsberg gab sich mutig als Homosexueller zu erkennen. Er tauschte mit seinem Partner Peter Orlovsky Ehegelübde aus, Jahrzehnte bevor es in war, sich zu outen. Dass Kubas Fidel Castro und die Stalinisten in Prag ihn 1965 aus diesem Grund des Landes verwiesen, focht ihn nicht an. Der rebellisch offene Lebensstil der Beatpoeten, ihre Spontanität und unkaschierten Drogenexperimente bereiteten der Flower Power der Hippies, der Gegenkultur und der Neuen Linken den Weg.

Ginsberg machte sich zum Sprachrohr der von Kalifornien ausgehenden Protestbewegung. Er hob seine Stimme für ein besseres, sozial gerechtes, vom Rassismus befreites Amerika. Demonstrierte gegen Johnsons Krieg in Vietnam, die Ausbeutung der Dritten Welt, Kissingers Pakt mit Pinochet, Washingtons Drogengesetze, Reagans nukleare Aufrüstung, Bushs Krieg gegen Saddam Hussein, Clintons schießwütiges FBI sowie gegen Obdachlosigkeit im reichsten Land der Welt, das Treiben der CIA in Lateinamerika, die Todesstrafe, die Umweltzerstörung, die Zensur und die Diskriminierung von Homosexuellen.

»Allen war ein Workaholic«, sagt Bob Rosenthal. »Er war kein Drogenabhängiger, kein Pädophiler, kein Kommunist und kein Kapitalist - er war ein Arbeitstier. Er hat immer für die Person Allen Ginsberg gearbeitet. Wenn er von einer Reise zurück kam und die Stapel von Papier auf seinem Schreibtisch sah, Briefe, die beantwortet, Interviews, die gegengelesen werden mussten, und eine Liste mit 3o Anrufern, die alle auf Rückruf warteten, dann raufte er sich die Haare, stöhnte über sein Karma und setzte sich hin, um die Nacht durchzuarbeiten.«

Entsprechend spät hat der Tag für Ginsberg begonnen. Vormittags passierte nicht viel. Ein paar Tai Chi-Übungen vielleicht, eine Mahlzeit aus Haferflocken und Seegras, deren Zubereitung er von einem befreundeten japanischen Dichter gelernt hatte. Aber erst am Nachmittag, sagt Rosenthal, sei er dann allmählich wirklich aufgewacht, und losgelegt wurde erst am Abend. Zwischendurch ein Essen. Ginsberg kochte gerne, und seine Freunde löffelten seine wundervollen Suppen. Wenn er nicht selbst kochte, aß er in einem Restaurant, besuchte anschließend Freunde und kam gegen ein Uhr nachts zurück, um zu lesen und zu schreiben. So gegen fünf Uhr morgens, sagt sein ehemaliger Sekretär, lag Ginsberg dann im Bett.

Er kannte keine Freizeit. Leute luden ihn in ihre wunderschönen Häuser auf Hawaii oder in Kalifornien ein, aber er besuchte sie nie. Entspannung bedeutete für ihn, irgendwo auf der Lower Eastside in Manhattan eine Champignon-Barley-Suppe im veganen Restaurant zu essen.

Sein mitreißendes politisches Engagement, seine Lyrik und Prosa inspirierten Musiker wie Bob Dylan, die Beatles, Arlo Guthrie, Tom Waits und Philip Glass. Ständig »on the road«, rund um die Welt, immer auf der Suche nach neuen bewusstseinsverändernden Erfahrungen, hörte er dennoch irgendwann auf, mit Drogen zu experimentieren, und praktizierte stattdessen Zen-Buddhismus, Yoga und Meditation schon lange Zeit bevor es Mode wurde, sich mit fernöstlicher Religion zu beschäftigen. Weil er ein guter Lehrer war, gab er seine Lektionen im »Meditation Rock« gleich weiter. Im Buddhismus fand selbst der rastlose und labile Ginsberg endlich die Ruhe, die er seit seiner Kindheit vermisst hatte.

Schon kurz nach seiner Geburt am 3. Juni 1926 in Paterson/New Jersey erkrankte seine Mutter. Die Aufenthalte in Heilanstalten häuften sich und dauerten immer länger. Naomi Ginsberg, eine aus Russland stammende überzeugte Marxistin, litt, wie die Ärzte meinten, an paranoider Schizophrenie. Sie musste sich den damals üblichen grausamen Elektroschockbehandlungen unterziehen. Zuhause wurde sie häufig von dem hochsensiblen Allen gepflegt. Die traumatische Erfahrung, die das Leiden und Sterben seiner Mutter für ihn bedeutete, verarbeitete er später in seinem Gedicht »Kaddish«, dem in einer Nacht geschriebenen, über 58 Seiten langen jüdischen Totengebet für Naomi Ginsberg.

»Kaddish« ist eine einzige Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ausdrückende Klage und eine der wichtigsten Arbeiten Ginsbergs. »Überraschend jetzt an Dich zu denken, dahin ohne Kragen & Augen, da ich gehe auf sonnigem Greenwich Village Pflaster. Manhattan Mitte, Mittag winter-brillant, ich übernächtigt vom Reden, Reden, das Kaddisch laut lesen, Ray Charles Blues blind schreien Hören im Grammophon«.

Ginsbergs Vater Louis war der erste Lehrer des jungen Poeten. Aber erst als Student an der Columbia Universität nahm Ginsberg seine Schreibeexperimente wirklich ernst. Damals traf er William Burroughs und Jack Kerouac, experimentierte bald mit Drogen, trieb sich, wie sein Biograf Michel Schumacher schreibt, mit Junkies und Genies herum, zerbrach sich den Kopf über seine Homosexualität und rang darum, eine Stimme als Dichter zu finden.

Eines Tages verhaftete man ihn, weil man ihm Kontakte zu den falschen Leuten vorwarf, und steckte ihn in eine psychiatrische Anstalt; das alles passierte noch vor seinem 23. Geburtstag. Den feierte er 1949. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Studium abgeschlossen und von seinem Mentor W.C. Williams den wichtigen Rat bekommen, Form und Inhalt seiner Gedichte einfach zu halten, sein Augenmerk auf die unmittelbare Umgebung zu richten und auf die Umgangssprache zu hören.

Mit mehr Spontanität zu schreiben, empfahl auch Jack Kerouac, Autor des Kultbuches »On the Road« und Protagonist der Beat Generation. Beat war für ihn die Abkürzung von beatified (beseligt). Und das waren die Glückssucher: jung, gierig, ausgelassen. Autoren, die auf die Konventionen der Zeit pfiffen, wirkten in den kulturell verarmten fünfziger Jahren ausgesprochen bedrohlich. Eisenhower und McCarthy gaben den Ton an, die Auswirkungen des Kalten Kriegs prägten das Land. Amerika war zerrissen von Hassgefühlen und Furcht vor allem Fremden. Sex und Drogen kamen nur in verbotenen Büchern vor. Frieden und Freiheit, Love and Peace, die Ideale der jungen Beatpoeten, hatten den Ruch des Subversiven.

In diesem Klima erschien Ginsbergs Erstlingswerk »Howl and other Poems« und wurde sofort auf den Index gesetzt, sein Verleger, Lawrence Ferlinghetti, vor Gericht gestellt. Ein Gedicht, das seitenlang die erotischen Freuden seines schwulen Autors feiert, die Bewusstseinserweiterung durch Drogen ekstatisch zelebriert und vor dem geheiligten American Way of Life ausspuckt, ging entschieden zu weit.

Nach einem langen, Aufsehen erregenden Prozess durfte »Howl« dann doch erscheinen. Der Band wurde in 23 Sprachen übersetzt und machte Ginsberg und seine literarischen Weggenossen quasi salonfähig. Doch FBI-Chef Hoover, dessen homosexuelle Neigungen damals noch ein Geheimnis waren, ließ die seiner Meinung nach »pervertierten Kommunisten« weiterhin überwachen. Kaum jemand begriff, dass die Beatpoeten keine neue Ideologie, sondern ein neues Bewusstsein forderten.

Auch Hollywood scherte sich nicht um die politischen Beweggründe der Aussteiger. Der Unterhaltungsindustrie kamen die schrägen Typen im Rollkragen und mit dunkler Brille gerade recht, um eine Serie von albernen Reißern zu starten, die sich gegenseitig darin übertrumpften, die wilden jungen Literaten zu vermarkten und zu trivialisieren. Schlagersänger Perry Como versuchte sich als Beatbanause, und im New Yorker Greenwich Village gab es für Touristen, die hautnah dabei sein wollten, einen regelrechten Dichterverleih.

Allen Ginsberg publizierte 15 Lyrik- und 15 Prosabände, er wurde zum Professor berufen, von Franzosen und Amerikanern in ihre jeweilige Nationale Akademie der Schönen Künste gewählt und mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet. Zu seinen Fans und Lesern zählten und zählen u.a. Robert F. Kennedy, Jimmy Carter, Vaclav Havel und der Dalai Lama. Zwar gehört der Autor inzwischen zum Kulturgut, aber genau genommen ist Allen Ginsberg in den USA immer noch verboten. »Howl« und andere vom Kongress für obszön befundene Texte dürfen vom Nationalen Radiosender NPR in voller Schönheit nur zwischen 11 Uhr abends und sechs Uhr morgens ausgestrahlt werden.

Man hätte Ginsberg wohl gerne ignoriert, sagt Rosenthal, aber mit dem Erscheinen von »Howl« war das unmöglich geworden. »Heutzutage steht 'Howl' auf den Lehrplänen der meisten amerikanischen Highschools, obwohl gerade erst im letzten Jahr ein Lehrer in Florida gefeuert wurde, weil er 'Howl' durchnahm. Dieses Gedicht, vor 50 Jahren geschrieben, ist immer noch das wichtige Dokument einer Befreiung.«