Feuerpause in Kaschmir

Warten auf den Mai

Indien hat die Feuerpause in Kaschmir verlängert. Eine Lösung des Konflikts ist aber weiterhin nicht in Sicht.

Gute Nachrichten aus Kaschmir sind rar. Geradezu bahnbrechend wirken die jüngsten Schritte in Richtung Frieden angesichts des schwelenden Konflikts zwischen den Atommächten Indien und Pakistan. Indien scheint bereit, andere Wege im Umgang mit der Unabhängigkeitsbewegung im Kaschmir-Tal zu suchen als den militärischer Härte. Im November verkündete Premierminister Atal Bihari Vajpayee eine einseitige Waffenruhe für die Dauer des islamischen Fastenmonats Ramadan. Ende Februar wurde die Feuerpause bis zum Mai verlängert.

Pakistan, seit dem Putsch von 1999 (Jungle World, 43/99) zunehmend isoliert, will den Spielraum in Indien aktiver Freischärler einschränken. So sollen militante Gruppierungen auf den Straßen künftig keine Waffen tragen dürfen. Indische Korrespondenten glauben, dass der pakistanische Staatschef General Pervez Musharraf wegen der Stärke der Islamisten in Armee und Geheimdienst zwar rücksichtsvoll vorgeht, es aber durchaus ernst meint.

Die beiden Staaten sind nicht die einzigen Rivalen, es gibt auch noch die gespaltene Separatistenbewegung All Party Hurriyat Conference (APHC), die zerstrittenen Guerrillagruppen sowie Farooq Abdullah, den Ministerpräsidenten des Bundesstaates Jammu und Kaschmir. Nicht nur wegen der vielen Akteure wirkt die Lage auf den ersten Blick unübersichtlich. Zur Verwirrung tragen die Manöver bei, mit denen die Anführer ihre Truppen zusammenzuhalten suchen. Zudem hätten sämtliche Konfliktparteien gute Gründe, weiterzukämpfen.

Für die indische Zentralregierung stellt der Separatismus eine Gefahr dar; Nachgiebigkeit in Kaschmir könnte die Aufstände im Nordosten anheizen und die Bewegungen im südlichen Tamil Nadu und im nordwestlichen Punjab wieder aufflammen lassen. Außerdem dürften regionale Unterschiede mit der wirtschaftlichen Liberalisierung zunehmen und auch anderswo separatistische Ideen keimen lassen. Während in Bundesstaaten wie dem südlichen Karnataka Hi-Tech-Zentren entstehen, gleitet etwa das nördliche Bihar immer weiter in Elend und Chaos ab.

Indien gibt Jane's Security News zufolge jährlich etwa 1,24 Milliarden US-Dollar für die halbe Million Soldaten in Kaschmir aus. Darüber hinaus ist mittlerweile Verblendung nötig, um die Verfahrenheit der Situation zu ignorieren. Die oft blindwütige Brutalität der Soldaten hat die Bevölkerung in den dreizehn Jahren des Konflikts weitgehend von Indien entfremdet.

Druck kommt auch aus Washington. Spätestens die Atomwaffenversuche Pakistans und Indiens von 1998 haben die geopolitische Bedeutung der Region verdeutlicht. Wegen der wachsenden Unberechenbarkeit Pakistans setzen die USA auf das wirtschaftlich erstarkende Indien als Verbündeten in der Region. Während des Kargil-Krieges von 1999 drängten die Vereinigten Staaten Pakistan zum Rückzug aus Indien; im vergangen Jahr mimte US-Präsident William Clinton den begeisterten Indien-Touristen, um auf dem Rückweg kurz und ernst den pakistanischen Diktator zu treffen. Eine Fortsetzung dieser Politik unter George W. Bush ist wahrscheinlich.

Die indische Regierung betrachtet den Konflikt mit Pakistan als bilaterale und Kaschmir als interne Angelegenheit. Daher verweigert sich die Koalition um die hindu-nationalistische BJP allen Vermittlungsangeboten und lehnt es ab, mit Pakistan über Kaschmir zu verhandeln. Auch sonst herrscht Schweigen, denn vor Gesprächen verlangt Indien das Ende des »grenzübergreifenden Terrorismus«.

Wenige Tage nachdem Pakistan vom Internationalen Währungsfonds (IWF) 596 Millionen Dollar erhalten hatte, deutete Islamabad die Bereitschaft an, die Grenzlinie zu respektieren. Das Land hat 38 Milliarden Dollar Schulden, und die Stimmung der verelendenden Bevölkerung bietet der Militärregierung Anlass zur Sorge. Mittlerweile scheint sogar eine Rückkehr zur Demokratie denkbar, um den Zorn wie früher auf zivile Marionetten zu lenken.

Der pakistanische Nationalismus und die Allmacht der Armee speisen sich aus der Rivalität mit Indien, die obendrein von der Innenpolitik ablenkt. Während die Junta ein Interesse am Bürgerkrieg in Kaschmir hat, hängt das Land finanziell am Tropf des Westens. Eingezwängt zwischen den USA und den Islamisten bleibt Musharraf wenig Spielraum.

Dem indischen Premier Vajpayee geht es kaum besser. Seiner BJP ist schon Kaschmirs verfassungsmäßiger Sonderstatus unerträglich. Die hindu-nationalistische Kadertruppe RSS, der Vajpayee und fast alle BJP-Funktionäre angehören (Jungle World, 28/00), verbreitet das Gerücht, Vajpayee verrate nationale Interessen, weil ihm der Friedensnobelpreis versprochen worden sei.

Trotz der Feuerpause hat die indische Regierung nicht klar erklärt, unter welchen Bedingungen sie mit wem verhandeln würde. Es könnte daher so aussehen, als solle die Waffenruhe nur die APHC spalten, deren Führer mehr als andere den Anspruch erheben können, die Bevölkerung zu vertreten. Die politische Sammlungsbewegung, in der einige ein unabhängiges, andere ein pakistanisches Kaschmir fordern, verlangt die Beteiligung Pakistans an Gesprächen. APHC-Führer, die Verhandlungsbereitschaft signalisiert haben, wurden von Hardlinern als Verräter gebrandmarkt und sind nun Attentatsversuchen ausgesetzt. Bei seinem Indien- Besuch am vergangenen Freitag lehnte UN-Generalsekretär Kofi Annan ein Treffen mit APHC-Führern ab; er signalisierte damit, dass er für die UN keine Rolle bei einer Lösung sieht, und ließ offen, inwieweit die Organisation die APHC anerkennt.

Auch die bewaffneten Gruppierungen sind uneins. Ein Führer der Hizbul Mujahideen rief alle Kämpfer zu einer Feuerpause auf. Verbände wie die Lashkar-e-Toiba versuchen hingegen, wie systematische Angriffe auf Armee und Polizei in den vergangenen drei Wochen klar gemacht haben, einen Frieden durch die Intensivierung des Jihad, des »heiligen Krieges«, zu verhindern.

Das ist dem politisch bankrotten Ministerpräsidenten Farooq Abdullah recht, der vielen als Statthalter Indiens gilt (Jungle World, 31/00). Seine National Conference ist in der Zentralregierung vertreten und konnte die Wahlen im Bundesstaat wohl nur wegen des Wahlboykotts anderer Parteien gewinnen. Eine Annäherung zwischen Delhi und der APHC könnte Abdullahs Ende einläuten, weshalb er offenbar versucht, den Konflikt anzuheizen. In den vielen Todesfällen in Polizeihaft seit der Waffenruhe sehen Kommentatoren keinen Zufall. Außerdem versucht Abdullah, mit Zahlenspielen zu beweisen, die einseitige Pause habe zu steigenden Opferzahlen geführt. Mit Erfolg: In der indischen Öffentlichkeit wächst der Widerstand gegen die gemäßigte Politik.