Meine Zeit in der Hölle IX

Der egalste Tag des Jahres

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Silvester, Silvester / da rappelt's im Kanester ... Nicht mal mehr die Reime sind wie früher. Inzwischen ist ja alles egal. Der Jahreswechsel, vor nicht wenigen Jahren noch feierlicher Anlass für abgründige Existenzbefragungen, bessere Vorsätze und gebügelte Abendgarderobe - er ist heute nur deshalb nicht »der egalste Tag des Jahres«, weil das noch zu viel der Aufmerksamkeit wäre. Wahrscheinlich bringt sich an diesem Tag sogar niemand mehr um. Es lohnt einfach nicht. Man muss nicht mehr sterben, um zu vergessen. Da kann man auch gleich leben bleiben.

Anders früher. Ein Freund von mir starb mal Silvester im Kino, ich glaube, bei »Jenseits von Afrika«, an Gehirnschlag. Mit 28 Jahren ist das, wie Rilke sagen würde, »ein Tod von guter Arbeit«. Ein anderer Freund wurde Silvester erschossen. Er war NVA-Soldat und gerade dabei, Schnaps in die Kaserne zu schmuggeln, als der Posten ihn aufforderte, stehenzubleiben. Er blieb nicht stehen. Während die MPi-Salve über den Kasernenhof knallte, stand ich am Fenster und hörte Alphaville »Forever Young«. Und ich kenne noch einen, der sich Silvester umbringen wollte, nachdem er sich selbst bei der Stasi als Staatsfeind angezeigt hatte, aber mit einem Augenzwinkern wieder nach Hause geschickt worden war. Er ging auf eine Brücke und sprang in den Fluss, blieb aber bis zum Hals im Schlamm stecken. Seitdem lebt er weiter.

Silvester war früher vor allem die Zeit der mysteriösen Malheurs. Mal verlor man einen Arm beim Bombenbasteln, mal brach man im Eis ein, weil man nachsehen wollte, ob die Fahrrinne schon zugefroren sei. Gern fiel man beim Versuch, die Regenrinne abzumontieren, vom Dach eines Hauses, oder man lag mit einer Methanolvergiftung im Krankenhaus. Direkt neben dem Krankenhaus befanden sich eine Psychiatrie und eine Unterkunft für Asylbewerber. Nachts drangen grässliche Schreie von Frauen an mein Ohr. Andere Länder hin, andere Sitten her, nur eine partielle Lähmung hinderte mich daran, die Polizei herbeizurufen. Das erzwungene Zugegensein bei einer Folter ist auch Folter.

Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass direkt unter meinem Fenster der Kreißsaal lag.

Früher war Silvester auch die Zeit der großen Sehnsüchte. Man sah im Fernsehen diese semischlüpfrigen Hier-geht-aber-die-Post-ab-Shows und dachte: Wow, da geht aber die Post ab. Das wirkliche, das echte Leben war im Fernsehen - oder immer woanders. Einmal lief ich Silvester von Ostkreuz bis zur Friedrichstraße, um von dort für 1 Mark 20 mit meiner Geliebten in London zu telefonieren. Ich hoffe sehr, dass die Stasi, wenn sie auch sonst nichts auf dem Kasten hatte, wenigstens dieses Gespräch mitgeschnitten hat.

Das alles ist so vorbei, wie es nur sein kann. Seit etlichen Jahren verbringe ich Silvester auf dem Land, wo vieles noch quasi wie früher ist. Tanzvergnügen, Krankenwagen und die Sehnsucht, anderswo zu sein. Diesmal war ich in Mecklenburg-Vorpommern, in der Nähe von Ludwigslust, wo ich eine sensationelle Ausstellung besuchte. Sie hieß »Das Geheimnis des zweiten Loches«. Es handelte sich nicht um einen hedonistischen Workshop, zu sehen waren 600 Sparschweine, die, wie es im Katalog hieß, »ihr Leben« lediglich der glücklichen Fügung verdanken, ein zweites Loch zu besitzen.

Dergleichen erbaut leise / auf ganz unversaute Weise.