Töten als Therapie

Mit der Freigabe der aktiven Sterbehilfe haben die Niederlande den Traum der Bioethik verwirklicht: Der Mensch darf endlich so sterben, wie er gelebt hat.

Die deutsche Öffentlichkeit war ehrlich entrüstet. »Entsetzt« über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe durch das Parlament in Den Haag zeigte sich die Deutsche Hospiz Stiftung, einen »schlimmen Tabubruch« witterte Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, und einen krassen Verstoß gegen das Medizinerethos diagnostizierte der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe. Man war sich einig, über Parteigrenzen und Standesschranken hinweg: Einen derart saloppen Umgang mit menschlichem Leben darf und wird es in Deutschland nicht geben, und die historische Erfahrung der NS-»Euthanasie« mag es begünstigen, dass sich eine geschlossene Abwehrkette jenseits aller politischen Koordinaten so schnell formierte.

Wenn die zweite Kammer des Parlaments in Den Haag diese Woche die entsprechende Gesetzesvorlage billigt, was als sicher gilt, wird es den Ärzten in Holland künftig erlaubt sein, schwer kranke Patienten, bei denen keine Aussicht mehr auf Heilung besteht, zu töten. Der legitime Wunsch nach aktiver Sterbehilfe ist aber nicht nur auf Todkranke im Endstadium beschränkt. Menschen, die um eine erst in späteren Lebensjahren ausbrechende Krankheit wissen, dürfen schon mal präventiv für den Ernstfall die ärztliche Tötung vereinbaren. Auch für Kinder ab zwölf Jahren und sogar bei psychisch kranken Menschen ist der schnelle Tod bei einem medizinisch nachvollziehbaren und ernsthaften Sterbewunsch vorgesehen. In diesem Fall muss ein Elternteil beziehungsweise ein Angehöriger in die Lebensbeendigung einwilligen.

Das neue Gesetz, das die bereits seit 1994 offiziell tolerierte Sterbehilfe nun formal legalisiert, sorgt in den Niederlanden nur in geringem Maß für Aufregung. Aktive Sterbehilfe wird von einer liberalen Öffentlichkeit in erster Linie als eine zivilisatorische Selbstverständlichkeit betrachtet, als die längst überfällige Ermächtigung freier Bürger, nun endlich auch frei über ihr Sterben entscheiden zu können. Die »Schöner Sterben«-Koalition aus Liberalen und Sozialdemokraten preist diesen Erfolg bioethischer Rationalität als ein Indiz für die fortgeschrittene Säkularisierung der Gesellschaft; die subtile Empfehlung an schwerkranke Patienten, die materiellen und emotionalen Ressourcen der Mitwelt zu schonen, als Stärkung der Individualrechte gegen Fundamentalismus und Lebensschutzdogmatik; die Ermächtigung des Arztes zur professionellen Sterbehilfe als einen Sieg der Patientenautonomie über den ärztlichen Paternalismus.

Der Mensch bleibt an seinem Lebensende, so die weit verbreitete Lesart, nicht länger hilflos einer zügellosen Medizinmaschinerie ausgeliefert, dem hemmungslosen Zugriff von Bio-Technokraten in weiß preisgegeben, einem blinden Schicksal überlassen. Nun kann er gegen seine Instrumentalisierung auf der Intensivstation jederzeit die Giftspritze wählen.

In dieser Perspektive erscheint die Legalisierung der Euthanasie quasi als ein therapeutischer Reflex auf den medizintechnischen Fortschritt, getreu der so kurzschlüssigen wie suggestiven Gleichung, viel Technik bedeute viel Leid und darum ein Minimum an »Lebenswert«. Weil diese abenteuerliche Rechnung mit dem gesellschaftlichen Wertekonsens beglichen wird, taugt sie überhaupt nur zur Popularisierung der Euthanasie. Die Freigabe der Sterbehilfe impliziert demnach die Realisierung eines sozialen Auftrags: Es geht um die Erweiterung der individuellen Freiheit - und nicht um die akute »Linderung« unerträglicher Schmerzen bei unheilbaren Krankheiten.

Es wäre lächerlich, die Euthanasie als medizinische Notlösung für medizinisch unlösbare Probleme, als ein »Therapeutikum« im engeren Sinne zu verstehen. Denn auf diese Weise entstünde ein müßiger Streit darum, welche Schmerzzustände den Patienten denn »objektiv« noch zumutbar seien und welche nicht mehr - und wie sich dies überhaupt bestimmen ließe. Die Sterbehilfe kann sich darum nicht als die ethische Entsprechung eines intensivmedizinisch indizierten »Tötungsbedarfs« legitimieren. Der behandelnde Arzt vermag kraft seines Erfahrungswissens stets nur die Entscheidung des Patienten als authentisch zu bestätigen, nicht aber die Präferenzen des Patienten zu korrigieren. Die unbedingte Anerkennung des Patientenwillens und seiner Wertvorstellungen, ohne Rücksicht auf die sozialen Folgekosten - dieser Konflikt markiert das Gravitationszentrum der ganzen Euthanasie-Debatte.

Von daher ist es nur folgerichtig, wenn im neuen Sterbehilfegesetz die Indikationen für eine Patiententötung zunächst noch viel weiter gefasst waren. Dem ersten Entwurf zufolge galten auch Lebensüberdruss sowie die Aussicht darauf, nicht mehr auf würdige Weise dem Tod begegnen zu können, als zulässige Gründe für eine Sterbehilfe.

Dies entspricht durchaus jener Logik der Leistungsgesellschaft, wonach sich das Sterben harmonisch in ein durch Prinzipien strukturiertes Leben integrieren lassen soll. Um dem Leben als Gesamtkunstwerk in seinem letzten Akt keinen Missklang beizumengen, soll der Mensch sterben dürfen wie er gelebt hat, und wer mag heute noch daran zweifeln, dass sinnvolles Leben nur aktives, selbstständiges und lustvolles Handeln bedeuten kann?

Das ungeschriebene Gesetz hinter der niederländischen Euthanasie-Regelung lautet: Immer eine gute Figur machen, auch am Ende des Lebens, dass sollte den Patienten ihren vorzeitigen Tod wert sein. Auf diese Weise wird die soziale Tiefenschicht der Euthanasie sichtbar. In den säkularen Gesellschaften liberalistischer Prägung ist das Recht auf Sterbehilfe nicht mehr und nicht weniger als ein selbstverständliches Element einer wertorientierten Lebensstrukturierung. Der schnelle, »würdige« Tod beschließt als Finalsatz eine Symphonie, die das Lob des produktiven, autonomen und zielorientierten Daseins intoniert.

Deshalb ist die niederländische Legalisierung der Euthanasie nicht jener Exzess liberaler Leichtsinnigkeit, als der er in vielen Medien gezeichnet wird, sie muss vielmehr zwangsläufig als ein Vorbild für andere Industriegesellschaften erscheinen, auch wenn heute die deutsche Öffentlichkeit noch abwehrend reagiert.

Das Töten sei keine ärztliche Aufgabe, betonte etwa Ärztekammerpräsident Hoppe in einer ersten Reaktion auf das neue Sterbehilfegesetz. Das ist gut gemeint, aber freilich etwas voreilig, und es trifft sich obendrein auch nicht mit der Euthanasie-Politik der deutschen Ärzteschaft. Schließlich wird in den »Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung«, die die Ärztekammer vor zwei Jahren verabschiedet hat, ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht der Patienten den ärztlichen Hilfs- und Fürsorgepflichten prinzipiell vorgeordnet.

In diesen Sterbehilfe-Grundsätzen sind lebensbeendende Maßnahmen für Schwer-, aber eben nicht Sterbenskranke vorgesehen. Auch aktuell entscheidungsunfähige Menschen, z.B. Komatöse oder behinderte Säuglinge, sollen sterben »dürfen«, wenn dies ihrem »mutmaßlichen Willen« entspricht. Dass die Ermittlung dieses mutmaßlichen Willens sich im Zweifelsfall an den Entscheidungsprinzipien der Bevölkerungsmehrheit orientiert, gilt als notwendiger Preis der neuen Freiheit. Das »Modell Niederlande« wird seine Nachahmer finden.