Wirtschaftspolitik in China

Krise bringt Krawall

Die rosigen Prognosen für die chinesische Wirtschaft haben sich erledigt. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt ebenso schnell zu wie die der Unruhen.

Chinas Zukunft sieht düster aus. Vor wenigen Jahren galt das Reich der Mitte als die Wirtschafts-Supermacht des 21. Jahrhunderts. Doch vorm Anbruch des neuen Jahrhunderts waren die rosigen Zukunftsprognosen bereits Makulatur. Vorbei die Zeiten, in denen Konzerne darauf hofften, bald 1,3 Milliarden Chinesen ein Auto und einen Fernseher andrehen zu können. Viele ausländische Investoren ziehen sich schon wieder enttäuscht aus China zurück oder halten lediglich durch, um weiter den Fuß in der Tür zu haben. Die meisten westlichen Unternehmen machen in China wesentlich geringere Gewinne als angenommen - oder sogar gar keine.

Die Liste der Beschwerden ausländischer Konzerne ist lang: Die Bürokratie wuchere, informelle Vereinbarungen machten erpressbar; vor allem Korruption und Rechtsunsicherheit würden ihnen zu schaffen geben; ausgeprägte Rivalitäten zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen führten dazu, dass sich Investoren praktisch ständig in einer rechtlichen Grauzone bewegten. Chinesische Konkurrenten würden technische Verfahren kopieren oder stehlen. Die Produkte chinesischer Zulieferer seien häufig von schlechter Qualität. Zudem steige der Absatz nicht so rasch wie erhofft.

Diese Faktoren vernichten den Bonus, den China bei den Investoren wegen des niedrigen Lohnniveaus hat. Zumal die Fortschritte in der Automatisierung die maschinelle Produktion oft billiger machen als Handarbeit, selbst bei den geringsten Hungerlöhnen. Viele Unternehmen bauen Fertigungsstätten lieber in Industrieländern, in denen sie qualifiziertes Personal finden und in denen Rechtssicherheit herrscht.

Ausländische Ökonomen sind zudem irritiert vom bevorstehenden Beitritt zur World Trade Organisation (WTO), da die Nachteile für China zu überwiegen scheinen. Wenn China WTO-Mitglied wird, werden Importe durch die Senkung der Schutzzölle erleichtert werden. Verbilligte Einfuhren verringern den Absatz inländischer Produkte, was die Arbeitslosigkeit weiter erhöhen dürfte.

Hinzu kommt, dass Japan, einer der beiden wichtigsten Abnehmer chinesischer Exportgüter, schwächelt. Spätestens wenn die derzeit extrem niedrigen Zinsen in Japan steigen, wird der Staat seine Konsumausgaben senken müssen, was die Konjunktur dämpfen und sich bei der Einfuhr chinesischer Waren negativ bemerkbar machen dürfte.

Doch nicht nur die ausländischen Investoren kehren China den Rücken, auch um die staatlichen Industriebetriebe ist es nicht gut bestellt. Ein großer Teil der vor allem in den Küstenstädten angesiedelten Firmen arbeitet nicht rentabel. Wegen der Überproduktion in einigen Branchen hat die Regierung vor einem Jahr veranlasst, dass für bestimmte Waren keine zusätzlichen Produktionskapazitäten geschaffen werden dürfen. Dies gilt vor allem für elektrische Haushaltsgeräte und Fahrräder. Ferner wurde die Vergabe von Baugenehmigungen für Bürohäuser, Hotels und Luxuswohnungen gestoppt. In der neuen Entwicklungszone Pudong in Schanghai beispielsweise waren Ende 1998 nur die Hälfte aller Büros belegt.

Obwohl die Staatsbetriebe in den letzten vier Jahren bereits rund 45 Millionen Arbeitsplätze eingespart haben - bei insgesamt 180 Millionen Arbeitskräften in der industriellen Küstenregion -, stehen weitere umfangreiche Kündigungen bevor. Den wenig glaubwürdigen amtlichen Statistiken zufolge beträgt die Arbeitslosenrate in China drei Prozent. Die FAZ hingegen spricht von »vielleicht 30 Millionen oder mehr« Beschäftigungslosen alleine in den Städten, was einer Rate von mindestens 20 Prozent entspräche. Jährlich kommen nach amtlichen Angaben fünf Millionen hinzu, denn von den zehn Millionen Entlassenen pro Jahr findet nur die Hälfte einen neuen Job.

Viele Arbeitsuchende drängen zudem in die Städte, denn auf dem Land, wo die Mehrheit der Chinesen lebt, sieht die Lage noch finsterer aus. Der ländliche Lebensstandard hat sich in den letzten Jahren nicht nur im Vergleich zum städtischen verschlechtert; auf dem Land sind die Einkommen sogar real gesunken. Während das durchschnittliche Einkommen in Schanghai 1998 mit 3 400 US-Dollar etwa dem türkischen entsprach, betrug es in der ärmsten Provinz, dem ländlichen Guizhou, nur 280 Dollar.

Noch dazu gehen der Pekinger Regierung die Mittel aus, um die Agrarproduktion weiterhin im bisherigen Umfang zu subventionieren; daher hat sie die Zuschüsse drastisch gekürzt. Die Bauern versuchten, den Einnahmeverlust zu kompensieren, indem sie mehr produzierten. Das aber ließ die Preise weiter fallen. Die gesunkenen Einkommen haben mittlerweile den Konsum der Landbevölkerung verringert. Das wiederum wirkte sich negativ auf die Nachfrage nach Industriegütern aus. Bisweilen ist zu lesen, dass mehr als 100 Millionen arbeitssuchende Chinesen durchs Land ziehen.

Die Verteilung der Einkommen innerhalb der Bevölkerung ist augenscheinlich noch ungerechter. Den offiziellen Angaben zufolge gehören den obersten drei Pozent der Bevölkerung zwei Fünftel der Bankeinlagen; für ein sich als sozialistisch bezeichnendes Land ein überraschender Wert.

Derartige Ungleichheiten fördern die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Seit einigen Jahren scheinen die Revolten zuzunehmen. 1997 sollen 10 000 lokale Unruhen gezählt worden sein. In den vergangenen zwölf Monaten registrierte eine Menschenrechtsgruppe aus Hongkong mehr als 110 000. »Aus den Provinzen häufen sich seit zwei Jahren Meldungen über Arbeiterproteste als Folge von Aussperrungen, Lohnzahlungsrückständen und ungenügender sozialer Absicherung«, meldete bereits vor einem Jahr die Neue Zürcher Zeitung.

Die Repressionen gegen die spirituelle Falun Gong-Bewegung (Jungle World, 49/99) seit dem vergangenen Jahr dürften - nicht zuletzt wegen der 1998 ausgebrochen Wirtschaftskrise - als Machtdemonstration der Pekinger Regierung und als Warnung an alle Oppositionellen zu verstehen sein. Die aggressivere Rhetorik gegenüber Taiwan in den letzten Monaten kann ebenso als Manöver zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen gewertet werden.