Bombenanschlag in Russland

Terror am Puschkin-Platz

Nach dem Bombenanschlag in Moskau werden mit der Operation »Wirbelsturm - Anti-Terror« mehr als 300 000 Polizisten in Bewegung gesetzt.

Kurz vor 18 Uhr, zur Hauptgeschäftszeit ging die Bombe hoch. Sie explodierte am Dienstag vergangener Woche in der stark frequentierten unterirdischen Passage des Puschkin-Platzes, mitten in Moskau. Die Folgen waren mörderisch: Bis zum Wochenende starben elf Menschen, mehr als 90 wurden verletzt.

Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow ging kurz nach dem Attentat in die Offensive: »Hundertprozentig sicher« sei er, dass es eine »tschetschenische Spur« gebe. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB verhaftete am Mittwoch zwei Männer, die nach seinen Angaben aus Dagestan und Tschetschenien stammten; sie wurden am gleichen Tag wieder freigelassen. Einige Männer aus Wladimir Schirinowskis ultranationalistischer Truppe LDPR demonstrierten mit einem Banner, auf dem zu lesen stand, dass »ein guter Tschetschene ein toter Tschetschene« sei.

Die Polizei verbreitete Phantombilder von drei angeblich Verdächtigen, zwei davon mit »kaukasischem« Aussehen. Weil auch noch der stellvertretende Bürgermeister Aleksandr Musykanski meinte, die Moskauer sollten verstehen, dass sie in der »Hauptstadt eines Landes im Krieg« lebten und sich entsprechend zu verhalten hätten, befürchtet nun die tschetschenische Diaspora in Moskau eine neue Welle behördlicher Schikanen und Diskriminierungen.

Präsident Wladimir Putin erklärte zwar am Mittwoch, es sei falsch, »ein ganzes Volk zu ächten. Kriminelle haben weder Nationalität noch Religion.« Aber, so Putin weiter, in Tschetschenien würden noch immer Terroristen ausgebildet, die man in ihren Schlupflöchern töten müsse.

Der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow sagte, weder die regulären tschetschenischen Streitkräfte noch die Geheimdienste noch die Warlords hätten etwas mit der Explosion zu tun. Im Juni hatten verschiedene »Kamikaze»-Angriffe in Tschetschenien stattgefunden, die sich aber gegen die russische militärische Infrastruktur richteten.

Bis zum Wochenende gab es von den Tätern keine Spur - trotz einer aktivistischen Großfahndung mit dem Namen »Wirbelsturm-Antiterror«, an der landesweit nach Angaben des Innenministers Wladimir Ruschailo 310 000 Polizisten und 5 000 Spürhunde beteiligt sind. Putin forderte am Samstag auf einer Sitzung mit den Spitzen der Ministerien für Inneres und Äußeres sowie des Inlandsgeheimdienstes FSB mehr Effektivität bei den Ermittlungen.

Offiziell verfolgen die Ermittler inzwischen drei Spuren. Nach Angaben des Vize-Innenministers Wladimir Koslow könnte der Anschlag von tschetschenischen Extremisten verübt worden oder Folge eines Kampfes krimineller Banden um Einflusssphären in Moskau sein; zudem komme ein Auftragsmord an einer der getöteten Personen in Betracht. Niemand, so Koslow, habe sich bislang zu dem Anschlag bekannt.

Die Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta glaubt zu wissen, dass mindestens einer aus dem Bombenanschlag seinen Vorteil ziehen kann: Wladimir Putin. Nun, so argumentiert die Zeitung nach Angaben von BBC, sei jeder Verdacht zerstreut, Putin habe etwas mit den Anschlägen auf die Wohnhäuser im vergangenen Spätsommer zu tun gehabt, die eine nationalistische Welle und starke Unterstützung für einen erneuten Feldzug in Tschetschenien zum Resultat hatten.

»Die Medien und einige Politiker im Westen sprachen offen ihren Verdacht aus, dass die Geheimdienste hinter den terroristischen Akten in Russland standen«, so die Zeitung. Ein »kleiner, siegreicher Krieg« habe demnach dem damaligen Premier Putin den Weg zur Präsidentschaft geebnet. Die Explosion am Puschkin-Platz aber habe »jede Spekulation in dieser Hinsicht zerstreut«. Absurderweise fügte die Zeitung hinzu, dass »die Unterstützung der Öffentlichkeit für militärische Aktionen in ähnlichen Situationen stark ansteigt»; man könne sich »vorstellen, wie die Reaktion der Öffentlichkeit nach den Ereignissen am Dienstag« aussehen werde.

Bei den Attentaten auf Wohnhäuser in ganz Russland im vergangenen September waren fast dreihundert Menschen getötet worden. Am 14. September, dem Tag nach dem zweiten Attentat in Moskau, erklärte der damalige Vize-Minister des Innern, Igor Subow, man könne nun ohne jeden Zweifel sagen, dass Bassajew und Khattab - zwei tschetschenische Warlords - hinter den Anschlägen ständen. Bis heute allerdings sind die Ermittlungen, wenn überhaupt noch welche laufen, zu keinem Ergebnis gekommen, und die Widersprüche hinsichtlich des benutzten Sprengstoffs - Hexogen oder etwas anderes - und der Verhafteten sind unter den Teppich gekehrt worden. Unvergessen ist auch die peinliche Schlappe für den FSB in Rijsan, wo der Geheimdienst selber Säcke mit Sprengstoff in einem Wohnhaus platzierte - angeblich, um die Wachsamkeit von Bewohnern und Behörden zu testen.

Für den so genannten Oligarchen Boris Beresowski, der von seinen Gegnern ebenfalls mit diesen Attentaten in Verbindung gebracht wurde, scheint der neue Anschlag eine Gelegenheit, seine »konstruktive Opposition« zur Politik des Kreml voranzutreiben: »Es wird weitere Attentate geben, wenn die Politik, die darin besteht, die Rebellen in ihren Schlupfwinkeln zu töten, weitergeht«, erklärte er auf einer Pressekonferenz. »Denn 700 000 Tschetschenen sind heute in Russland verstreut.«

Erneut rief er dazu auf, mit den Tschetschenen zu verhandeln, und wandte sich gegen das »autoritäre Regime«, das Putin installiere. Bereits am 8. August war ein Appell zur Gründung einer gesellschaftlich-politischen Bewegung unterzeichnet worden, auch vom Mitglied der Wissenschaftsakademie Aleksandr Jakowlew, dem »Vater der Perestroika«. Für Beresowskis Gegner ist das aber nur ein hilfloser Versuch des vom Kreml längst marginalisiserten Magnaten, seinen politischen Einfluss durch Angriffe auf die Regierung zu behaupten.

Der neue Anschlag in Moskau traf fast auf den Tag genau mit einem bemerkenswerten Jubiläum zusammen: Am 9. August vergangenen Jahres hatte der damalige Präsident Boris Jelzin den damals fast unbekannten Putin als seinen möglichen Nachfolger präsentiert. Getragen von einer Welle des Nationalismus konnte Putin sich auf den Präsidentensessel schwingen. Zwölf Monate und einen Tschetschenien-Krieg später baut Putin scheinbar unaufhaltsam seine Macht aus. Und die ist auf der Basis der Verfassung, die sich Jelzin 1993 auf den Leib geschneidert hat, ohnehin außerordentlich groß.

Die wirklichen Auseinandersetzungen werden nicht in den Institutionen oder den politischen Parteien ausgetragen, sondern in einem undurchschaubaren Dickicht zwischen dem Kreml und seiner mächtigen Präsidialverwaltung, den so genannten Gewaltministerien (Inneres, Verteidigung, FSB), den regionalen Mächten und schließlich den so genannten Oligarchen, den 20 einflussreichsten Kapitaleigentümern.

Die Ambitionen des Kreml scheinen sich insbesondere auf die Kontrolle der Medien zu richten. Zunächst war am Medientycoon Wladimir Gussinsky, der es gewagt hatte, die Kreml-Politik halbwegs kritisch zu beleuchten, ein Exempel statuiert worden. Ihm hatte der russsische Staat die Instrumente seiner »Diktatur der Gesetze« gezeigt: Die Büros seiner Media-Most-Gruppe wurden von vermummten Spezialeinheiten durchsucht, drei Tage lang saß Gussinsky in einem berüchtigten Moskauer Gefängnis, und die Behörden nahmen die Beziehungen zu seinem Kreditgeber, dem Erdgas-Giganten Gazprom, unter die Lupe. Dann wurden die Ermittlungen gegen Gussinsky plötzlich eingestellt und das Ausreiseverbot wurde aufgehoben.

Prompt besuchte Gussinsky seine Verwandten in Spanien. Das gab er zumindest als Grund für seine beschleunigte Ausreise an. Vorvergangene Woche hat der Kreml nach Angaben der Moscow Times Erklärungen des Inhalts publik gemacht, die Übernahme von Gussinskys TV-Netzwerk NTW durch Gazprom sei fast perfekt.