Filme ohne Film

Ideal: Digital

Wim Wenders, George Lucas und Michael Ballhaus wollen digitales Kino machen. Warum sollten sie eigentlich?

In neun Minuten erzählt Regisseur Sur Turhans Kurzfilm »Gone Underground », was mit Leuten passiert, die in der U-Bahn der Zukunft die Hinweisschilder nicht beachten: etwas Unangenehmes und Blutiges. Menschen, die mit Film ihr Geld machen, haben wohl Angst vor einem ähnlichen Ende. Deshalb fördern Kirch, Sony, Avid, Arri und die Media!AG fleißig den Kurzfilm und pilgern zahlreich zur Premiere nach München. Über den Film redete da niemand. Es gibt streng genommen auch keinen. Denn »Gone Underground« ist der erste komplett digital gedrehte, produzierte und projizierte - nun ja, Film.

Die verwendete Technik ist schwer zu beschreiben und heißt deshalb wohl kryptisch 1 080/24p. Die 1 080 bezeichnet die bei der Bildaufzeichnung und -wiedergabe erzielte Zeilenzahl. 1 080 Stück mit jeweils 1920 Pixeln. Macht zusammen knapp 2,1 Millionen Pixel, das ist fast so gut wie herkömmlicher Film (2,3 Millionen Bildpunkte). Die 24p im Namen des Standards stehen für 24 Vollbilder, die pro Sekunde aufgezeichnet werden, ebenso viele wie bei traditionellen Filmkameras. Warum aber sollten Filmemacher überhaupt den Standard wechseln? Sur Turhan, Regisseur von »Gone Underground« will sich nicht festlegen: »Die grundsätzlichen Bedenken sind durch die sehr guten Möglichkeiten der Postproduktion, vor allem der Farbkorrektur, ausgeräumt. Der Look liegt irgendwo zwischen Video und 35 mm.«

Postproduktion sieht mit dem bisher gebräuchlichen analogen Material so aus: Die ersten Abzüge vom Ton- und Bildoriginal ergeben die Muster. Die werden ausgewählt und zu einer Arbeitskopie zusammengestellt. Die wird zum Roh- und endgültigen Feinschnitt geschnitten. Am Ende wird dann anhand des Timecodes der Arbeitskopie das Originalnegativ zum Negativschnitt zusammengefügt.

Beim digitalen Material bleibt einem das Kopierwerk zunächst vollständig erspart. Farbkorrektur ist dabei nur eine Möglichkeit digitaler Bildbearbeitung. Es gibt heute kaum Filme, die ohne diesen Arbeitsschritt auskommen. Selbst Wim Wenders Dokumentarfilm »Buena Vista Social Club« wurde nachträglich bearbeitet. Wenders hatte auf dem DigiBetacam-Format von Sony - einer Art Video-Vorläufer von 1 080/24p - gedreht.

Gerade bei kleineren Produktionen - wie Dokumentationen oder Independent-Filmen - fallen die Kostenvorteile des digitalen Standards ins Gewicht. 55 Minuten Band für die HDW-F900-Kamera kosten nur 195 Mark, bei kleinen Qualitätsabstrichen kann man sich sogar zusätzliche Tonaufnahmen sparen, da Bild und Primärton bereits synchron auf einem Band laufen.

Wenders will angeblich im Herbst die Arbeit an einem Film mit dem neuen Sony-Format beginnen. Bedeutet also digitales Kino bessere Bedingungen für den Independent-Film? Nicht unbedingt. Wie groß die Kostenvorteile bei der Produktion sein werden, ist noch nicht zu sagen. Was man an Kosten für Material und Kopierwerk einspart, kann auch für die Kamera wieder draufgehen. Außerdem macht 1 080/24p digitale Bildbearbeitung zwar einfacher und billiger, zugleich aber auch fast schon unverzichtbar, zum Beispiel um Darstellungsprobleme bei sehr feinen Strukturen zu korrigieren.

George Lucas wird »Star Wars Episode II« komplett mit einer Sony HDW-F900-Kamera auf 1 080/24p-Standard drehen. Anfang des Jahres ließ er Probeaufnahmen parallel auf analogem 35-mm-Material und 1 080/24p-Standard machen. Im März sah sich das Team beide Versionen im Kino der Skywalker Ranch an. Für Lucas stand fest: »Der Look und das Gefühl eines Kinofilms sind auf dem digitalen 2P-System vollkommen. Die Bildqualität ist auch auf der großen Leinwand nicht zu unterscheiden.« Für ihn steht fest, dass die Entwicklung in Richtung digitales Kino geht. Und er möchte dabei sein: »'Star Wars Episode II' wird unser erster großer Schritt sein, dieses System in den kommenden Jahren zu verbessern.«

Verbesserungen sind auch nötig. Bei »Gone Underground« sehen zwar auch kritische Szenen wie Zigarettenrauchen in mattem Gegenlicht gut aus, aber bei extrem fein strukturierten Oberflächen hat man Probleme. Kameramann Michael Ballhaus (»Dracula«, »Good Fellas«, »Die letzte Versuchung Christi«) ist aber überzeugt, dass digitales Kino sich auf lange Sicht durchsetzen wird: »Der klassische Film ist noch lange nicht tot. Ich denke, es wird ein langes Nebeneinander von digitalem Film und Zelluloid geben. Die Qualität wird sich steigern und langfristig setzt sich dann das E-Cinema durch.«

Da werden Filmstudios und Verleiher kräftig mithelfen. Sie haben das größte Interesse am digitalen Standard, denn 1080/24p ist die ideale Basis für alle Verwertungsarten: Kopien für analoge Filmprojektoren, Fernseh-Sendebänder für alle Standards wie PAL, NTSC und Secam und vor allem die digitale Projektion.

In München war »Gone Underground« bei der Vorführung fürs Fachpublikum im Royal Filmpalast, dem ersten europäischen E-Cinema, zu sehen. Der Projektor erzielt fast zwei Millionen Pixel vom Band. Leuchtkraft, Farbsättigung und Auflösung des digitalen Projektors sind fast dem analogen 35-mm-Film ebenbürtig. Ein weiterer Vorteil: Herkömmliche Filmkopien haben schon nach zehn Aufführungen wegen Kratzern eine deutlich schlechtere Qualität als bei der Erstverwendung. Wenn ein Film reißt, werden manchmal Teile einer Szene rausgeschnitten. Bei digitalem Material sieht man immer die Originalfassung, im besten Fall - falls nicht die FSK dazwischengeht - so, wie sie der Regisseur am Schneidepult absegnete.

Aber noch zögern Kinobesitzer, 200 000 Mark für die neuen Projektoren auszugeben - die analogen kosten nur um die 30 000 Mark. Aber die Verleiher werden gewiss darauf drängen. Immerhin kostet sie eine herkömmliche Kopie 4 000 Mark. Dazu kommt die Gefahr, dass zwischen Kopierwerk und Kino Raubkopien auf Video gezogen werden. Bei Bändern, auf denen 1 080/24p-Filme für digitale Projektoren geliefert werden, sind die Transportkosten zudem deutlich niedriger. Die verschlüsselte Satellitenübertragung vom Verleiher- auf den Kinoserver, wie sie für die nahe Zukunft geplant wird, soll Raubkopien unmöglich machen. Insgesamt wird die neue Technik die Flexibilisierung des Kinos weiter forcieren: Wenn bis Samstag kaum jemand den neuen Oliver-Stone-Film sehen wollte, kommt halt kurzfristig Wolfgang Petersen.

Auch die kleineren Filmkunsttheater, die nicht auf populäres Kino setzen, werden dies langfristig zu spüren bekommen. Sie werden wohl noch mehr Zuschauer an Multiplexe verlieren, die mit besserer Qualität und vielfältigen Programmen den Markt besetzen. Andererseits erleichtert die digitale Projektion es den Filmkunsttheatern, ihre Programme zusammenzustellen. Filme werden mittelfristig über Satellit viel leichter, schneller und günstiger zu beschaffen sein. Eine Retrospektive mit Originalen anlässlich des neuen Scorsese-Films wird kein Kraftakt mehr sein, wie dies heute noch der Fall ist. 1 080/24p kann also durchaus positiv für Independent- Produktionen und Kinos sein. Es ist ja unwahrscheinlich, dass digitale Projektoren in zehn Jahren immer noch 200 000 Mark kosten.

Zwischen einem und drei Jahrzehnten geben Filmemacher ihrem alten Medium. Schaut man sich »Gone Underground« an, ist E-Cinema nur noch eine Frage weniger Jahre technischer Entwicklung und vor allem der Investitionsbereitschaft der Kinobetreiber. Und der Film? Für den bedeutet das neue Medium wenig. Im Vergleich zum Futurismus von »Matrix« und der Nichtweltlichkeit von »Tuvalu« sieht »Gone Underground« ziemlich altbacken aus.