»Mut zum Risiko«

Das Whoosh des Windes

Bilder, die keine Fragen stellen: Mit dem Imax-Hochleistungskino ist der Film zurück im Varieté der Pioniere.

Du paddelst noch weiter hinaus. Die letzten Wellen hast du schon ausgelassen, das war schwer genug. Versuch mal, den brechenden Kamm einer zehn Meter hohen Welle zu untertauchen. Mit deinem Brett. Du musst höllisch aufpassen, den Sog und die Bewegung des Meeres mit deinem Körper lesen. Dann bildet sich langsam ein neuer Berg und saugt dich an. Es hat eine Verschiebung im Rhythmus der Wellen gegeben, eine Pause, dir läuft ein Schauer über den Rücken, du spürst, dass es genau diese Welle sein wird, auf die du drei Tage gewartet hast.

Jetzt. Die Welle wird immer größer und stärker und mächtiger, du siehst, dass du es schaffen wirst, paddelst noch einen Schlag nach vorne, dann wendest du, jetzt ist der Sog so stark, dass du aufs Brett klettern kannst, dann wirst du plötzlich hochgehoben und immer höher und höher, du kannst über die ganze Bucht und den Strand von Waima Bay sehen, sogar bis dort, wo du dein Auto geparkt hast. Aber das alles interessiert jetzt nicht, denn jede Zelle deines Körpers ist in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Sie klammern sich in angstvoller Erregung aneinander. Die Zellen.

Deine Drüsen spritzen einen Stresshormon-Cocktail in deine Blutbahn, und dieser ganze Scheiß setzt deine Hirnrinde innerhalb des Bruchteils einer Sekunde außer Betrieb, und alles, was du in den nächsten acht Sekunden tun wirst, wird kontrolliert vom archaischen Teil deines Hirns, und dieser Bereich ist bei dir auch nicht weiter entwickelt als bei einem Aal, aber genau hierfür, für diese acht Sekunden, tust du es: Whoosh, zischt dir der Wind um die Ohren und alles um dich herum ist blau. Und Aaah und Oooh.

Wenig später hängst du in einem gefrorenen Wasserfall achtzig Meter über den Felsen irgendwo in den Rocky Mountains. Deine innere Stimme sagt, dass du hier, in der Einsamkeit der Berge zu dir selbst finden kannst, ein Adler schwingt langsam über dir in unendlicher Zeitlupe durchs Bild, du hörst Indianergesänge und Harfen und Basstrommeln, schaust dich um und suchst nach den Indianerchören, aber du kannst sie nirgendwo entdecken. Aber diese kleine Sekunde der Unaufmerksamkeit hat schon gereicht, und jetzt geht es abwärts. »Scheiß Indianerchöre!« denkst du noch, bevor du unten aufschlägst.

*

»Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof« zeigten die Brüder Lumière in der historischen öffentlichen Vorstellung am 28. Dezember 1895 im Grand Café auf dem Boulevard des Capucines in Paris. Es war der Beginn der Filmgeschichte. Panik soll ausgebrochen sein, als das ahnungslose Publikum plötzlich einen Zug auf sich zurasen sah und es für einen Augenblick vergaß, dass es sich in einem umgebauten Tanzsaal befand.

Hundert Jahre später arbeitet das Kino noch immer mit großem technischen Aufwand daran, den Zuschauer zurückzuversetzen in den Zustand kindlichen Staunens. Es hat sich seit seinen Anfängen an zwei unterschiedlichen Formprinzipien orientiert; das dokumentarische Kino mit der Faszination, ein Spiegelbild der Welt zu liefern, wofür die beiden Lumières stehen, und auf der anderen Seite das Kino der inszenierten Geschichten, der Dramen und der Träume, für das der vom Theater kommende Kinozauberer Georges Méliès steht. Daneben findet sich aber noch ein drittes Element, für das ich keinen richtigen Begriff finden kann, dessen sich aber jeder Film in unterschiedlichem Maß bedient. Es ist das Element der direkten, sinnlichen cinematografischen Evidenz: Die Dunkelheit des Kinosaals, das Leuchten der Projektionsfläche, die Röte eines Rots, der Moll-Akkord einer Filmmusik, das Whoosh eines vorbeifliegenden Pfeils und der Schwermetall-Crashsound einer Action-Szene. Vielleicht kommt man diesem Bereich tatsächlich mit Begriffen aus der Musik-Theorie am nächsten, aber kann man beschreiben, was eine Bach-Kantate mit einem anrichtet, wenn man sie musikgeschichtlich herleitet?

Die Imax-Kinos mit ihren gekrümmten Leinwänden, hyperscharfen Projektionen, steil ansteigenden Sitzreihen und avantgardistischen Sound-Systemen lösen das Versprechen von Unmittelbarkeit am besten ein. Ihre kuppelförmigen Architekturen erinnern ja schon von Weitem an den Bauch einer Schwangeren und laden zur radikalen Regression ein. In dem Film »Extreme - Mut zum Risiko«, der gerade im Discovery Channel Imax am Potsdamer Platz angelaufen ist, sieht man Surfer, die auf 15 Meter hohen Wellen surfen, Bergsteiger, die gefrorene Wasserfälle hoch klettern, Freeclimber, die ganz ohne Hilfsmittel Felsnadel-Spitzen im Monument-Valley erklimmen, um dann oben auf einem badetuchgroßen Plateau zu picknicken, und Snowborder, die sich mit Hubschraubern auf Alaska-Gipfel bringen lassen, um steilste Abhänge hinunterzubrettern. Oder zu fallen.

Der rekordsüchtige sportive Selbsterfahrungsblödsinn der neunziger Jahre, dessen Bilder wir aus unzähligen Reklamen abgespeichert haben, ist hier wie auf einem Sampler vertreten. Um Sport geht es dabei weniger und um die Sportler eigentlich auch nicht, und nichts ist zu sehen von der Mühsal der Ebene, den Vorbereitungen und den Techniken. Hier ist ein Höhepunkt an den anderen gereiht wie in einem Porno, in dem nur gefickt wird. Exakt in dem Augenblick, in dem die Welle über dem Surfer zusammenschlägt, erfolgt der Schnitt, und es geht wieder von vorne los.

Dazu hören wir die Art von Musik, mit der auch ein ZDF-Sportreporter seine Impressionen vom Windsurf-Wettbewerb vor St. Peter Ording illustriert. Gute, laute, funktionale Musik, deren Beats unseren Herzschlag beschleunigen, deren Melodie-Linien ein paar Drüsen dazu bringen, Serotonin auszuschütten und deren Stammes-Chöre, die irgendwo in uns gespeicherte Erinnerung an die Zeit hervorrufen soll, in der irgendwie noch alles in Ordnung war.

Pornomusik und Drogenkino: Nichts von dem, was wir hier 40 Minuten lang sehen oder hören, darf eine Idee haben oder eine Frage stellen. Nichts ist originell, aber das macht nichts, denn genau das darf und soll es nicht sein, denn jeder Klang und jedes Bild, dass hier aus unserem Gedächtnis und unserem Unbewussten abgerufen wird, soll sich ohne Unterbrechung an das nächste kleben und einen projektiven Flow erzeugen, der den Zuschauer aufs Surfbrett oder in die Eiswand katapultiert. Selbst wenn er übergewichtig ist. Das funktioniert, und ist genau so blöd, wie es großartig ist. Man könnte sogar sagen, dass die Großartigkeit dieses Films geradezu von seiner schlauen und eleganten Doofheit generiert wird.

»Extreme - Mut zum Risiko«, Discovery Channel Imax, Marlene-Dietrich-Platz 4, Berlin