Antideutsche Realpolitik

Formen plumper Vereinnahmung

Mit Hannah Arendt antideutsche Realpolitik zu verteidigen, ist ärgerlich.
Eine Replik auf Klaus Thörner.

In dem Artikel »Antideutsche Realpolitik« (konkret, 1/00) und in dem Dossier »Birth of the Nations« (Jungle World, 3/00) haben wir den Aufruf Jürgen Elsässers zur Verteidigung der Staatsbürgernationen (konkret, 12/99) kritisiert und für eine Perspektive jenseits realpolitischer Bündnisse plädiert.

In Jungle World (14/00) ist nun ein Dossier erschienen, das sich mit den Gesellschaftsanalysen Hannah Arendts beschäftigt. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, ließen der Titel und der Vorspann nicht etwas anderes erwarten. »Staat und Blut«, steht über Thörners Text, und der Vorspann konkretisiert: »In der Auseinandersetzung mit der Herrschaftskritik der gruppe demontage (...) kritisiert Klaus Thörner die Reduktion des Staates auf ein Gewaltverhältnis zur Regulierung von Kapitalinteressen. Das Beispiel Jugoslawien zeige, wie die Auflösung von Staatlichkeit zu Terror, Willkürherrschaft oder einem Volksgruppenrecht führe, in dem sich niemand mehr auf Individualrechte berufen könne.«

Es geht uns an dieser Stelle nicht um eine Auseinandersetzung mit Thörners Interpretation der Analysen Hannah Arendts. Die Art und Weise, wie sozialwissenschaftliche Einrichtungen wie etwa das rechtskonservative Dresdner ArendtóInstitut oder das linksliberale Oldenburger ArendtóZentrum Hannah Arendt für ihre Anliegen instrumentalisieren, wird von Thörner zu Recht kritisiert.

Dass er allerdings Arendt benutzt, um damit linke Analysen ó unsere Kritik an Elsässers antideutscher Realpolitik ó autoritär abzukanzeln, wirkt besonders plump: Die Argumentation der gruppe demontage »lässt sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Arendts über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nicht halten«, schreibt Thörner. Sein Versuch, mit Arendts Autorität im Rücken die Position Elsässers zu stärken, ruft bei uns Widerspruch hervor, weil er uns nahezu ausnahmslos Aussagen und Argumente unterstellt, die wir in dieser Form nie geäußert haben und weil er angeblich Schlussfolgerungen vermisst, die wir an anderer Stelle gleich mehrfach vorgetragen haben.

Thörners Argumentation zur Debatte um Staatsbürgernation versus Blutsvölker lässt sich so zusammenfassen: Wichtiger Bestandteil der Entwicklung totaler Herrschaft sei nach Arendt die Verwandlung von »Nationen in Rassehorden. Darüber hinaus unterschied Arendt deutlich zwischen der republikanischen und völkischen Form des Nationalismus und demonstrierte dies am Beispiel Deutschlands und Frankreichs.« Diese Differenzierung gelte bis heute.

Angesichts des Jugoslawienkriegs sei diese Differenz »ein Unterschied ums Ganze»: »Die von der gruppe demontage und einem großen Teil der linksradikalen Szene vorgenommene reduktionistische Analyse des Staates als Gewaltverhältnis zur Regulierung verschiedener Kapitalinteressen verkennt, (...) dass seit der Französischen Revolution einzig der Staat als Instanz fungiert, die Rechte setzt und eben auch garantiert.« Diese Rechte gelten bislang nur für Staatsbürger. »Eine Auflösung der Staatlichkeit, die laut demontage so beiläufig und wurstig hinzunehmen ist, führt, wenn sie nicht am Ende einer Weltrevolution steht, die weit und breit nicht in Sicht ist, zu Terror, Willkürherrschaft oder einem Volksgruppenrecht, in dem sich niemand mehr auf Individualrechte berufen kann.«

An diesen Ausführungen über unsere Aussagen ist vieles ärgerlich, einiges verwunderlich und so gut wie nichts wahr. Richtig wiedergegeben ist einzig unsere Skepsis gegenüber einer vermeintlich klaren Trennungslinie zwischen angeblich verteidigenswerten Staatsbürgernationen und verachtenswerten Blutsbanden. Dass uns Thörner unterstellen möchte, wir hielten es für Unsinn, zur Verteidigung »der staatlichen Souveränität etwa Frankreichs und Jugoslawiens gegenüber dem deutschen Ziel einer Separierung von Staaten in Stammesverbände aufzurufen«, ist ärgerlich.

Verwunderlich finden wir dagegen zweierlei: Thörner schreibt, dass wir wie große Teile der linksradikalen Szene den Staat allein als »Gewaltverhältnis zur Regulierung verschiedener Kapitalinteressen« begreifen würden. Wir haben in der Vergangenheit vielfach unsere Kritik an rein ökonomistischen Analysen vorgetragen und darauf verwiesen, dass Staat immer hinsichtlich der Regulation sämtlicher Vergesellschaftungsprozesse und politischer Kräfteverhältnisse zu analysieren sei. Rassistische Zuschreibungen und die Einó oder Ausschließung aus völkisch oder national definierten Gemeinschaften ist einer dieser Regulationsmechanismen.

Wir haben auch an keiner Stelle behauptet, Staatlichkeit würde sich auflösen. Vielmehr gehen wir davon aus, dass sich die Funktion der Nationalstaaten in einer Weise verändert, die geradewegs zu den Verteilungskämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre führt. Dazu steht einiges im Dossier »Birth of the Nations«, so am Anfang des letzten Abschnittes »Antideutsche Realpolitik«. Ausführlich nachzulesen ist dies auch in unserem Buch »Postfordistische Guerilla. Vom Mythos nationaler Befreiung«.

Erstaunlicher noch finden wir Thörners Belehrung zu republikanischem und völkischem Nationalismus. Der Vorwurf, wir würden hierzu keine Differenzierung vornehmen und sämtliche Nationen und Nationalismen über einen Kamm scheren, ist absurd. Thörner ignoriert somit unsere Ausführungen zu Jugoslawien in »Birth of the Nations« sowie unsere Artikel in Jungle World. Seit dem Erscheinen von »Postfordistische Guerilla« bieten wir mit einer Unterscheidung in völkische und republikanische Nationalismen, die wir am Beispiel verschiedener Befreiungsbewegungen veranschaulicht haben, bundesweit Anlass für Debatten und Kritik. Auf Thörners Kritik an diesem Hauptthema unseres Buches sind wir gespannt.

Die entscheidende Frage in der aktuellen Debatte ist nicht, wie Thörner meint, ob man eine Unterscheidung trifft oder nicht, sondern, ob man die eine Form nationaler Grenzziehung positiv bewertet, während man die andere als Bedrohung wahrnimmt. Je nach Beantwortung der Frage ergeben sich sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen für die politische Praxis.

Thörner schreibt von »Rassehorden« ó wie erklärt es sich, dass ein Linker ohne Anführungszeichen von »Rasse»óHorden spricht und damit eine biologistische Essenz vorauszusetzt? ó, welche die Staatsbürgernationen bedrohten. Eines seiner Beispiele: »Baskische Separatisten« bedrohten Spanien. Dabei verkennt er, dass eben diese Staatsbürgernation durch jahrzehntelange Ausgrenzung einer größeren Gruppe von Menschen die Situation geschaffen hat, in der soziale Konflikte ó wie in zahlreichen anderern Ländern auch ó ethnisiert wahrgenommen und ausgetragen werden. Udo Wolter hat dies in »Birth of the Nations« am Beispiel Türkei ó Kurdistan ausführlich dargelegt. Diese Ausführungen hat Thörner geflissentlich ignoriert.

Wie kommen Linke wie Klaus Thörner, die sich sonst in der Pose antideutscher Fundamentalopposition gefallen, auf die Idee, Nation und Staat als Garanten einer Ordnung zu verteidigen, die die Ausgrenzung einer großen Gruppe von Menschen aus dieser Ordnung erst hervorbringt, und diese Menschen für den Versuch, ihre Situation zu verbessern, auch noch zutiefst zu verachten? Als wäre Frankreich, wie Thörner ausführt, im Vergleich mit dem völkischen Deutschland nur etwas chauvinistisch und hätte nicht in Algerien von 1830 bis 1962 mit einem überaus gewaltförmigen, rassistischen Kolonialismus eine wesentliche Grundlage für den brutalen Bürgerkrieg gelegt, der heute in Algerien stattfindet.

Frankreich hat durch seine koloniale Herrschaftspolitik in Algerien nach völkischen Ausschlusskriterien Menschen ethnisiert: Etwa als Kabylen gegen Araber. Diese dem Konzept der Nation immanenten Mechanismen lapidar damit abzutun, Individualrechte seien »bisher nur mit einem legalen Status« garantiert, stört uns bei Thörner. Das Problem der nationalen Einó und Ausschließung hat, nebenbei bemerkt, Hannah Arendt durchaus ausführlicher problematisiert, als wir dies in der Interpretation Klaus Thörners wiederfinden.

Wir können uns den Aufruf zur Verteidigung westlicher kapitalistischer und »zivilisierter« Metropolenstaaten nur aus einem Gefühl der Ohnmacht vieler radikaler Linker erklären, das durch die zunehmende Marginalisierung radikal linker Positionen entsteht. Uns scheint dieser Aufruf der Versuch zu sein, sich an ein Ordnungsprinzip von Gemeinschaften zu klammern, das immerhin für privilegierte Teile dieser Gemeinschaften, die StaatsbürgerInnen, Gültigkeit hat. Den Versuch, linke Positionen wieder politikfähig zu machen, die Bündnisse mit vermeintlich antideutschen Parteien und Staatseliten anderer NatoóStaaten (und Russland) anstreben, haben wir als antideutsche Realpolitik bezeichnet. So wie Thörner von »Rassehorden« spricht, kokettiert er mit Bündnispartnern, die ihre Privilegien und die soziale Ungleichheit auf dem kapitalistischen Weltmarkt rassistisch rechtfertigen.

Für uns heißt Kritik an Deutschland aber auch, den eigenen sozialen Ort und die eigenen Privilegien mitzudenken. Es geht uns nicht darum, eine vermeintlich wertfreie Aufklärung zu exportieren. Das Konzept Nation und Staatsvolk wurde von Europa aus mit dem kapitalistischen Weltmarkt gewalttätig allerorten durchgesetzt wurde. Was Thörner kritisiert, ist nichts anderes als das Ergebnis dieses Prozesses.

Wir plädieren deshalb weiterhin für eine linke Politik, die das Konzept Nation in jeder Form kritisiert und nicht auf realpolitische Bündnisse mit »zivilisierten Staatsbürgernationen« setzt, sondern radikal für eine Überwindung nationaler Vergesellschaftung im Sinne eines kosmopolitischen Kommunismus eintritt.