Der Bahnhof Friedrichstraße

Durchorganisierte Gemütlichkeit

Gefährliche Orte IC: Der untere SóBahnsteig auf dem Bahnhof
Friedrichstraße ist das Denkmal einer Wurstproletengemeinde
gegen die westliche Okkupation.

Nähert man sich von Süden, dann kommt man aus dem Untergrund. Die SóBahn taucht irgendwann vor dem Erreichen des SóBahnhofs Friedrichstraße unter die Erde. Sie folgt der 1936 angelegten Strecke, mit der die nationalsozialistischen Städteplaner ihrem Traum von der modernen Metropole und Überstadt »Germania« ein Stück näher kommen wollten.

Beispiel eins: der Anhalter Bahnhof, der ó dank weißlasierter Fliesen fast blendend schön ó heute eine sinnlose Größe zur Schau stellt. Von dem ehemaligen zentralen Großbahnhof, der überirdisch Staat machte, ist nur noch die Ruine des Einganges vorhanden. Beispiel zwei: der Potsdamer Platz, der SóBahnhof natürlich. Die Architekten bemühten sich redlich ó allen großen Umbaumaßnahmen zum Trotz ó, die frühere AlbertóSpeeróSchönheit wiederherzustellen. Auch hier prägen weiße Fliesen das Bild, ist es im Gegensatz zu den sonstigen unterirdischen Bauten Berlins ätzend hell und sauber, und selbst die Baustellen werden, so gut es geht, dank provisorischer Stellwände dem totalitären Bauideal zugeformt. Am SóBahnhof Potsdamer Platz ist alles absolut rein.

Aber es gibt auch einige Gegenbeispiele. Man denke an Unter den Linden ó die nächste Station nach dem Potsdamer Platz. Hier ist noch nicht groß renoviert worden, höchstens unspektakulär geputzt. Auch wenn alles sehr akkurat gefegt und geordnet daherkommt, die ungenutzten Bahnsteigbauten und der zähe Belag, der sich auf den Schildern und an den Fliesen festgefressen hat, lassen den Bahnhof bedrohlich und dunkel erscheinen. Da müssen die TourismusóBeauftragen der Stadt noch einmal ranklotzen. Denn momentan erweist diese Haltestelle der landesweit bedeutsamsten Meile ums Hotel Adlon, den Reichstag und das Brandenburger Tor keine Ehre.

Erst danach zwingt sich der Zug endlich in das Paradies. Das ist der unterirdische SóBahnhof Friedrichstraße, in dem sich die DDR bis heute so präsentiert, wie sie war.

Zwar ist inzwischen der überirdische Teil des S-Bahnhofes Friedrichstraße komplett umgebaut und umgeschönt, alle möglichen SouveniróLäden, FressóStände und NewsóShops füllen die nun ganz in leuchtendem Grün gehaltene Bahnhofshalle aus, und dazu gesellen sich noch ein Friseur, ein Computerexperte und andere Läden, die aus dem Bahnhof eine ShoppingóZone werden lassen sollen. Doch stark frequentiert ist bislang eigentlich nur ein EdekaóMarkt, der, weil er angeblich nur »Reisebedarf« verkauft, aus beinahe allen LadenöffnungszeitóRegelungen herauskatapultiert ist. Den auf dem Bahnhof ansonsten restlos verlorenen Punks und Obdachlosen gilt er als letztes verbliebenes Glück.

Auch das äußere Umfeld des neuen Bahnhofs Friedrichstraße wurde gereinigt. Dort, wo sich vorher noch wild gewachsene Imbissbuden und illegale Zigarettenhändler tummelten, ist jetzt ein Taxistand, eine Baustelle oder der Wachdienst. Es geht ums Ganze: darum, in dieser ihrem eigenen Mythos erlegenen, aber noch immer recht öden Ecke Berlins die deutsche Vorstellung von Glamour umzusetzen: Sauberkeit, Übersichtlichkeit, von vorn bis hinten durchorganisierte Gemütlichkeit. So leuchtet also der obere Teil des Bahnhofs Friedrichstraße mild grün in die Abende und lässt vergessen, dass hier noch vor ein paar Jahren eine glückliche Wurstproletengemeinde herrschte, die sich schon frühmorgens in den letzten Gaststätten vor Bahnsteig und Arbeit tummelte.

Nur unter der Erde ist noch ein Abglanz dessen vorhanden. Durch etwas unscheinbare und fast verschämte Zugänge im Heck des neuen Bahnhofes kommt man zu einem Bahnsteig, der sich bereits dank der Farbgebung (Dunkelgrün, Dunkelorange und Grauweiß) als Hölle empfiehlt. Den einstmals hier prangenden Nazibahnhof hat man in den Siebzigern oder Achtzigern der DDR so gründlich wegmodernisiert, dass es schon beinahe als antifaschistische Tat gelten darf.

Auch die Bebauung ist entsprechend unübersichtlich: inmitten des Bahnsteigs ist eine so klotzige Treppenanlage aufgestellt, dass man sich kaum auf die andere Seite zu gehen traut. Durch die unglaubliche Farbwahl und nur halb beendete Bauarbeiten kann von der Rohheit der technischen Welt nicht länger abgelenkt werden. Dementsprechend hört man das Kreischen der SóBahnräder hier deutlicher, und auch die Anó und Abfahrtsmoderatorinnen schreien sich ihren Frust bei jeder Ansage regelrecht heraus.

An einer Stelle gibt es einen kleinen Imbiss, der Kartoffelsalat noch ganz klassisch aus dem Plastikeimer ausschenkt und gleichfalls fettige Knacker serviert, scheinbar ohne den Hauch eines Wissens darum, dass genau das den meisten Imbisskollegen in der Neuen Mitte peinlich ist. Auch wird auf einem Pappschild mitgeteilt, dass der Verzehr von Alkohol am Stand ab 18 Uhr nicht geduldet werde. Folglich müssen sich all die ein paar Meter weiter trollen, denen der Rest von ihrem SóBahnhof oben geraubt wurde.

Auf der anderen Seite des Bahnsteiges gibt es den obligatorischen B.Z.óStand mit einem mehr zur Suggestion von Presselandschaft aufgehängtem Restangebot und ein Stehkaffee, das in Berlin seinesgleichen sucht. Ein trauriges Kollektiv belegter Brötchen wartet dort in einer Auslage auf Abnehmer. Der Kaffee gärt auf der Wärmeplatte langsam, aber unausweichlich zu einem tödlichen Sud. Und einige Schokoriegel erfüllen kaum die große Aufgabe, an die Versprechungen der Marktwirtschaft zu erinnern. Das Beste aber ist: Dieser Stand lässt sich ungeniert in die Küche gucken, es gibt keine Geheimnisse. Und auch sonst ist es wie am Küchentisch daheim: Eine Plastikdecke setzt das unkontrollierte Kleckern der Gäste einfach voraus, die Bedienung liest unbeteiligt Zeitung, und es gibt keine Musik. Besonders nachmittags ist dieser Ort zu empfehlen, er wirft einen gewissermaßen auf die wesentlichen Punkte der Existenz zurück.

Kindheitstrauma, autoritärer Raum und ein einziges Fragen nach Helmut Kohls blühenden Landschaften ó dieser Imbiss ist durchaus bewusst ein Denkmal gegen die westliche Okkupation. Entsprechend freudig wird dieses DDRóMemorial von all den Langhaarigen, Rotnasigen, Graujackigen und Verhuschten benutzt, die sich in der überirdischen Welt des ungezügelten Konsums nicht mehr zurechtfinden.