Der Shareholder-Kapitalismus

Voll normal

Das Shareholder-Value-Prinzip ist die Grundmaxime der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Es setzt auf kurzfristige Profitmaximierung ohne Rücksicht auf langfristige Kosten.

Eine gewisse Empörung über die Übel des Shareholder-Kapitalismus ist heute allenthalben zu verzeichnen, zumindest wenn man von marktradikalen Bekenntnispostillen wie der Wirtschaftswoche absieht. Die von Journalisten wie Politikern gelegentlich vergossenen Krokodilstränen sind allerdings unangebracht. Was sich derzeit weltweit abspielt, ist schlicht die Rückkehr zur Normalgestalt des herrschenden Wirtschaftssystems, nachdem das Kapital die politischen Beschränkungen abgestreift hat, die ihm durch die revolutionären und reformistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts auferlegt worden waren.

Das Prinzip Shareholder-Value ist, was manchmal vergesssen wird, eben die Grundmaxime der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Und in der Tat scheint es so, als sei im Zeichen der wieder errichteten Hegemonie der USA nun auch die Zeit des europäischen - etwas mehr sozialstaatlich zivilisierten - Kapitalismus abgelaufen.

Dieser war ein Produkt der Arbeiterbewegung und der Systemkonfrontation zwischen Ost und West und wird nach deren Ende offenbar zu einem Auslaufmodell. Trotz immer mal wieder abgespulter Bekenntnisse zu einer »sozialen Marktwirtschaft«, von Joseph Fischer gar zum »rheinischen Kapitalismus« als einem »historischen Projekt« hochstilisiert, ist die gegenwärtige Bundesregierung entschlossener noch als die alte dabei, die Voraussetzungen für eine grundlegende Reorganisation der Kapitalstruktur in Richtung auf einen Kapitalismus pur zu schaffen.

Es geht um eine Strategie der nachhaltigen Profitmaximierung mittels systemischer Rationalisierung, Monopolbildung, Marktbeherrschung und darauf beruhend einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verteilungsrelationen. Der nationale Wettbewerbsstaat schärft seine Konturen. Mittels »Standortoptimierung« soll soviel Attraktivität für das international mobile Kapital geschaffen werden, dass wenigstens der Grad von Wachstum und Beschäftigung garantiert bleibt, dass privilegiertere Teile der Lohnabhängigen mit ihren gewerkschaftlichen Interessenvertretungen weiterhin in den politischen Konsens der »Deutschland AG« eingebunden werden können.

Der beträchtliche Rest fällt unter die Kategorie der »Modernisierungsopfer« und wird zum Objekt von Überwachung, Kontrolle und materiell geschrumpfter Fürsorge. Dass die Gewerkschaften bereit sind, dieses Spiel mitzuspielen, hat sich an ihrer höchst verständnisvollen Haltung zu den ablaufenden Fusions-, Konzentrations- und Rationalisierungsprozessen gezeigt. Auch sie setzen - weit entfernt von altbackenem Nationalismus - konsequent auf Globalisierung.

Nun ist allerdings der Kapitalismus, wie man weiß, eine höchst widersprüchliche Sache. Und jedenfalls ist er weit entfernt davon, eine rationale gesellschaftliche Ordnung zu sein. Je mehr die politischen Kontrollen beseitigt werden, desto deutlicher tritt seine Irrationalität zu Tage, eine Irrationalität, die immer schon die Tendenz hatte, seine eigenen gesellschaftlichen Grundlagen zu untergraben.

Die Internationalisierung und die damit verbundene Freisetzung des Kapitals von nationalstaatlichen Regulierungszusammenhängen hat auch das Interesse der Unternehmen an der Entwicklung der einzelnen Gesellschaften geringer werden lassen. Im Zeichen grenzenloser Mobilität kann es ihnen zunächst einmal egal sein, was die politischen und sozialen Folgen ihrer Profitmaximierungsstrategien sind.

Daraus speist sich das radikalisierte Prinzip des Shareholder-Value, das Setzen auf kurzfristige Profitmaximierung ohne Rücksicht auf langfristige Kosten. Was gut ist für General Motors, ist eben nicht mehr unbedingt gut für die USA. Und dasselbe lässt sich auch für VW und Deutschland sagen. Wenn die Dynamik des Markts geradezu aberwitzige Züge annimmt, erodieren die gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen, die das Kapital zu seiner Verwertung braucht, aber eben nicht selbst schaffen kann.

Was sich derzeit ökonomisch abspielt, hat ohnehin mit rationalem Kalkül nur noch wenig zu tun. Die Wirtschaft hat die Züge eines weltumspannenden Kasinos angenommen. Das Boomen der Aktienmärkte, das eine wesentliche Grundlage des überhand nehmenden Spekulations- und Fusionsfiebers darstellt, lässt sich mit realen ökonomischen Daten nicht begründen. Es wird von der Mentalität von Zockern getrieben, die sich gegenseitig hochpokern in der Hoffnung, im System der Kurse und Gewinne nicht als die Letzten dazustehen.

Diese Mentalität scheint sich via Online-Banking rasant zu verallgemeinern und zu einer Art Volkssport zu führen. Die Hoffnung auf das schnelle Geld beherrscht eben nicht nur die Vorstandsetagen, sondern hat sich gesellschaftlich verallgemeinert. Dies trägt zur Legitimation der bestehenden Zustände wesentlich bei. Gewinnen können dabei allerdings am Ende nur die Börsenmakler und die Banken - nicht zu reden von den Telefongesellschaften.

Dass der schon oft vorhergesagte Crash bisher noch nicht eingetreten ist, macht seine Wahrscheinlichkeit nicht geringer. Und es ist nicht zu übersehen, dass sich der globale Kapitalismus in einer strukturellen Krise befindet, die durch die ablaufenden Restrukturierungsprozesse weiter verstärkt wird. Die Apologeten des Markts vergessen, dass dieser immer die Tendenz hat, sich selbst aufzuheben. Und damit auch seine vermeintlichen Segnungen - die Effizienz der Warenproduktion und das endlose Wachstum des Warenreichtums - zu verderben. Jedenfalls war noch nie in der Geschichte der Monopolkapitalismus so ausgeprägt wie heute.

Nun gibt es angesichts dieser Entwicklung inzwischen auch wieder Bemühungen, auf nationaler wie internationaler Ebene zu einer gewissen Re-Regulierung der ökonomischen Prozesse zu kommen. Diese zielen indessen nur darauf ab, die Irrationalität selbst noch einmal zu rationalisieren. Was damit auf jeden Fall bestätigt wird, sind wachsende soziale Ungleichheit, Marginalisierung und Degradierung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Spaltung der Gesellschaften in materiell privilegierte Funktionsmarionetten und nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturell Ausgegrenzte.

Dass von einer halbwegs gleichmäßigen Entwicklung der Gesellschaften im globalen Maßstab angesichts der herrschenden Machtverhältnisse keine Rede sein kann, hat nicht zuletzt das Gezerre um die Besetzung des IWF-Chefpostens gezeigt. Hinter dem politischen, von einer unfähigen deutschen Regierung inszenierten Possenspiel stand - von der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen - auch eine Auseinandersetzung um die künftige Ordnung der Weltökonomie und um die Positionierung der durch wachsende Proteste unter Druck geratenen internationalen Finanzinstitutionen. Hier hat nicht nur das Großmachtprestige der USA gewonnen, sondern zugleich ein Weltordnungskonzept, das die Sicherung und Expansion des Kapitalprofits zur unhintergehbaren politischen Leitlinie erklärt.

Dies schafft indessen politische Legitimationsprobleme, denen die derzeitige bundesrepublikanische Regierung durch den CDU-Skandal nur vorübergehend entgangen ist. Die Enttäuschung derer, die von der rotgrünen Koalition eine etwas sozialere und ökologischere Politik erwartet hatten, ist nicht behoben. Die augenscheinliche Gefahr ist, dass dies von den Regierenden und ihren ideologischen Wasserträgern in populistischer Manier verstärkt in nationalistische, wohlfahrtschauvinistische und rassistische Legitimationsdiskurse umgemünzt wird. Nicht zufällig ist die Konjunktur des Nationalismus und Rassismus eine Begleiterscheinung des neoliberal globalisierten Kapitalismus und seiner Shareholder-Ideologie.

Der Fall der rotgrünen Regierung zeigt allerdings auch, was von einem bloßen Auswechseln staatlicher FunktionärInnen zu erwarten ist, wenn dahinter keine soziale Bewegung steht. Selbst Hoffnungen auf eine bescheidene Reformpolitik sind illusionär, wenn sie sich auf nichts als die Mechanismen der herrschenden politischen Institutionen, auf Wahlen und die traditionellen Formen von Verbandspolitik stützen. Dazu ist die wettbewerbsstaatliche Transformation des Staates inzwischen viel zu weit gediehen.

Eine neue soziale Bewegung unabhängig von Parteien und Verbänden, eine Bewegung, die die herrschenden Lebens- und Politikformen angreift und dann vielleicht auch Teile der etablierten Apparate, der Gewerkschaften und Parteien mitreißt, ist freilich derzeit noch kaum in Sicht. Nicht nur die Ereignisse in Seattle zeigen aber ungeachtet der Widersprüche und Besonderheiten dieses Protests, dass noch nicht aller Tage Abend ist. Der scheinbar prosperierende Shareholder-Value-Kapitalismus steht ökonomisch wie politisch auf nicht allzu festen Füßen.

Die Herrschenden jedenfalls sind einigermaßen alarmiert. Die Wirtschaftswoche, um dieses Blatt noch einmal zu nennen, hat der »neuen Internationale des Protests« jüngst sogar eine aufgeregte Titelgeschichte gewidmet. Wirklich gerechtfertigt wäre diese Besorgnis allerdings erst, wenn sich der punktuelle Protest zu einer gesellschaftsverändernden Bewegung entwickeln würde, die notwendig international sein müsste. Doch was nicht ist, kann immerhin noch werden.

Joachim Hirsch ist Professor für Politische Wissenschaften und lebt in Frankfurt/Main. - Bisher erschienen Beiträge von Joachim Bischoff (11/00) und Andrei S. Markovits (12/00).