Video-Überwachung

Elektronische Augen der Stadt

Videokameras scannen Autos und Personen, unterscheiden Punks von Nicht-Punks und sichern neue privatisierte Räume wie Shopping Malls und Gated Communities.

Leipzig und England führen die Charts im Unser-Land-muss-sicherer-werden-Contest an. Weit abgeschlagen rangiert dagegen Jürgen Rüttgers. Kürzlich preschte der CDU-Kandidat zwischen Landtagswahlkampf und Spendenaffäre mit einer nicht mehr ganz frischen Idee vor, die wieder einmal das Duo Kriminalitätsbeschwörung & Sicherheitskampagnen als ideales Diskurspaar vorgeführt hat, um vor Wahlen symbolische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren: Öffentliche Straßen und Plätze sollen, so der Ex-Zukunftsminister, permanent durch Videokameras überwacht werden.

Leipzig hat sie bereits. 1996 feierte die Messestadt eine Deutschland-Premiere, als die erste Überwachungskamera auf einem innerstädtischen Platz installiert wurde. Im Herbst letzten Jahres wurde eine zweite Kamera am Connewitzer Kreuz montiert, mitten in das alternative Viertel der Stadt, an den traditionellen Treffpunkt für Demonstrationen. Dies geht nach Aussage des Bündnisses gegen Rechts mit permanenten Polizei-Schikanen gegen Leute einher, die mindestens ein Kreuz im Sicherheits-Multiple-Choice erhalten: Szene-Dresscode, Bierdose oder gefärbte Haare. Gegen diese Praxis organisiert das Bündnis am 6. Mai eine Großdemonstration gegen »Überwachungswahn«. Bisher, verkündet der Leiter des zuständigen Polizeireviers, bekomme er allerdings mehr Protest von BürgerInnen, denen die Überwachung nicht ausreiche. Die Zustimmung des Mainstreams zur Video-Überwachung ist deshalb auch ein zentrales Argument ihrer BefürworterInnen. Und die kommen bei weitem nicht nur aus der CDU.

So freut sich die Berliner CDU bereits öffentlich, dass die SPD, die eine elektronische Überwachung öffentlicher Räume noch ablehnt, bald einknicken werde. In Sachsen-Anhalt riskiert die sozialdemokratische Minderheitsregierung ihre Duldung durch die PDS, weil das neue Polizeigesetz Kameras im öffentlichen Raum vorsieht. Bayern schafft bereits Fakten durch Modellprojekte in München und Regensburg, deren Innenstädte künftig von elektronischen Augen beobachtet werden. An manchen Stellen zeigt die Debatte absurde Züge: So nahm der Berliner Grünen-Politiker Bernd Köppl die Entführung der »kleinen Celina« aus dem Krankenhaus Friedrichshain zum Anlass, die Video-Überwachung aller Neugeborenenstationen zu fordern. Drei Tage später kündigte das Krankenhaus Neukölln gegen den Widerstand der CDU-Gesundheitssenatorin Beate Hübner an, eine elektronische Kontrolle auf Babystationen einführen zu wollen. Ähnliche Diskussionen gibt es um die Überwachung von Sozialämtern und Bibliotheken, Schulhöfen und Spielplätzen.

Als völlig selbstverständlich erscheint mittlerweile die lückenlose elektronische Beobachtung privatisierter Räume wie Shopping Malls, U-Bahnen, Banken oder Bahnhöfe: Der Werbeslogan »24 Stunden alles im Blick« zeigt, dass auch die Bahn AG von einer freudigen Einwilligung der KundInnen in ihre permanente Beobachtung ausgeht.

Bei soviel Zustimmung breiten sich die elektronisch gesicherten Zonen in einem public private partnership immer weiter im städtischen Raum der BRD aus: Mit dem Fall des bis vor kurzem noch geltenden urbanistischen Tabus, dass es gated communities, also eingezäunte, privat betriebene und lückenlos überwachte Wohnsiedlungen nicht geben dürfe, dringt die Überwachungskamera in die Wohngebiete vor. Dies gilt keineswegs nur für abgeschottete Luxusanlagen wie am Glienicker Horn in Potsdam. Von privaten Developern entwickelte Mittelklasse-Suburbias liebäugeln ebenso mit der elektronischen Abtastung ganzer Stadtteile. So sah das Konzept des Hamburger Neubauviertels Dorfanger Boberg vor, die aufgezeichneten Bilder durch ein eigenes Kabelnetz direkt auf den heimischen Fernseher der 3 000 BewohnerInnen zu leiten. Leider, so der Developer, habe es zuviel Gegenwind gegeben, so dass man deshalb - gegen den Wunsch vieler KäuferInnen - auf die Überwachung verzichtet habe. Auch in Siedlungen, die unter Getto-Verdacht stehen, mausert sich die elektronische Kontrolle der Hochhausflure im Verbund mit der Einführung von Conciergen.

Ein Blick über den Kanal zeigt mögliche weitere Stationen des Überwachungswettlaufs. Galt noch vor wenigen Jahren New Yorks Polizeichef William Bratton mit seinem Zero-Tolerance-Konzept als Exportschlager der »Inneren Sicherheit«, geben sich gegenwärtig Scotland-Yard-Beamte, die Parteien und Kommunen ihr Erfolgsmodell Closed Circuit Television anpreisen, gegenseitig die Klinke in die Hand. Diese flächendeckende Videoüberwachung kompletter Innenstädte praktizieren mittlerweile die meisten britischen Kommunen.

Das englische Modell eignet sich zwar als Projektionsfläche, ist aber nicht eins zu eins auf die Bundesrepublik übertragbar. Die Pläne zur Videoüberwachung stellen zunächst einmal eine Erweiterung der Sauberkeits- und Sicherheitskampagnen der neunziger Jahre dar. Wie bei Sicherheitsdiensten wird dabei auf einen präventiven Effekt spekuliert. Gleichzeitig wohnt den neuen Technologien ein erhebliches Rationalisierungspotenzial inne. Bezeichnenderweise preisen die Betreiber privater Sicherheitsdienste die enormen Einsparmöglichkeiten, während die Gewerkschaft der Polizei (GdP) darauf verweist, dass eine flächendeckende Video-Kontrolle weder »Kriminelle« abschrecke noch für Sicherheit sorge. Sinnvoller sei es, die polizeiliche Personalsituation zu verbessern. Entsprechend schnell ruderte die CDU zurück: Selbstverständlich gehe es nur um die Überwachung von »Kriminalitätsschwerpunkten«.

Die Neuartigkeit der Videoüberwachung in Großbritannien liegt neben der hemmungslosen quantitativen Ausweitung vor allem in der Verknüpfung mit qualitativ neuartigen Sammlungs- und Auswertungsmethoden. Mit dem Automatic Number Plate Reading, einer vollautomatischen Kennzeichen-Erfassung per Kamera, ist es beispielsweise möglich, jedes in die Londoner City hinein fahrende Auto mit der Polizeidatenbank abzugleichen. Ähnliche Systeme, die automatisch Personen auf Videobildern wiedererkennen, werden derzeit perfektioniert. Von ideologisch nicht zu unterschätzender Wirkung ist die englische Praxis, das gewonnene Videomaterial an private Fernsehgesellschaften zu verkaufen. Sie bieten dem Publikum dann das Beste vom Tage in ihren Krimi-Dokus »Police Camera Action!«, »Eye Spy« oder »Britain's Most Wanted«. Solche Sendungen wirken als politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf: Spektakuläre Erfolgsgeschichten oder die schleichende Normalisierung steigern dabei die Akzeptanz für Überwachungssysteme.

Die fast vollständige Abwesenheit von gesetzlichen Kontrollinstanzen in Großbritannien, die eine Speicherung und Verarbeitung der erhobenen Daten reguliert oder den Schutz der Privatsphäre garantiert, macht solche Systeme überhaupt erst möglich und stellt zugleich den entscheidenden Unterschied zur BRD dar. So verweisen die Datenschutzbeauftragten der Länder darauf, dass die derzeitige juristische Lage weder eine flächendeckende, verdachtsunabhängige Sammlung von Videobildern noch deren Einspeisung in Datenbänke hergebe. Ein Mitschnitt ist lediglich zur Beweissicherung erlaubt.

Kameras an so genannten Kriminalitätsbrennpunkten scheint der kleinste gemeinsame Nenner von SPD, CDU, GdP und Datenschützern zu werden. So kehrt die Konstruktion des gefährlichen Ortes als audiovisuelle Sondermaßnahme wieder.