CSD ist jeden Tag

Im mexikanischen Juchitán dominieren die Frauen. Wer das Pech hat, ein Mann zu sein, wechselt das Geschlecht oder wird schwul.

Es ist der Jahrestag der mexikanischen Revolution, und die Jugend marschiert in allen Städten des Landes geradeaus. Nur nicht in Juchitán, einer Kleinstadt im Süden Mexikos, im Bundesstaat Oaxaca. Auch wenn der Ort nur 70 000 Einwohner zählt, ist Juchitán die Queer-Hochburg Mexikos, die Hauptstadt der »Muxes«, wie Schwule und Transsexuelle hier genannt werden. Und am 20. November wurde gefeiert. Nicht, dass man mit diesem Datum provozieren will, die Veranstaltung findet immer am dritten Samstag des November statt, und diesmal ist es halt der 20. Eine Parade junger Mexikaner hat es aber auch in Juchitán gegeben, wenn auch nicht ganz so straff organisiert wie in Mexiko-Stadt.

Das Fest ist ein lokales Ereignis, Touristen kommen hier eigentlich kaum vorbei. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der das Fest stattfindet, die das Ereignis so besonders macht. Während im Norden Mexikos, in der Großstadt Monterrey, zur selben Zeit Table-Dance in einer Volksbefragungen als »unmoralisch« abgelehnt und daraufhin verboten wird, tanzt man in Juchitán kreuz und quer, und das in einem Land, wo alle Wege sexueller Befreiung in die Hauptstadt führen.

Das Fest der »wahren Gefahrensucher«, oder einfach »Vela«, spanisch für Nachtwache, hat in Juchitán Tradition. Zwei Salons, in denen man tanzen kann, gibt es hier, und in einem der beiden findet die Fiesta statt. Wie in der Region üblich, bezahlen die Männer den Eintritt, in dem sie am Eingang einen Karton mit zwölf Flaschen Bier kaufen. Nach Betreten des Lokals geben sie die Kiste wieder ab. Danach kann einer trinken, soviel er will. Doch die Frage, wer ein Mann ist, lässt sich an diesem Abend schwer beantworten, deshalb gilt: Wer sich kleidet wie eine Frau, wird auch wie eine behandelt. Transvestiten zahlen also den für Frauen obligatorischen Eintritt von 20 Pesos (fünf Mark) und benutzen natürlich die Damentoilette.

Die Besucher der Vela sind ein Querschnitt der Bevölkerung Juchitáns. Unter den etwa 500 Gästen sind zahlreiche Transvestiten und Homosexuelle, aber auch Heterosexuelle sind gekommen, Frauen und Männer jeden Alters, ein paar ganz Alte, ein paar Kinder. Es ist ein ganz normales Fest, denn Homosexualität und Geschlechterwechsel gehören in Juchitán zum Alltag.

So ist der Gegensatz unter den Transvestiten auffälliger als der zwischen ihnen und den anderen Gästen. Während einige aussehen, als seien sie einer Showbühne in Los Angeles entstiegen, mit Pfennigabsätzen, Miniröcken, Tops, tragen andere die traditionelle Kleidung der Region, die nicht minder auffällig ist: Lange, mit Blumen übersäte Kleider, hochgesteckte Haare mit noch mehr Blumen, Goldschmuck, wo immer er sich anbringen lässt.

Der Blumen-Look entspricht eher den Vorstellungen des Gastgebers Pablo Escobar Escobar, dieses Jahr Hauptorganisator der Vela zusammen mit der Ballkönigin des letzten Jahres und einer kleinen Gesellschaft von Schwulen und Transvestiten: »Ich veranstalte diese Vela, weil ich möchte, dass dieser traditionelle Aspekt unserer Kultur, dieser feste Bestandteil unserer Identität erhalten bleibt. Nicht, dass du denkst, das sei hier eine neue Mode.« Selbstverständlich ist auch Escobar schwul.

Seit 23 Jahren findet die Vela statt. Zuerst feierte man sie im Nachbarort, erzählt Amaranta. Dann habe der Inhaber des Tanzsalons, Oscar, sie nach Juchitán geholt. Damals ging es noch ganz privat zu, erst nach und nach bekam das Fest einen öffentlichen Charakter und wurde in den Tanzsaal verlagert. Mittlerweile ist es ein gesellschaftliches Ereignis, das auch Lokalpolitiker anlockt, zum Beispiel, um die Ballkönigin zu krönen, die selbstverständlich transsexuell ist. Vor zwei Jahren habe der Bürgermeister von der gemäßigt linken PRD diese Aufgabe übernommen.

Die Vela ist aber nicht der einzige Tag der Freiheit für die Muxes. Der Ursprung des Wortes ist umstritten: Einige leiten ihn vom spanischen mujer (Frau) ab, während andere von einer Verwandtschaft mit dem zapotekischen Adjektiv für »ängstlich« sprechen.

Doch ängstlich verhalten sich die Muxes in Juchitán ganz und gar nicht. Weder in der Kirche noch in der Kneipe müssen sie sich verstecken. So sagt Juan, von Beruf Bäcker, er habe Kousinen, die Muxes seien. Sie erledigen »ihre Arbeit genauso wie ich, sind auch fleißig dabei. Ich sehe kein Problem darin.« Auch Jesus erzählt, dass es in fast jeder Familie einen Muxe gebe. Besondere Orte für Muxes wie Schwulenbars lehnt Amaranta, selbst Transvestit, ab: »Zum einen gibt es kein Bedürfnis danach, wir können in jede Kneipe gehen, auf jeder alltäglichen Fiesta siehst du mindestens ein Muxe-Paar tanzen. Zum anderen wollen wir eine Gettoisierung, eine Isolation verhindern.«

Dennoch habe der Umstand, dass Tanzsalon-Betreiber Oscar ein einflussreiches Mitglied in der in Mexiko seit 70 Jahren regierenden PRI sei, die Vela erleichtert. Mittlerweile sprechen sogar Parteien die Muxes an, um sie als Wähler zu gewinnen, erzählt Amaranta. Und wie die Mehrheit der Bevölkerung seien auch die meisten Muxes Mitglieder der PRI.

Amaranta arbeitet in einer lokalen Aids-Hilfe, die im Wesentlichen von Muxes organisiert wird. Sie erzählt, dass diese Arbeit sogar eine gewisse Annäherung an die Kirche gebracht habe: »Der Pfarrer des Nachbarortes Ixtepec lud mich einmal ein, einen Vortrag über Aids-Prävention in den Räumen der Kirche zu halten. Das Problem dabei war: Ich durfte zwar über Kondome sprechen, aber keine mitbringen. Also bediente ich mich am Altar einer Banane, um der schockierten Gemeinde vorzuführen, wie man ein Kondom benutzt. Der Pfarrer der katholischen Kirche war allerdings Anhänger der Theologie der Befreiung«, fügt sie hinzu. Mit der evangelischen Kirche US-amerikanischer Herkunft sei es schwieriger gewesen. Sie habe dort einen Vortrag über Prävention halten sollen, ohne auch nur über Kondome sprechen zu dürfen. Amaranta lehnte ab.

Während die Vela den Eindruck vermittelt, der berühmte Machismo, den man vor allem in den Provinznestern antrifft, sei in Juchitán unbekannt, erzählt Alejandro, dass längst nicht alle Muxes gleich behandelt würden. Diejenigen, die die Frauenrolle übernehmen, seien stärker akzeptiert als männliche Schwule. Die Kleidung sei eine Konzession an den auch in Juchitán existierenden Machismo. Transvestitische Muxes würden als das »dritte Geschlecht« in ihrer Frauenrolle akzeptiert, aber stets mit dem Bewusstsein, dass sie keine Frauen sind. Dennoch korrespondiert ihre gesellschaftliche Rolle vollkommen mit den traditionellen Aufgaben der Frau in Juchitán. Die 16jährige Transe Linda z.B. begreift sich als »die Frau des Hauses«, wie sie sagt, sie kocht, wäscht und schmeißt den Haushalt. Wie fast alle Transvestiten kleidet sie sich auch tagsüber als Mädchen.

Die Muxes sind in Juchitán nicht nur integriert, sie bilden eine eigene Schicht, die auch ökonomisch wichtig für den Ort ist. Ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist dabei ebenso selbverständlich wie die Tatsache, dass sie dabei innerhalb der vorgegebenen Geschlechterrollen agieren. Felina, Inhaberin eines Friseursalons, erzählt, sie habe »schon in der frühesten Kindheit lieber mit Puppen gespielt und sich die Haare wachsen lassen. Mädchen als Spielkameradinnen waren ihr viel lieber als Jungs mit Fußball und dem ganzen Kram. Trotzdem, ich bin keine Frau und auch kein Mann.«

Ihr Vater, sagt Felina, habe versucht, ihr »das Weibliche auszutreiben«, ihre Mutter habe sie beschützt und ihr den Geschlechterwechsel ermöglicht. Auch Alejandro weist auf die gesellschaftliche Dominanz der Frauen hin, um zu erklären, warum es möglich ist, sich für die Frauenrolle zu entscheiden. Frauen haben in der Ökonomie Juchitáns eine traditionell wichtige Rolle, die Arbeitsteilung der Geschlechter sieht zum Beispiel für sie den Verkauf der Waren auf dem Markt vor, die die Männer auf dem Feld ernten. Daraus haben sich im Laufe der Zeit weitere Freiheiten ergeben, wie die ökonomische Unabhängigkeit innerhalb der Familie und die Mitbestimmung bei den Ausgaben.

Folge ist ein unübersehbares Selbstbewusstsein der Frauen, schon erkennbar an ihrem aufrechten Gang in den Straßen, an ihrer lauten offenen Art zu reden. Die ausgeprägte Toleranz und die matriarchale Ordnung erklärt man sich in Juchitán damit, dass die Frauen seit Jahrhunderten als Handelsreisende unterwegs waren und dabei immer auch mit anderen Kulturen konfrontiert wurden.

Doch Muxes sind auch ökonomisch vorteilhaft für die Familie: Während andere Töchter und Söhne heiraten, ausziehen und ihren eigenen Haushalt gründen, bleiben die Muxes ihr Leben lang bei der Familie, selbst wenn sie ökonomisch unabhängig werden. So würde Felina, die mit ihrem Friseursalon sehr gut verdient, »niemals aus dem Haus meiner Eltern ausziehen«. Eine Heirat, die sie als Beschränkung ihrer Freiheiten empfinden würde, erlaubt ihr das Gesetz erst gar nicht. So bleibt sie bei ihren Eltern und unterstützt sie.

Linda genießt wie alle transvestitischen Muxes den Ruf, sehr produktiv und fleißig zu sein. Juliana, selbst Transvestitin, geht noch weiter und erklärt, deshalb würden einige Jungen, meistens die jüngsten der Familie, geradezu zu einem Muxe erzogen. Weibliche Verhaltensstile würden nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert - quasi als Altersvorsorge. Auch für Alejandro ist die Akzeptanz eine Frage des Geldes: Die Muxes würden konsumieren, und der geschäftstüchtige Juchiteco sehe »den Leuten nicht auf das Geschlecht, sondern in den Geldbeutel«.

Weiterführende Lektüre: Veronika Bennholdt-Thomsen (Hg.): Juchitán - Stadt der Frauen: Vom Leben im Matriarchat. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1994