Johannes Rau in Polen

Totale Versöhnung

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Sechzig Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf Polen hat erstmals ein deutscher Bundespräsident an den Gedenkfeiern zum 1. September im polnischen Gdansk teilgenommen. Vor zehn Jahren hatte Helmut Kohl seinen Präsidenten Richard von Weizsäcker davon abhalten müssen, trotz Einladung nach Polen zu reisen. Die Zeit sei noch nicht reif für solche Gesten, hieß es. Zuerst noch wollte das Ende der Geschichte herbeigeführt werden.

Heute stellt ein Kommentator des Berliner Tagesspiegel die Frage: "Ist nicht alles, was man dem 1. September 1939 entgegensetzen kann an Vergebungsbitten, Versöhnungssymbolik und Kooperationsversprechen, in den sechzig Jahren mehrfach gesagt und getan worden?" Kann es also, suggeriert die Frage, jenseits vergangenheitstrunkener Böswilligkeit irgendeinen Grund geben, an einer wirklichen Harmonisierung der Beziehungen beider Länder zu zweifeln?

Johannes Rau hält diese Möglichkeit für ausgeschlossen. Bei seinem Besuch in Polen plagten den Bundespräsidenten keine Zweifel. Souverän spulte er das Besuchsprogramm ab. Gleich das erste Treffen mit dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski an der deutsch-polnischen Grenze zwischen Frankfurt/Oder und Slubice sollte beweisen, wie unverkrampft, normal eben, sich beide Staatsoberhäupter begegnen können. Die deutsche Hymne hier? Foto mit Gattin dort? Bitteschön.

Nicht überliefert ist, ob sich Kwasniewski die gemeinsame Grenze schon einmal von Westen aus angeschaut hat. Sollte Polen 2003 reguläres EU-Mitglied werden, ist der Ausbau der polnischen Ostgrenze zur Festung gegen unerwünschte Flüchtlinge wohl unvermeidlich. Die erforderliche Infrastruktur wird Deutschland gerne liefern. Solche Fragen allerdings waren Raus Sache nicht. Er war zum Versöhnen gekommen, nicht um Vorschriften zu machen. Die wird Gerhard Schröder bei seinem Polenbesuch schon nachreichen.

Wie sehr die harte Tagespolitik, die für Polen die Rolle des Bittstellers gegenüber Deutschland vorsieht, die Reise Raus nach Gdansk begleitete, wurde deutlich, als der Präsident hervorhob, daß auch die Deutschen, die "infolge des Krieges ihre Heimat verlassen mußten, später aber keine Gedanken an Haß und Vergeltung hegten", zur guten Freundschaft beider Länder beigetragen haben. Kwasniewski ließ den Gast gewähren, wer will schon Streit anfangen wegen einer kleinen Lüge. Kwasniewski wußte, was er seinen Gästen schuldig war: Die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen zum Thema zu machen - die Shoah nannte er "eine der größten Tragödien in der Weltgeschichte". Auch seine Version des Totalitarismus dürfte den Deutschen gefallen haben: "Hier (in Gdansk) nahmen die Verteidiger der Westerplatte ihren Kampf mit der Armee Hitlers (...) auf und hier begannen die Arbeiter an der Küste 1980 die Zerbröckelung der Diktatur."

Das ernsthafte Bemühen der Polen, nicht nachtragend zu sein, dem Gast schon mal die eine oder andere verbale Entgleisung zuzugestehen und sich ansonsten um die eigene Befindlichkeit zu sorgen, dürfte nach Raus Geschmack gewesen sein. Nachholbedarf in Sachen Versöhnung haben nämlich vor allem die Polen. Zwar halten nahezu drei Viertel der Polen und Polinnen eine Versöhnung mit den Deutschen für möglich, doch was ist mit dem letzten Viertel?

Sollte sich am Ende die Unhöflichkeit durchsetzen, vorgeführt von jenen polnischen Veteranen, die bei der Gedenkfeier zur Schlacht von Nassau-Oberschlesien/Mokra "trotz des guten Willens der Veranstalter" nicht bereit waren, "ihren früheren Gegnern die Hand zu reichen"? Oder sind gar die Umfragen zur polnischen Versöhnungsbereitschaft Ausdruck taktischer Zurückhaltung im Bemühen um deutsche EU-Fürsprache?

Indizien dafür liefert eine weitere Erhebung: Nur knapp ein Drittel der Polen kann den Deutschen so etwas wie Sympathie entgegenbringen. Sollte das gar daran liegen, daß, wie die NZZ Kwasniewski doch noch entlocken konnte, zwischen Deutschen und Polen "einige historische Rechnungen noch offen sind"? Deutlicher wird Katarzyna Kolodziejczyk, Kommentatorin der polnischen Rzeczpospolita: "Ohne die Liquidierung der Auswirkungen des letzten Krieges", erinnert sie die Bundesrepublik an ihre Existenz als postfaschistisches Gebilde, "wird es Europa nicht gelingen, ins 21. Jarhundert zu gelangen."