So kann’s kommen

... wenn man nie Pornos schaut - Kubrick langweilt mit "Eyes Wide Shut" auf ästhetisch hohem Niveau

Die Verschwörungstheorie geht so: Stanley Kubrick ist schon vor drei Jahren gestorben, man balsamierte ihn ein, der Filmverleih Warner und die halbe Verwandtschaft des NS-Regisseurs Veit Harlan (dessen Nichte Christiane Kubricks Ehefrau ist) setzten ihn ans Set und traten ein wenig Spekulationsrummel der obszönen Art los. Anschließend überläßt man den Filmkritikern die Arbeit, seinen letzten Film "Eyes Wide Shut", daran hat er 17 Jahre gesessen, zu interpretieren, das Kino aber bleibt leer.

Bleibt es nicht, es ist rappelvoll, denn in Berlin ist kurzfristig eine Vorstellung für die Pressevertreter anberaumt worden. Ein paar von ihnen hatte die eine oder andere Zeitung schon vorab ein Ticket für die Premiere in New York, für die Ärmeren in London, bezahlt; jetzt hier in Berlin tummeln sich die ausgesucht Ärmsten. Die übliche Praxis, jeden reinzulassen, ist diesmal ausgesetzt, und der Typ vom Flyer, sonst gern gesehener legaler Arm der Filmindustrie, fliegt diesmal, nomen est omen, raus. Auf Wiedersehen, wir haben Anweisungen direkt aus Amerika, das sagt die Dame direkt aus der Hamburger Konzernzentrale. Vielleicht hat er ja Glück gehabt, mehr Glück als die Verbliebenen, die jetzt mit Dr. William Harford und seiner Ehefrau Alice für die nächsten zweieinhalb Stunden alleingelassen werden.

Harford, das ist Tom Cruise, weltbekannt aus über 20 Filmen, darunter "Top Gun". Seine Ehefrau Nicole Kidman spielt die Alice in "Eyes Wide Shut", der Verfilmung von Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", die hier auf die Neunziger gebracht worden sein soll. Schnitzler, der Schnarchwandler der deutschsprachigen Literatur. Ein Ärztepaar im sinnenhaften Dilemma. Thema: Ehe und ihre Gefahren als Beziehung zwischen zwei Menschen. Stellen Sie sich mal vor, man würde sich auch die Seitensprünge und erotischen Spiele der gedachten Art erzählen - einer Umfrage zufolge denken 98 Prozent aller Frauen beim Geschlechtsverkehr an etwas anderes als den Partner, bei Männern hat man eine Befragung bis heute nicht für nötig gehalten.

Da müssen William und Alice jetzt durch, da mußte das Schauspielerpaar auch durch, weswegen die Ehe fast scheiterte und aus der US-Version die Nacktszenen der beiden herausgeschnitten wurden (fürs R-Rating). Die Augen sind jetzt weit geschlossen: Denn manche trauen ihnen nicht mehr: Das soll Kubrick sein? Wer wünscht sich die Ehe - außer einigen Homosexuellen?

Tom und Nic, so brillant als halbgebildetes Pärchen in "Die Tage des Donners", hier werden sie aufs Intellektuelle abgebremst. Nie waren sie so schlecht. Sie die frustrierte Ehefrau, er der erfolgreiche Arzt, in beiden kämpft Biederkeit mit erotischer Besessenheit. Hölzern können sie nur agieren, mit langgezogenen Dialogen, theatralisch übermotiviert. Hier schreitet der Film nicht fort, hier ist tot, was leben könnte. Harford und Frau bewegen sich durch das Leben von Manhattan, bei ihnen scheint die Zukunft abgesichert. Beim Joint aber erzählt Alice von ihren erotischen Phantasien. Der Doc knickt ein - war er nicht immer der Größte?

Er zieht los in die finsteren Ecken der Stadt, um die zwei üblichen Ziele in solchen Fällen zu verwirklichen: Erstens der Ehepartnerin eins auszuwischen, zweitens durch das Vergnügen das Ego wieder aufzurichten. Der Höhepunkt dieser Ausschweifungen soll eine sadomasochistische Szene in einer Villa sein, die uns nichts abverlangt, weil sie uns aus tausend Filmen bekannt vorkommt. William, auf der Suche nach sich selbst im Körper fremder Frauen, der Mutter, dem Vater und allem, was der Psychologe zuläßt, lädt sich ungebetenerweise selbst ein, wird aber enttarnt. Und wie's aussieht, mit Analverkehr und anschließendem Exitus bedroht! Eine unbekannte Nutte rettet ihn und stirbt später selbst. Wer wissen will, wie's weitergeht, schaue sich den Film an, den Schluß werden wir nicht verraten.

Wer bis dahin nicht ordentlich über diesen Film eingeschlafen ist ob seiner gestelzten Langsamkeit, die zwar technisch perfekt inszeniert ist, aber in den Dialogen so kaputt wie die Schnitzler-Vorlage, dem geht der Sinn dafür ab, was Langeweile sein kann: Der Regisseur hat schlicht und zweifelsfrei noch keinen Porno gesehen.

Statt dessen bringt der Film dem kürzlich Verstorbenen den Ruhm ein, reaktionären Männerphantasien aufzusitzen - gnade solchen Kritikern, die das erste Mal ins Kino gehen. Der Höhepunkt an der durch Kunstsinnigkeit verdeckten Miserabilität der - zugegeben - deutschen Ausgabe des Jahrhundertwerks: William erfährt aus der Zeitung vom Tod der Prostituierten. Wir schauen ihm über die Schulter. Rechts neben dem Artikel eine Spalte mit der Rubrik "Schnell ... Schneller ... Express". Die gibt es wirklich. In der Kölner Boulevard-Zeitung Express. Das Synchronstudio hat also eine deutsche Zeitung in den Film hineinkopiert, so daß William nun das Neven-Dumont-Blatt in den Händen hält. Das ist sicher bodenlos. Was wird sich der Verleger freuen, daß sein Schmierblatt zur Morgenlektüre des New Yorker Allgemeinmediziners gehört.

Bei diesem Film ist das nur folgerichtig. "Eyes Wide Shut" sei vom Tom-Cruise-Plateau aufs Kubrick-Niveau abgestürzt, beeilte sich Warner im Vorfeld des Starts zu sagen, was immer das bedeuten mag. Und beim Filmverleih hat man die Variante "Adrian Lyne" gewählt: Dessen Remake von Kubricks "Lolita" Anfang 1998 bestand nur aus dem Rummel, den Lyne um diesen Film in der Presse anzettelte.

Hier ist es, unter Berücksichtigung des Getuschels um die Ehe der Hauptdarsteller, kaum anders verlaufen. Ein schlimmes Ende für die Arbeit der zwei wunderbaren Schauspieler und das Alterswerk des sonst wohl legendären Regisseurs, dem nicht mehr einfiel, als mit altbewährten Mitteln Bedeutungen beim Rezipienten zu akquirieren, wie sonst nur David Lynch ("Lost Highway"): Es geht nicht weiter? Gut, Bild stehen lassen, das hat schon bei "2001 - Odyssee im Weltraum" Effekt gezeigt, zumal bei denen, die von der kommunistischen Partei und ihrer Eindeutigkeit genug hatten und deshalb den Kinofilm für sich entdeckten. Heute ist das Kino für Erstsemester und Kritiker. Die lieben das Bild ebenso, weil man daraufhin den Film vergessen kann.

Wenn der dann zu Ende gegangen sein wird, stellt man fest, es hat sich nicht wirklich etwas verändert. Darin liegt das Identifikationsmoment. Bei den anderen wird hängengeblieben sein, daß der Schauspieler Sky Dumont den klischee-ungarischen Verehrer von Alice spielt. Dumont, den kennen wir vom Zahnarzt. Der ist vom deutschen "Traumschiff" - und damit eine "Goldene Blatt"-Legende.

Doch halten wir ein: In einer Szene, als Alice mit William vor dem Spiegel kuschelt, da schaut sie leicht zur Seite, weil sie der Ehemann langweilt, weil ihr die Phantasie von einem Marinesoldaten immer wiederkehrt, den sie kurz in einem Hotel sah und von dem sie ihrem Mann berichtet: "Ich hätte mein ganzes Leben hingeworfen, um eine Nacht mit ihm zu verbringen." Im Kontext von Leinwand, Kino und Warner Bros., da sagt dieser Blick: Holt mich hier raus!

Das ist natürlich kaum zu belegen, und ich gebe zu: Ich bin mit dem Fernsehen groß geworden, die Möglichkeit hatte Kubrick leider nicht. Sein Film hingegen stemmt sich genau dagegen: "Eyes Wide Shut" ist vielleicht ein letzter, aber in jeder Hinsicht groß angelegter cineastischer Versuch, mit Bildern die Zeit aufzuhalten. Dazu wählte er die literarischen Mittel des 19. Jahrhunderts, die filmischen des mittleren 20. Genau die Zeit, in der er zum Star wurde.

Das ist das Problem mit der Filmkunst heute - sie will dem Kino einfach nicht mehr einleuchten, da wirkt sie seltsam zeitversetzt. Was zum Glück für viele bedeutungslos bleiben könnte: In fünf Jahren werden die Protokolle der Filmarbeiten veröffentlicht. Da werden wir mehr wissen, auch, ob Kubrick als Mumie am Set des Cruise/Kidman-Dramas saß - welch ein Regisseur! Oder wie ich lernte, "Eyes Wide Shut" zu lieben. Das wird noch erstaunliche Perspektiven eröffnen: Vielleicht wird David Lynch "Eyes Wide Shut" verfilmen. Und Lyne macht ein Jahr später dann ein Remake mit Brad Pitt und Jennifer Aniston. Als erotischstes Paar Hollywoods lagen sie jüngst in einer Umfrage vor Cruise/Kidman.

"Eyes Wide Shut". USA 1999. R: Stanley Kubrick, D: Tom Cruise, Nicole Kidman, Sydney Pollack, Marie Richardson, Sky Dumont. Start: 9. September