Die italienische Schüler- und Studentenbewegung

Keine perfekte Welle

Seit Wochen protestieren italienische Schü­ler und Studenten gegen die mittlerweile verabschiedete Bildungsreform der Regierung von Silvio Berlusconi. Sie hoffen, ihren Protest in die Gesellschaft zu tragen, und haben dabei aber ein Problem: Die Neofaschisten wollen mitmachen.

Morton Rhues Roman »Die Welle« wurde nie ins Italienische übersetzt. Dass sich die seit Wochen anhaltende Protestbewegung der Schüler und Studenten als onda anomala (wörtlich: »Freak Wave«) bezeichnet, weckt deshalb in Italien keine Assoziationen mit der manipulierten, autoritären Gemeinschaft des in dem Buch beschriebenen amerikanischen Schulexperiments. Mit der Welle werden in Italien derzeit andere Bilder assoziiert.
So ist seit Freitag voriger Woche, als anlässlich des von der Gewerkschaft CGIL organisierten Streiks der Universitätsangestellten die Protestbewegung circa 200 000 Schüler und Studenten, Doktoranden und Hilfswissenschaftler in die Hauptstadt trug, von einer ansteigenden »Flut« die Rede, die alles mit sich fortreißen werde: das Ende Oktober verabschiedete Dekret, welches die drastischen Kürzungen im Bildungsetat vorsieht, die Regierungsvertreter, die die Einsparungen zu verantworten haben, und schließlich das gesamte marode System der italienischen Univer­sität. Mit dem Slogan »Wir lassen uns nicht repräsentieren!« entzog sich die Protestbewegung jeder gewerkschaftspolitischen Vereinnahmung. Sie blieb nicht in den geordneten Bahnen des Demonstrationsstroms und lief auch nicht vor dem für die Abschlusskundgebung aufgebauten Podium ruhig aus, sondern zog wild durch die engen Gassen der römischen Innenstadt und drängte sich bis vor das von einem martialischen Aufgebot der Polizei abgeriegelte Parlament.

Der Auftritt der Onda ähnelt der Ola-Welle aus den Fußballstadien: eine bunte, laute Massenbewegung, die ihre eingängigen Sprechchöre mit rhyth­mischem Klatschen begleitet. Die ausgelassene Menge pocht auf den »unparteilichen« und »unpolitischen« Charakter des Protests. Die Bewegung sei »weder rechts noch links«. Die Gedanken sollen »nicht rot« und »nicht schwarz«, sondern »frei« sein. Das ist die vermeintlich post-ideologische, mehrheitsfähige Stoßrichtung, die den derzeitigen Protest antreibt. Doch nicht alle scheinen diese Ansicht, die eine heftige Debatte in der linken Tageszeitung il manifesto ausgelöst hat, zu teilen. Immerhin waren am Freitag vermehrt antifaschistische Bekenntnisse zu hören sowie der Sprechgesang: »Wir sind alle Antifaschisten.«
Insbesondere in den ersten Wochen des Protests hatte der betont »unpolitische« Charakter der Schüler- und Studentenbewegung verschiedenen rechtsextremen Gruppierungen die Gelegenheit gegeben, auf der »Monsterwelle« mitzureiten. Als der Blocco Studentesco, die Jugendorganisation des besetzten neofaschistischen Centro Sociale Casa Pound (Jungle World 38/05), den Protest für die eigenen Inhalte zu instrumentalisieren suchte und sich an die Spitze einer Demonstration drängte, fielen die Reaktionen zunächst erschreckend verhalten aus. Nur vereinzelt verließen linke Gruppen den Demonstrationszug. Ende Oktober, anlässlich der Abstimmung über das Re­gierungsdekret im Senat, eskalierte der Konflikt schließlich doch, als eine Gruppe von Rechtsextre­men auf der nahegelegenen Piazza Navona mit Gürteln und Schlagstöcken auf die Protestierenden, größtenteils wehrlose Jugendliche aus den Mittel- und Oberstufen römischer Gymnasien, ein­prügelte.
Die Regierung wich Nachfragen der Opposition aus, warum die zahlreichen an Ort und Stelle aufgestellten Polizeieinheiten nicht sofort eingegriffen hätten und wie es überhaupt möglich gewesen sei, einen mit Schlagwerkzeugen belade­nen Kleintransporter auf die verkehrsberuhigte Piazza zu bringen. Stattdessen sah sie ihr Theorem von den »entgegengesetzten Extremismen« bestätigt. Doch die Videoaufnahmen, die sowohl auf den Internetseiten der Tageszeitung La Repubblica (http://tv.repubblica.it/copertina/scuola-scontri-in-piazza-navona/25719…) als auch in einem populären Fernsehprogramm auf Rai-Tre zu sehen waren, lassen keinen Zweifel über den Ablauf des Angriffs, vor allem aber entlarven sie die Gesichter von stadtbekannten rechten Schlägern. Neben den Hausherren der Casa Pound waren auch Anhänger der neofaschistischen Partei Forza Nuova dabei. Die Brutalität des Angriffs scheint die Mehrheit der betont friedlichen Studentenbewegung aufgeschreckt zu haben. Doch es waren anscheinend erst die Prügeleien, die dazu führten, dass die Präsenz von Neo­faschisten bei den Protesten nicht geduldet und dezidiert abgelehnt wird. Neben den antifaschis­tischen Sprechchören gab es auf der Demonstration am Freitag auch Transparente gegen die rechte Studentenvereinigung.
Allerdings hat sich nur die militante, außerparlamentarische Rechte mit ihrem aggressiven Auftritt disqualifiziert. Andere neofaschistische Gruppierungen sehen sich weiterhin als Teil der Protestbewegung. Azione Universitaria zum Beispiel, die Studentenorganisation der postfaschisti­schen Alleanza Nazionale, wird von den Massen­medien als Gegenpart zum linken Protestflügel hofiert. Die Sprecher der autonomen, linken Studentengruppen haben gegen diese publikumswirksame Inszenierung bisher nicht eindeutig Position bezogen.

Dabei richtet sich der Protest der rechten Stu­den­tenorganisationen keineswegs grundsätzlich gegen die Bildungsreform. Während der De­mons­tration am Freitag traf sich Azione Nuova, eine regierungsfreundliche Abspaltung der Casa Pound, zu einem Sit-in vor dem Bildungsminis­te­rium. Unter dem Motto »68 umkehren« wurde zwar gegen die Einsparungen im öffentlichen Bildungswesen protestiert, gleichzeitig aber dazu aufgefordert, die vermeintliche Hegemonie der »linken Barone« an italienischen Universitäten zu brechen. Damit propagieren die rechten Studentenorganisationen die von der Regierung ausgegebene These, die Mehrheit der Protestbewegung werde vom »linken akademischen Establishment« instrumentalisiert, das seine alten Privilegien verteidigen wolle.
So verhalten der Protest gegen die Rechten auch ausfällt, so vehement wehrt sich die linke Studentenschaft gegen den Vorwurf, den Status quo an der italienischen Universität aufrechterhalten zu wollen. Die Forderungen, die auf die Straße getragen werden, bedienen sicherlich den Populismus dieser Tage (»Wir zahlen nicht für eure ­Krise!«) und bringen nicht zuletzt die Angst zum Ausdruck, aufgrund der Einsparungen im Bildungsbereich künftig nicht mehr dem kapitalistischen Überlebenskampf (»Finger weg von unserer Zukunft!«) gewachsen zu sein. In den Diskussionsprotokollen der autonomen Zusammen­schlüsse (vgl. uniriot.org oder ateneinrivolta.org) werden die Analysen jedoch kritischer, die Forderungen radikaler. In der im Anschluss an die Demonstration einberufenen Vollversammlung an der römischen Universität La Sapienza debattierten am Wochenende einige tausend Studenten und nach Jahren der prekären Beschäftigung altgewordene »Jungakademiker« in den besetzten Fakultäten der Literaturwissenschaften, der Physik und der Politikwissenschaft über »Didaktik«, »Sozialstaat und Studienrechte« sowie »Ausbildung und Arbeit«.
In den drei Workshops wurden nicht nur die Kürzungen des Bildungsetats kritisiert, sondern die gesamte Bildungspolitik der vergangenen Jahr­zehnte wurde abgelehnt. Die Hoffnung, die patriarchal geprägten, überalterten Strukturen der italienischen Athenäen durch die Bachelor-Master-Umstellung modernisieren zu können, sei enttäuscht worden. Das System der Sammlung von »Credits« sei ebenso gescheitert wie das Finanzsystem, dessen Wortschatz sich der neue Markt des Wissens bediene. Andererseits sei es den hierarchisch-korporativ organisierten Instan­zen der italienischen Akademie gelungen, ihre alte Klientelwirtschaft an das neue Modulverfahren anzupassen.
Ziel der autonomen Gruppierungen sei weder die einfache Rücknahme des Regierungsdekrets noch Verhandlungen mit den für die universitäre Misere politisch und akademisch Verant­wort­lichen, zumal die bisher eingebrachten Vorschläge, die Umwandlung der Universitäten in private Stiftungen oder die staatliche Finanzierung von Exzellenzakademien, den kritisierten Weg fortset­zen. Der Vollver­samm­lung geht es vielmehr um die Ausarbeitung eines Projekts zur »Selbstreform« der Akademie, nicht im Sinne einer Renais­sance des Humboldtschen Bildungsideals, sondern im Hinblick auf die Herausbildung einer neuen »globalen Universität«. Was unter diesem nicht genauer definierten Begriff zu verstehen ist, soll sich aus den Forderungen der Abschlusserklärun­gen der Workshops erschließen. Dazu gehören die Revision der Bachelor-Master-Studiengänge, die Aufhebung des Leistungspunktesystems, die Senkung der Studiengebühren, die Einführung eines »Ausbildungsgehalts«, die Abschaffung der unbezahlten Praktika und die arbeitsrecht­liche Grund­absicherung für alle bisher prekär be­schäftigten Dozenten und Assistenten.

Die prekären Arbeiter der Universitäten drängen außerdem darauf, den Protest aus der Universität in die Gesellschaft hineinzutragen und die Zusammenarbeit mit anderen prekär Beschäf­tigten der italienischen Wirtschaft zu suchen. In Turin solidarisierten sich bereits einige Studen­tengruppen mit den von Kurzarbeit und Entlassungen bedrohten Fiat-Arbeitern, während sich in Rom studentische Abordnungen an den Protesten der Basisgewerkschaften von Alitalia beteilig­ten. Der Vorschlag, onda anomala möge sich an dem von der Gewerkschaft CGIL für den 12. Dezem­ber angekündigten Generalstreik beteiligen, wurde denn auch mit großem Applaus angenom­men.