Das Auto und die Industriegesellschaft

Individuell vorankommen

Wenn die Automobilindustrie in der Krise ist, geht es nicht nur um Arbeitsplätze. Das Auto ist Motiv und Medium der Industriegesellschaft.

Das Automobil ist die Botschaft

Das Automobil war das prägende Medium des vergangenen Jahrhunderts. Das Auto hat Straßen verlangt, deren Oberflächen glatt wie Teppiche waren, das Auto brauchte Asphalt, Gummi, Erdöl und die Fabrik, es brachte das Fließband. Das Auto hat Städte verändert, mittelalterliche Mauern geschleift, Schneisen durch verwinkelte Barrios geschlagen, die moderne Stadt und ihre Raumaufteilung definiert. Hier wohnen, dort arbeiten und dort einkaufen – Stadtrand, Industriegebiet, City – definierte und kontrollierte Räume. Das Auto brachte eine Form des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens hervor, eine Alltagskultur, das Auto wurde zu einem Kultobjekt. Der Kauf des ersten Autos kam einem Ritual der Initiation in die wirkliche Erwachsenenwelt gleich, einer Hochzeit. Ja – das Auto war geil.
Das Auto war das Produkt, welches von der führenden Industrie des 20. Jahrhunderts hergestellt wurde, und es stellte gleichzeitig eines der größten Versprechen der Industriegesellschaft dar – das Versprechen von individuellem Vorankommen. An die Stelle der Befreiung der Arbeiterklasse trat die Jagd des (klein-)bürgerlichen ­Individuums und seiner Kernfamilie nach dem Glück.

Das Auto wurde zweimal erfunden

Die Grundidee des Automobils ist die Kutsche ohne Pferde, und es dauerte recht lange, bis sich die äußere Gestalt des Autos deutlich von seinem Vorbild löste (etwa ab 1920). Die ersten Auto­mobile gab es ab 1860. Wenn wir heute vom Auto reden, meinen wir allerdings ein Gefährt, das von Henry Ford in Detroit neu erfunden wurde, nämlich ein Produkt, das für tendenziell alle Lohnarbeiterinnen und -arbeiter der Industriegesellschaft erschwinglich ist. Zwar wurden die technischen Voraussetzungen – der Verbrennungs­motor und seine Montage auf vier (mitunter auch drei) Räder – schon viel früher geschaffen; die vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich und den USA entstandenen Gefährte kamen jedoch aus Tüftler-Werkstätten und Manufakturen, nicht aus Fabriken. Es wurden geringe Stückzahlen gebaut, die nur für Reiche und Superreiche erschwinglich waren. Das Auto schien Lichtjahre davon entfernt, einmal den Zug als bevorzugtes Fortbewegungsmittel der Massen abzulösen.

Das Fließband

Mit Henry Fords T-Modell änderte sich die Sachlage. Es kam 1908 auf den Markt. Um die große Nachfrage bedienen zu können, entwickelte Ford bis 1913 in Detroit die weltweit erste Fließbandproduktion eines langlebigen Konsumguts. Fords Neuerfindung bestand darin, eine Produktionsweise auf das Auto zu übertragen, die unter Taylorisierung bekannt wurde: die wissenschaftlich gestützte Zerlegung der Fertigung in einzelne Hand­griffe und die Aufteilung der Handgriffe auf einzelne Arbeiter. Das Fließband fährt den Motorblock und das Fahrgestell an den Arbeitern vorbei, und diese montieren gleich Robotern in einer unerträglichen und in der Geschichte der Menschheit bis dahin kaum gekannten Mono­to­nie die verschiedenen Bestandteile an das Objekt.

Fünf Dollar am Tag

Zum zweiten wesentlichen Schritt in der Verbreitung des Automobils sah sich Henry Ford durch den eskalierenden Klassenkampf gezwungen. Um von seinen Fabriken radikale Gewerkschaften wie die Industrial Workers of the World fernzuhalten, die bereits 1909 die taylorisierte Eisenbahnwaggon-Fabrik von US Steel in McKees Rocks (bei Pittsburgh) mit einem erfolgreichen Massenstreik lahmgelegt hatten, führte Ford im Januar 1914 den Fünf-Dollar-Tag ein – damals sehr viel Geld für ungelernte Massenarbeiter. Fünf Dollar gab es, wie Ferruccio Gambino in einer Kritik des ­Fordismus-Begriffs schreibt, »aber nur für die Arbeiter, welche die soziologische Abteilung von Ford nach minutiösen Recherchen in ihrem Privatleben für geeignet befindet, und nur in der Hochkonjunktur, als Ford dringend seine Belegschaft stabilisieren muss, denn die Arbeiter verlassen seine Fabriken wegen der aufreibenden Taktzeiten«.
Die Hochlohnpolitik ging auf. Bis 1941 gab es bei Ford keine Gewerkschaften, und tatsächlich ähnelte das Regime bei Ford einer Art real existierendem Faschismus, der erst durch lange Kämpfe der Arbeiter und Arbeiterinnen gezähmt und zivilisiert werden musste. Gambino schreibt weiter: »In den 20 Jahren, die der gewerkschaftlichen Organisierung 1941 bei Ford vorausgehen, führen bei Ford die Manager und Wachschutz-Schläger die Repression gegen die Arbeiter mit Faustschlägen, Rausschmissen und Public Relations. (…) Es ist eine Tatsache, dass der fordistische Wahn, den Rhythmus des menschlichen Handelns zu zerbrechen, um es nach einem rigiden Plan auf weltweiter Ebene zu verdichten, in den Vereinigten Staaten besiegt wird, aber in der Zwischenzeit ist er schon auf das in Flammen stehende Europa übergesprungen.«

Auto und Faschismus

Henry Ford und Adolf Hitler hegten eine gegenseitige Bewunderung. Ford, ein offener Antisemit und Gewerkschaftsfeind, wurde 1938 mit dem »Großkreuz des deutschen Adlerordens« behängt, eine Schande, die er mit dem General-Motors-Boss James D. Mooney teilte. Ford ist der einzige Amerikaner, der in Hitlers »Mein Kampf« lobend erwähnt wird, und es gibt Berichte des bayerischen Landtags von 1922, nach denen Henry Ford die nationalsozialistische Bewegung schon zu diesem frühen Zeitpunkt finanziell unterstützt haben soll.
Die Fließbandproduktion ist in Deutschland erstmals 1924 bei Opel in Rüsselsheim eingeführt worden; der damals größte deutsche Autopro­duzent wurde am 17. März 1929 von General Motors übernommen, vom ewigen Rivalen, der den Auto-Pionier Ford zu diesem Zeitpunkt bereits überholt hatte. Die Ford Motor Company unterzeichnete am 28. Oktober 1929, drei Tage nach dem Schwarzen Freitag, mit dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer den Vertrag, ein großes Werk in Niehl zu bauen. Das Fordwerk konnte 1931 den Betrieb aufnehmen. Durch den Technologie- und Know-how-Transfer von Detroit nach Köln und Rüsselsheim lernte auch die deutsche Industrie, wie Konsumgüter in Massenproduktion herzustellen waren.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass der nächste Schritt der Umformung der Gesellschaft für das Automobil in Deutschland vollzogen und vom automobilbegeisterten Führer als Konjunktur- und Arbeitsbeschaffungsprogramm keynesianischer Prägung aufgelegt wurde – die Autobahn. Der massenhafte Individual-Verkehr (Volkswagen) kam allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Autobahn. Vorher rollten dort hauptsächlich die LKW der Wehrmacht, die u.a. bei Ford Köln produziert wurden.

Autos kaufen keine Autos

Aber zurück zum Fünf-Dollar-Tag von 1914: Durch eine stark verringerte Fluktuation der Belegschaft am Band stieg deren Produktivität. Die Menschen spielten sich ein, griffen ineinander. Das Band konnte beständig beschleunigt werden. Die Produktivität stieg so sehr, dass die mit höherem Lohn ausgestatteten Arbeiter sich bald die von ihnen produzierten Autos, also das Produkt ihrer Arbeit, selber leisten konnten.
Ein fehlendes Element hierzu, das ebenfalls von Henry Ford eingefügt wurde, war die Ford-Bank. Also die Idee, zunächst den eigenen Arbeitern, später auch Kunden mit festem Einkommen einen Kredit zu gewähren, der es ihnen ermöglichte, das erwünschte Produkt zu kaufen. Durch den Kredit verpfändeten sie sich an ihren Arbeitsplatz.
Der Siegeszug des Autos folgte nach dem Zweiten Weltkrieg, der – betrachtet man die Geschichte aus dem Scheinwerferblick des Autos – die mittelalterliche Stadt beiseite räumte und die Menschen so traumatisierte, dass sie der Dia­lektik aus Fließband und Konsum wenig entgegenzusetzen hatten. Seine Blütezeit, die Ära der Hochkultur, hatte das Automobil in den fünfziger Jahren. Keine Kulturepoche hat es so sehr zum Thema gemacht, so erotisiert wie der Rock’n’Roll. Die Autos waren reich an Verzierungen, riesig, sie luden auf ihren gepolsterten Rückbänken zum Sex ein. Autokinos entstanden und Drive-In-­Restaurants. Die »Hot Rods« waren weiblich, sie wurden in Rock’n’Roll-Songs besungen wie eine Freundin.

Potenzstau

Im Gegensatz zu seinem Versprechen, das ja Freiheit, Autonomie, Flexibilität heißt, entpuppte sich das Auto in seiner Gesamtheit als ein Medium, das bedingt ist durch Monotonie, fast schizophrene Abspaltung, Starre, Beton, die Ödnis der Fabrikgesellschaft. Zumindest in Westdeutschland, der bis heute am stärksten asphaltierten Region des Planeten, wandelte sich der Auto-Mythos in sein Gegenteil. Das Auto geriet immer häufiger in einen Stau der verhinderten PS-Potenz, der Aggression. Die Auto-Ära wurde zu einem Modell, das auch deshalb seit den siebziger Jahren in die Krise geriet, weil die nachwachsenden Generationen – zumindest die innovative proletarische und bürgerliche Jugend – beides nicht mehr wollten: am Fließband schuften und am Stadtrand verblöden wie ihre Eltern. Sie stellten fest, dass sie kein Auto brauchten, wenn sie in den verlassenen Altbauten der Innenstadt wohnten.
Die Witze rund um den Opel Manta, die in den neunziger Jahren kursierten, zeigten, wie sehr sich die Zeiten gewandelt hatten. Sie waren wie ein provinziell-ironisches Echo auf den James-Dean-Autokult der Fünfziger. Längst gaben japanische Hersteller den Takt vor, deren Autos jede Coolness abging. Ein Automobil in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, es zu erotisieren, hat seither etwas Lächerliches – auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben; der Autokult wird heute nur noch in Nischen der Pop-Musik, wie dem Gangster-Rap, gepflegt. Und eine Generation Golf hat es meiner Meinung nach nie gegeben. Wir waren Tramper oder fuhren gebrauchte Kombis.