Die Zukunft der Grassroots-Bewegung

Massen ohne Auftrag

Was wird aus der riesigen Grassroots-­Bewegung, die Obamas Wahlkampf unterstützt hat? Wird sie in die Demokratische Partei integriert oder bildet sie künftig eine unabhängige politische Struktur?

»Obamas Sieg lässt seine zwanghaften Unterstützer erkennen, wie leer ihr Leben ist«, betitelte das amerikanische Magazin The Onion einen seiner Fake-Videonachrichtenclips über die schier unüberschaubare Zahl von jungen, netten,­en­ga­gierten Menschen, die die vergangenen Wochen und Monate damit verbracht haben, an Haustüren, am Telefon oder per Mail die Amerikaner davon zu überzeugen, ihre Stimme Barack Obama zu geben. David Plotz, 24jähriger Student aus Chicago, war einer dieser Obamaniacs und sagt heute: »Die erste Woche nach der Wahl habe ich gefeiert. Jetzt bin ich aber wirklich ein wenig deprimiert.«
Dieser Zustand der Apathie – im Onion-Video irren die Obama-Aktivisten wie Zombies mit leerem Blick durch die Straßen – speist sich aber kaum aus gebrochenen Wahlversprechen Obamas. Die gab es ohnehin kaum, eher manövrierte sich der künftige Präsident mit Gemeinplätzen, Andeutungen und suggestiven Slogans erfolgreich durch den Wahlkampf – zumal auch niemand genauer nachfragen wollte, was Obama denn nun so alles vorhabe. »Yes, we can!« hatte eben zunächst nicht mehr zu bedeuten als: »Yes, we can make Barack Obama the next President of the United States.«

Dieses beschränkte Ziel aber zeigte gewaltige Wirkung – gezielt initiiert und koordiniert von Obamas Wahlkampfteam mit exponierter Erfahrung als »Community Organizer«: Drei Millionen Amerikaner spendeten über 600 Millionen Dollar für die Kampagne; Obamas E-Mail-Adressbuch umfasst 13 Millionen Einträge; auf seiner interaktiven Seite My.BarackObama.com erstellten zwei Millionen Anhänger Profile; 35 000 Freiwilligengruppen wurden im Land gegründet. »Obama ist nun Chef des größten, bestorgani­sierten, reichsten und enthusiastischsten politischen Unternehmens des Landes«, resümiert Omar Wasow vom afroamerikanischen Magazin The Root.

Es könnte einem fast Angst und Bange werden, vor diesem ganzen Massentaumel, doch in den USA hat er enge Grenzen und eine begrenzte Halb­wertszeit. Die ganze Euphorie, der ganze, beinahe aus dem Nichts kommende inhaltsleere Aktivismus von sich bis dahin wenig um politische Dinge kümmernden Menschen erinnert eher an den Widersinn einer Technoparty ohne Musik und Drogen. Die am nächsten Tag auf die autosuggestive Anstrengung folgende Erschöpfung und Leere ist so nur folgerichtig, wie auch die schon einsetzende Rückkehr zum business as ­usual – sowohl bei den Anhängern Obamas als auch in der Politik der USA: Der Republikaner Robert Gates bleibt Verteidigungsminister, die ebenfalls eher für Kontinuität stehende Hillary Clinton wird Außenministerin, und Obama selbst richtet sich nun erst mal im Washingtoner Es­tablishment ein, zu dem er doch eigentlich eine Alternative darstellen sollte.
Die Desillusionierung wird sich auch deshalb in Grenzen halten, weil Obamas Wahlsieg auf der Wahrnehmung der Amerikaner beruht, dass ihr Land sich in einem einzigen großen Schlamassel befindet, aus dem wohl nur äußerst mühsam wieder herauszufinden ist. Und auch von den Lin­ken, wie zum Beispiel vom Bündnis »Progressives for Obama«, in dem sich etablierte Linke wie Tom Hayden oder Barbara Ehrenreich zusammengeschlossen haben, droht Obama nur verhaltene Kritik. Sie haben ihn ohnehin nie wirklich für einen der ihren gehalten und ihre Unterstützung nur mit allerlei Einschränkungen ge­geben.
Das Phänomen Obama bedeutet in den USA anderes als in Europa, wo es »ziemlich bizarr« sei, wie Anne Applebaum im Slate Magazine festhält: »Was ist mit den jubelnden Deutschen los? Ihr Land hat keinen schwarzen Kanzler gewählt (und auch keinen türkischen) und wird das auch in absehbarer Zeit nicht tun.« Und da auch der neue Präsident sich eher um amerikanische Interessen als um europäische Wunschvorstellungen kümmern wird, gibt sie der internationalen Linken »sechs Monate, bevor sie sich wieder hinter dem Banner des Antiamerikanismus vereinigt«.
Der in einer Endlosschleife angekündigte »Change« findet also weniger in den Inhalten der amerikanischen Politik statt. Offen allerdings ist, wie sehr sich durch die Art und Weise der Wahl Obamas die Form der amerikanischen Politik verändert hat – und sich möglicherweise noch ändern wird. Eben wegen der großen, sich selbst generierenden Unterstützerszene, die so in der amerikanischen Geschichte ohne Beispiel ist, ist es Obama gelungen, wie ein unabhängiger Kandidat zu erscheinen, obwohl er auf dem demokratischen Ticket angetreten ist. Und da diese Unabhängigkeit nicht nur Fiktion war, sondern sich ja im tätigen Engagement von Millionen geäußert hat, stellt sich die Frage, was Obama nun mit diesen Unterstützern anfängt. Das Dilemma dabei ist, wie Nicholas von Hoffman es in The ­Nation etwas zugespitzt ausdrückt: »Entweder die Demokratische Partei zerstört Obama, oder er zerstört die Demokratische Partei.«

Die zweite Variante kann eintreten, wenn die ­Obama-Community zu einer dauerhaften Paral­lel­organisation der Demokraten wird und so als Machtmittel gegen den fein austarierten, schon traditionellen Lobbyismus innerhalb der Demokraten Verwendung finden kann. »Unsere Stimmen sind mächtiger als die am festesten verwurzelten Lobbyisten in Washington«, erklärte Obama am Ende des Wahlkampfs. Gegen die ­Integration der Bewegung in die Demokratische Partei spricht vor allem, dass es der Clou der Kampagne war, Leute zu gewinnen, die mit dem bestehenden Parteiensystem nichts zu tun haben wollten und deren Ideologie sich eher aus dem Web 2.0 speist, angefeuert vom Chef von Google und Berater Obamas, Eric Schmidt, mit Sinnsprüchen für die Gläubigen wie »Eine Community wird immer bessere Entscheidungen treffen als ein Einzelner.«
Welchen Weg Obama letztlich einschlagen wird, ist aber bisher noch unklar: Einerseits hat sein Wahlkampfchef David Plouffe kürzlich die 13 Millionen von Obama gesammelten E-Mail-Adressen zu einem Spendenaufruf für die finanziell ma­roden Demokraten nutzen können. Andererseits bemüht sich Obama, der schon im Wahlkampf unorthodoxerweise auf materielle Unterstützung durch »Political Action Committees« der Demokraten verzichtet hatte, nun darum, die Treue seiner Anhänger aufrechtzuerhalten. Er schenkte seinen bezahlten Helfern ein zusätz­liches Monatsgehalt, sofern sie nach dem Wahlkampf arbeitslos geworden sind, außerdem durften seine Helfer die Laptops und Blackberrys aus der Kampagne behalten.
In Fortführung der Professionalität und des fast fetischhaften bottom-up-Prinzips der Kampagne haben Obamas Anhänger schon einen Frage­bogen erhalten, in dem sie sich über ihre persönlichen Vorstellungen des »Wie weiter?« äußern sollen, um auf dieser Grundlage in der Organisationsfrage eine möglichst pragmatische, heißt: erfolgreiche Entscheidung treffen zu können. Und zwar top-down – auch wenn es im Fragebogen heißt: »Now it’s up to you to decide how we move forward.« Tony Loyd, Obamist der ersten Stunde, Betreiber einer der ersten Nachwahl-Websites und offenbar von innerer Leere schon schwer angegriffen, hat seine Entscheidung getroffen: »Hier draußen steht eine ganze Armee, die nur darauf wartet, weiter in die eingeschlagene Richtung zu drängen. Was immer Obama von uns verlangt, wir werden es tun!«