Ende eines Mythos

Die vielbeschworene Unabhängigkeit der neuen Europäischen Zentralbank ist nur die Kehrseite einer Abhängigkeit von den Zwangsgesetzen des Marktes

Einer der großen Mythen der neoliberalen Ära ist die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken. Ganz besondere Kraft entwickelte dieser Mythos in der BRD, denn er fügte sich hervorragend in den Kult der D-Mark, die nach 1945 zum nationalistischen Identifikationssymbol schlechthin aufrückte. Die Bundesbank, die Hohepriesterin dieses Kults, genießt (oder vielmehr genoß) hierzulande wohl ein weit höheres Ansehen als alle sonstigen öffentlichen und politischen Institutionen zusammen.

Doch so weit her war es mit der vielbeschworenen Unabhängigkeit der Bundesbank noch nie. Unabhängig war sie immer nur von der unmittelbaren und kurzfristigen Einflußnahme durch die Politik (und auch das nie in einem absoluten Sinne). Niemand war berechtigt, ihr direkte Vorschriften in geldpolitischen Angelegenheiten zu machen. Niemand konnte sie zwingen, die Zinssätze zu senken oder zu erhöhen oder etwa die vorgeschriebenen Mindestreserven für die Banken heraufzusetzen. Darauf pochte die Bundesbank unerbittlich, auch dort, wo es nur darum ging, ihren Ruf zu verteidigen, wie jüngst im albernen Streit mit Oskar Lafontaine.

Aber diese Unabhängigkeit von der Tagespolitik war nur die Kehrseite einer viel umfassenderen und Abhängigkeit von den Zwangsgesetzen des Marktes. Die Aufgabe, die Stabilität der Währung zu sichern, bedeutete nie etwas anderes als das Geltendmachen dieser Gesetze gegenüber einer möglicherweise uneinsichtigen Politik. Es versteht sich von selbst, daß dies vor allem deshalb so leicht fiel und den Zuspruch der Bevölkerung fand, als die BRD jahrzehntelang zu den Siegern in der Weltmarktkonkurrenz zählte. Trotz gelegentlicher Spannungen, etwa in Zeiten hoher Zinsen, war die Bundesbankstrategie am Ende immer mit ihren ökonomischen und währungspolitischen Erfolgen zu rechtfertigen.

Doch anders, als es der D-Mark-Mythos will, beruhte die Stärke der deutschen Währung schon seit den achtziger Jahren nicht mehr einfach auf der überlegenen Produktivität der Deutschland AG. Wie überhaupt der Boom der achtziger und neunziger Jahre nicht mehr realwirtschaftlich fundiert war, sondern durch die Aufhäufung von fiktivem Kapital (in Gestalt von Kredit- und Spekulationsgeldern) simulativ genährt wurde, war es vor allem die rege Nachfrage nach der D-Mark auf den transnationalen Finanzmärkten, die deren Kurs stützte. Der Preis dafür war eine noch stärkere Einschränkung der ohnehin begrenzten "Unabhängigkeit" der Bundesbank.

Mit allen Mittel mußte nun eine mögliche Abwertung verhindert werden. Denn wäre die D-Mark ernsthaft ins Trudeln geraten, hätte dies sehr schnell eine Kapitalflucht eingeleitet und das ganze Konstrukt der kreditfinanzierten Verlängerung des "Wirtschaftswunders" (und später des Wiedervereinigungsbooms) wäre zusammengebrochen. Die Bundesbank war also gezwungen, die Zinsen so hoch zu halten, daß die Anlage in D-Mark-Staatsanleihen international attraktiv blieb. Der Zustrom an Geldkapital stabilisierte seinerseits die Währung, da er sich in einer ausreichend hohen Nachfrage nach D-Mark ausdrückte.

Was die Bundesbank zu tun hatte, war, diesen selbstreferentiellen Kreislauf in Gang zu halten. Prinzipiell ist dies ein Zwang, dem heute jede Zentralbank der Welt unterliegt. Doch die Position der Bundesbank war in dieser Hinsicht privilegiert. Sie mußte nicht erst das Vertrauen in die Hauswährung durch horrend hohe Zinsen herstellen, wie etwa die Zentralbank Brasiliens oder, in geringerem Maße, Italiens. Ihre Ausgangsbasis war eine Währung, die sich als zweite internationale Reservewährung etabliert hatte, mehr noch: die spätestens seit der endgültigen Entkopplung des Dollar vom Gold im Jahr 1971 zur Fluchtwährung par excellence aufgestiegen war.

Es war daher kein besonderes Kunststück, was die Bundesbank all die Jahre vollbrachte. Sie brauchte nur die einmal gewonnene Ausgangsposition zu verteidigen, wobei niemand mehr so genau hinsah, ob diese eigentlich noch bestand. Aber das genaue Hinsehen haben sich Anleger und Wirtschaftswissenschaftler in der Ära der Simulation ja ohnehin abgewöhnt. Deshalb konnte es sich die Bundesbank leisten, die Zinsen (auch als sie Anfang der neunziger Jahre im historischen Vergleich extrem hoch waren) regelmäßig unter dem Niveau der anderen europäischen Länder zu halten, die ihrerseits aber noch ein paar Punkte drauflegen mußten, um ihre Währungen nicht abstürzen zu lassen. Prinzipiell befand sich die Bundesbank-Politik deshalb im Einklang mit den Interessen der Bundesregierung. Was blieb, war die Verteidigung der Finanzmarkt-Imperative gegen mögliche konjunkturpolitische Schnellschüsse und allzu überzogene Kreditbegehrlichkeiten der Regierung.

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihre Arbeit unter ganz anderen Rahmenbedingungen aufnehmen und durchführen müssen. Bei der Aufgabe, die Stabilität der neuen Währung zu sichern, kann sie sich nicht auf den allgemeinen Vertrauensvorschuß stützen, von dem die Bundesbank zehrte; zudem muß sie noch das in den letzten Jahrzehnten aufgehäufte kasinokapitalistische Erbe der D-Mark verwalten. Das heißt, sie muß mit aller Gewalt versuchen, die Flucht aus den vormals in D-Mark gehaltenen kreditären und spekulativen Geldanlagen zu verhindern. Prinzipiell ist dies nur mit einer rigiden Hochzinspolitik möglich, doch die würde die realwirtschaftliche Konjunktur abwürgen und damit ihrerseits auch wieder das Vertrauen in den Euro erschüttern.

Außerdem ist glücklicherweise nicht damit zu rechnen, daß die Bewohner von Euro-Land die geldpolitischen Zumutungen mit der gleichen Zurückhaltung hinnehmen werden wie die deutsche Bevölkerung. Denn erstens ist die Bereitschaft zu sozialem Protest außerhalb Deutschlands bekanntlich viel stärker entwickelt (insbesondere natürlich in Frankreich). Und zweitens wird die Geldpolitik der EZB im Gegensatz zu der der Bundesbank weder einen nationalistischen Statusgewinn (wie den spießbürgerlichen Stolz der Deutschen auf ihre D-Mark) noch eine Teilhabe an erzielten Weltmarktgewinnen abwerfen.

Weiterhin eröffnet gerade die Konstruktion der EZB als übernationaler Instanz den europäischen Staaten einen neuen Spielraum der Kreditschöpfung. In Zukunft können sie sich nun wieder fleißig verschulden, ohne die Strafe von Währungsabwertungen innerhalb Europas und von "Risikoaufschlägen" in Form höherer Zinsen befürchten zu müssen. Der sogenannte Stabilitätspakt wird kein Land ernsthaft davon abhalten können, denn mögliche Sanktionen müssen politisch beschlossen werden; da aber alle im Glashaus sitzen (schon im Jahr 1998 wurde die beschlossene Verschuldungsgrenze fast überall wieder überschritten), wird niemand den ersten Stein werfen.

Die vertragliche Unabhängigkeit der EZB ist also nur eine Umschreibung für die unlösbare Zwickmühle, in der sie sich von Anbeginn an befinden wird. Am Euro wird sich bald zeigen, daß schon die D-Mark seit langem nur ein Simulacrum ihrer selbst gewesen ist. Nur ein Faktor könnte vorübergehend zur Stabilisierung der neuen Währung beitragen: die sich seit dem Zusammenbruch Südostasiens zusammenbrauende Krise an den transnationalen Finanzmärkten. Das klingt paradox, ist aber leicht erklärlich. Schon vor dem Euro-Start haben Fluchtgelder aus Asien die europäischen Währungen stabilisiert, weil relativ gesehen zu den sonstigen weltweiten Verwerfungen das zukünftige Euro-Land noch als sicher galt.

Der Dollar, der zwar von dieser Entwicklung auch zunächst profitiert hat, gilt selbst als unsicherer Kantonist, weil die USA über den asiatischen Defizitkreislauf (wechselseitige Handelsbilanz- und Staatsdefizite) eng mit der dortigen Krise verwoben sind. So entstand ein höchst labiles Gleichgewicht, das nur darauf beruht, daß kaum zu entscheiden ist, welche der beiden Währungen denn nun maroder ist. Allzu lang wird dieses Gleichgewicht nicht halten, und schon im Laufe der nächsten ein bis zwei Jahre könnte die innere Haltlosigkeit des Euro-Konstrukts offenbar werden.

Die EZB kann nur hoffen, daß sich die Situation in Asien und Lateinamerika, Japan und den USA im gleichen Tempo verschärft, denn dann kann sie noch eine Weile von der allgemeinen Unsicherheit profitieren und sich als Hüterin der Währungsstabilität imaginieren. Sobald aber der große Run aus dem Euro einsetzt, wird sie sehr schnell die Waffen strecken müssen.