Das Londoner Cutup Collective macht aus Werbung Kunst

Bilder vom anderen Leben

Das Cutup Collective aus London ordnet Werbetafeln neu und gibt ihnen einen neuen Sinn.

Als die brasilianische Stadt Sao Paulo im vergangenen Jahr sämtliche Außenwerbung verbot und man mit deren Demontage begann, fei­erten das viele als Sieg über die »visuelle Verschmutzung« durch Billboards. Tatsächlich wird durch ein solches Vorgehen die Sichtbarkeit des Symptoms Werbung zunächst verringert. Dieses verschwindet deshalb jedoch keineswegs als gängige und prä­gende Praxis aus dem alltäglichen Leben einer durch und durch kapitalistisch organisierten Ge­sellschaft. So steht auch hinter der Aktion in Sao Paulo von Seiten der Initiatoren lediglich der Plan, nach einer Bereinigung der chaotisch und wild wuchernden Displaystrukturen wieder Wer­bung in die Stadt zu bringen, diesmal allerdings in ordentlicher und kontrollierter Form.
Mittlerweile kursieren im Internet zahlreiche Fotos aus Sao Paulo, die weiße Plakattafeln und leere Neonreklameträger zeigen. Dass ihnen von den Rezipienten durchweg ein ästhetischer Wert zugesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass das komplette Verschwinden derartiger Strukturen aus der modernen Stadt keinen Gewinn, sondern einen Verlust an Urbanität bedeutet. Was auf diese Weise verloren geht, ist ein Raum, dessen eigentliche Möglichkeiten bislang nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern größtenteils noch gar nicht wirklich erkannt worden sind. Denn der kommunikative Wert von Billboards reicht wesentlich weiter als bis zu ihrem ursprünglich beabsichtigten Zweck, für Produkte und konforme Lifestyles zu werben. Gerade das, was gemeinhin an ihnen kritisiert wird, nämlich ihr im Bewusstsein von Passanten mittlerweile fest verankertes Verständnis als eine Art Fenster zu einer Welt des Begehrens, sowie ihre Quantität und ihre Qualität als unübersehbare, allgegenwärtige und öffentlichkeitswirksame Displays für die Übermittlung von Bildern und Signalen, birgt ein kreatives Potenzial. Es offenbart sich in seiner ganzen Dimension erst im Missverständnis, in der gestörten Wahrnehmung der vermeintlich so unmissverständlichen und eindeutigen Botschaften.
Wenn die Dominanz der Werbung auf ihrer Praxis beruht, eine permanente Rede zu produzieren, auf die nicht geantwortet werden kann, besteht die eigentliche Negation dieser Praxis weniger darin, sich die Ohren und Augen zuzuhalten, als viel mehr in der Herstellung der Möglichkeit einer Antwort. Dass daher die Perspektive im Umgang mit Werbeflächen im öffent­lichen Raum nicht darin liegt, sie rigoros zu ver­bieten, sondern vielmehr darin, ihre Mög­lich­keiten für die Verbreitung von Inhalten zu nutzen, zeigen die Aktionen des Cutup Collective aus London. Die anonym agierende Gruppe bedient sich mit Vorliebe der in der Stadt vorhandenen Reklame und ihrer Trägerstrukturen, arbeitet mit deren Bildern, Tönen und Lichtern.
Das grundsätzliche Gestaltungsprinzip von Cutup ist destruktiv und konstruktiv zugleich: Es handelt sich um die Zerlegung des Vorhandenen in seine Einzelteile mit dem Ziel, diese neu zusammenzusetzen und als eine Art Kommentar – kreiert aus den Zeichen des Kapitalismus – in das semiotische Umfeld der Stadt zurückzubringen. Ihr Material holt sich die Grup­pe insbesondere von Billboards: Die Aktivisten ziehen die großen Poster in einzelnen Bahnen von den Werbetafeln ab, zerschneiden sie in unzählige kleine Teile und setzen diese an Pixel erinnernden Fragmente mit Hilfe von selbst entwickelten Computerprogrammen zu neuen Bildern zusammen, welche wieder auf die jeweilige Tafel zurück appliziert werden. So erfolgt quasi über Nacht eine Neuordnung von Plakaten, die durch die simple Umverteilung und Ver­schiebung von Bildelementen nun völlig neue und unerwartete Inhalte übermitteln.
Die Resultate dieser Eingriffe sind flüchtig und oft nur wenige Tage sichtbar, bevor sie unter neuen Werbepostern verschwinden, auf die das Kollektiv wiederum mit neuen Interventionen antwortet. Das Cutup Collective versteht sein Tun ganz im Sinne der Lettristen und Situationisten als ein Spiel, dessen Regeln immer wieder zu definieren und zu brechen sind, das sich beständig im Fluss befindet und bei dem es nicht um die Herstellung fertiger Produkte oder gar Kunstwerke geht, sondern um das Tun an sich, um das unermüdliche und unaufgeforderte Kommentieren dessen, was eigentlich unkommentiert bleiben wollte.
Der konkrete Störfall tritt ein, wenn aus Bildern, die eigentlich dazu dienen sollen, unser Begehren zu wecken, unvermittelt eine tiefe Un­zufriedenheit und ein großer Zweifel sprechen. Die Motive, die das Kollektiv aus den scheinbar glamourösen Bildwelten der Werbeplakate hervorholt, sind beunruhigend und verstörend: Sie zeigen ruinierte Städte, vom Unwillen gezeichnete Gesichter, irritierende Visionen vom Ende des Spektakels. Sie bleiben eher Ahnung, als dass sie zur Gewissheit werden: Was in der Ferne klare Formen annimmt, löst sich aus der Nähe betrachtet in ein Pixelchaos aus bunten Pla­katschnipseln auf. Und doch beginnen diese Ahnungen, einmal ins Spiel gebracht, im Ur­sprüng­lichen zu rumoren und es zu verderben. Die vermeintlich geschlossene und cleane Ober­fläche des Begehrens ist aufgebrochen und gibt nun den Blick frei auf das Unerwünschte und Verdrängte.
Dem Cutup Collective gelingt es damit auf ebenso einfache wie beeindruckende Weise, einen produktiven Widerspruch sichtbar zu machen. Für seine offensive Auseinandersetzung mit der Frage nach der Besetzung von Raum und Aufmerksamkeit durch Werbung benutzt das Kollektiv das Medium selbst und seine spezifische Ästhetik, um konträre Botschaften einzuschmuggeln.
Welche und wie viele Personen sich eigentlich hinter dem Namen Cutup verbergen, darüber gibt die Gruppe keine Auskunft. Das Prinzip der Destruktion, des Zerteilens und Aufspaltens, soll nicht nur auf Werbeplakate, sondern auch auf die eigene Identität angewendet werden. Im Rahmen eines kollektiven Agierens, wie es von Cutup praktiziert wird, ist die Frage nach der konkreten Autorenschaft tatsächlich uninteressant, da im Vordergrund steht, was gemacht wird, und nicht, wer es macht. Indem sich die Gruppe dennoch einen Namen gegeben hat und diesen auch nennt, wird sie letztlich aber doch als Autor benennbar. Damit steht dem Eintritt in den Kunstbetrieb nichts mehr im We­ge, denn gerade hier ist es nichts Neues, dass anonym, also unter Pseudonym gearbeitet wird. Die Faszination, die von Künstlern ausgeht, speist sich dann auch daraus, dass gerätselt wird, wer sie denn nun wirklich sind. Der Sprayer Banksy und der Autor Thomas Pynchon sind hier nur zwei Beispiele. Eine ausschließliche Wahrnehmung von Cutup als Künstlergruppe und ihrer Interventionen als Kunst ist daher sehr naheliegend – insbesondere da es bereits Galerieausstellungen gegeben hat –, vielleicht aber nicht unbedingt im Sinne des Kollektivs. Die Zu­schreibung »Kunst« impliziert heute immer auch die Entschärfung eines radikalen gesell­schaft­lichen Störpotenzials, das so in eine geregelte Ökonomie der Zeichen eingegliedert wird. Im Bereich Kunst sind derartige Störungen nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Sie werden damit zur vernachlässigbaren Größe, mit der gerechnet werden kann.
Einem Verschwinden in der Schublade »Street­art« könnte das Cutup Collective vielleicht am besten mit einer unkontrollierten Expansion ent­gehen. Durch eine Freigabe und Verbreitung der Werkzeuge, der entsprechenden Programme und Techniken, wäre es möglich, dass sich die bisher räumlich beschränkte Praxis gleich einem Virus ausbreitet und wesentlich mehr Billboards infiziert, als es bisher der Fall war. Dann könnte der Name Cutup irgendwann tatsächlich für das stehen, was Mitglieder der Gruppe als ihr Wunschziel formulieren: »to act like a machine«, zu funktionieren wie eine Maschine, die so einfach nicht mehr anzuhalten ist.

www.cutupcollective.com