Ich habe Helmut Schmidt viel zu verdanken

Der letzte würdige Gegner

Wer nur auf die politische Bilanz blickt, kann die wahre Größe Helmut Schmidts nicht erkennen. Denn nur ein bedeutender Staatsmann kann auch die Staatskritik fördern.

Ich habe Helmut Schmidt viel zu verdanken. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich die Größe dieses Staatsmannes zu erkennen und zu würdigen vermochte. Denn auch ich musste mich zunächst von jener oberflächlichen linken Sichtweise emanzipieren, die allein auf die politische Bilanz stiert. Gewiss, da waren die Atomkraftwerke, die Pershing-Nuklearraketen, der Deutsche Herbst und manch anderes. Doch soll ich einem Elefanten vorwerfen, dass er einen Rüssel hat? Das reformis­tische Potenzial der Sozialdemokratie war erschöpft, Schmidt tat, was er tun musste.
Aber er tat es mit Stil, und das ist von immenser Bedeutung. Denn die Jugend braucht keine Vorbilder, sie braucht würdige Gegner. Bei einer Rebellion zählt ja nicht allein der Kampf gegen die Polizei. Der Mensch strebt nach Höherem, er möchte an der Spitze des Regimes, das er bekämpft, einen Menschen sehen, den zu stürzen sich lohnt.

Zwei Arten von Regierungschefs eignen sich als Gegner. Jene, die so widerwärtig und abgrundtief reaktionär sind, dass man sie schon allein des­halb stürzen möchte, weil man ihre ekeler­regen­de Präsenz im Fernsehen nicht mehr erträgt. Dachten Sie gerade an Roland Koch? Der wird es aber nie schaffen, Kanzler zu werden.
Dann gibt es jene, die ein gewisses intellektu­el­les Niveau, rhetorisches Talent und politisches Geschick vorweisen können. Menschen, denen man länger als zwei Minuten zuhören kann, ohne reflexartig zur Fernbedienung zu greifen. Sie zu stürzen, ist eine sportliche Herausforderung. Da fällt Ihnen jetzt kein deutscher Politiker ein, über den man das sagen könnte, nicht wahr? Gysi gilt nicht, der wird auch nie Kanzler.
Die rebellierende Jugend wäre heutzutage mit provinzieller Behäbigkeit und Mittelmaß konfron­tiert. Man kann Angela Merkel nicht wirklich hassen. Was wäre ein Sieg über sie schon wert? Die Frau kann einem doch bereits jetzt leid tun, wo alles gut für sie läuft.
Das war damals ganz anders. Da gab es Franz-Josef Strauß (Kategorie Koch) und eben Helmut Schmidt, einen würdigen Gegner, den zu stürzen uns mit berechtigtem Stolz erfüllt hätte. Das ist der radikalen Linken bekanntlich nicht gelungen, stattdessen wurde Schmidt das Opfer eines schänd­lichen Komplotts. Anders konnten die Vorkämpfer der Mittelmäßigkeit diesen großen Staatsmann nicht aus dem Weg räumen.
Nur ein großer Staatsmann kann die Staatskritik fördern. Ein junger Mensch ist vielen Versuchungen ausgesetzt. Ein Sozialdemokrat zu werden, ist nicht die geringste davon. Oder dem ganzen Mist einfach den Rücken zu kehren und sich in eine Landkommune zurückzuziehen. Vor beidem bewahrte mich Helmut Schmidt. Denn er bescherte der Linken das beste Lehrstück aufklärender Staatsbürgerkunde, das man sich vorstellen kann: den Deutschen Herbst.
Danach hatte ich keine Zweifel mehr. Eine refor­mistische Lösung konnte es nicht geben, schon gar nicht mit der SPD. Auch in der abgelegensten Landkommune würde man von der Wirklichkeit eingeholt werden. Bedauerlicherweise reichte die Zahl der Menschen, die diese an sich nahe liegenden Schlussfolgerungen zogen, nicht annähernd für eine Revolution aus.
Seitdem ist die Rechtsentwicklung so weit vorangeschritten, dass die Politiker der Epoche Schmidts als leuchtende Vorbilder der Rebellion erscheinen. Gerhard Baum ist ein radikaler Bürger­rechtler, Heiner Geißler wirkt wie ein autonomer Hitzkopf, und Schmidt zeigt, dass man sich vom Schweinesystem nicht alles bieten lassen muss.

Raucht er in Talk-Shows, weil er privilegiert ist? Nein, alle anderen könnten es auch tun. Was sollten die Wills und Maischbergers schon dagegen unternehmen? Zum Feuerlöscher greifen? Die Po­lizei rufen? Doch eine Bande von Leisetretern und Duckmäusern beugt sich willig dem Tugend­terror, obwohl ihr nicht die Steinigung droht, sondern sie allenfalls gescholten werden. Nur Helmut Schmidt widersetzt sich standhaft der Künastisierung Deutschlands.
Hier rauche ich, ich will es nicht anders – so widerlegt er nebenbei auch noch manche Vorurteile über den Protestantismus. Ein Protestant ist nur Gott allein Rechenschaft schuldig, nicht den Benedikts und Künasts. Hinter Schmidts vermeintlich konservativen Vorschlägen verbirgt sich die geheime Sehnsucht nach einer ernstzunehmenden Rebellion, denn auch ein großer Staatsmann braucht die sportliche Herausfor­derung. Schmidt weiß: Mit Kuschelpädagogik kommt man da nicht weiter. Also besser das ­Alter der Volljährigkeit auf 21 Jahre heraufsetzen. Vielleicht besser gleich auf 30 Jahre. Irgendwie muss man die faule Bande doch zum Aufstand treiben können.