Die Proteste in Griechenland gehen weiter

The Revolution will be televised

Keine Weihnachtspause für die sozialen Käm­pfe in Griechenland: Durch die Beset­zun­­gen nicht nur von Schulen und Universitäten, sondern auch von Rathäusern und Gewerkschaftszentralen weitet sich der Konflikt aus.

Es ist schon fast symbolisch für die Situation in Griechenland. Der Weihnachtsbaum auf dem Syntagma-Platz in Athen, der in der vorigen Woche ein Opfer der Flammen wurde, ist von den lokalen Behörden durch einen Plastikbaum ersetzt worden. Doch dieser muss nun regelmäßig von den Antiaufstandseinheiten vor wütenden Jugend­lichen geschützt werden. Denn die Unruhen gehen weiter. Zwar sind die Straßenkämpfe seltener geworden, doch die Demonstrationen in den griechischen Städten finden weiter statt, immer wieder kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Vor allem in Athen und Thessaloniki werden gezielte Angriffe mit Brandsätzen auf Banken, Polizeiwachen und staatliche Gebäude verübt. Mit der ständig wachsenden Zahl der Besetzungen in Schulen, Universitäten, Rathäusern, Fernseh- und Radiostationen sowie Gewerkschaftszentralen bereiten sich die Protestierenden auf eine längere Auseinandersetzung vor.
Geändert hat sich inzwischen die Zielrichtung der Proteste. Viele finden vor Polizeiwachen, Gerichten und Gefängnissen statt, um dort Solidari­tät mit den Festgenommenen zu bekunden und gleichzeitig gegen die Polizei zu demonstrieren. Ge­fordert wird die Entwaffnung der Polizeikräfte. In verschiedenen Stadtteilen Athens und anderen Großstädten haben sich lokale Initiativen gebildet, die in Stadtteilversammlungen versuchen, die Proteste zu koordinieren und gemein­same Forderungen aufzustellen. So fand in Exárchia, dem Viertel, in dem der 15jährige Aléxandros Grigoro­poulos erschossen worden ist, vor der Polizeiwache eine Versammlung von über 2 000 Bewohnern statt, die den vollständigen Rückzug der Polizei aus dem Stadtviertel forderten. Ähnliche Demons­trationen gab es auch in den Stadtteilen Brahámi, Sepólia, Petrálona, Néa Ionía und Dáfni.

Die Polizei selbst geht mittlerweile wieder mit al­ler Brutalität auch gegen friedliche Demonstranten vor, wie bei einem Sit-in vor dem Polizei­haupt­­­quar­tier in Athen, dessen Teilnehmer mit Knüppeln und Tränengas auseinandergetrieben wurden. Solche Provokationen führen immer wieder zu Stra­ßen­schlachten. Inzwischen wurde durch ei­ne Schusswaffe im Stadtteil Peristéri eine weitere Per­son veletzt, diesmal nicht tödlich. Dort wur­de der 16jährige Schüler Giórgos Paplomatá direkt vor seinem Gymnasium von einer Kugel in die Hand getroffen. Nach einem Bericht der konservativen Ta­geszeitung Kathimeriní vom 19. Dezember ist Augenzeugen zufolge aus einem »hellen, gro­ßen Wagen mit großer Antenne auf dem Dach« zwei Mal auf die vor dem Gebäude versammelten Schüler geschossen worden. Noch sei unklar, ob die Schüsse aus einer Polizeiwaffe oder von Faschis­ten abgegeben worden sind. Die ursprüng­liche Be­haup­t­ung der Polizei, die Kugel sei aus einem Luft­­ge­wehr gekommen, hat sich schnell als falsch her­aus­gestellt. Dem behandelnden Arzt zu­folge wurde die Wunde durch eine Waffe mit Kaliber 38 verursacht.
Nach langen Verzögerungen gelangte Mitte voriger Woche das Ergebnis der ballistischen Untersuchung der Kugel, die Aléxandros Grigoropoulos tötete, an die Öffentlichkeit. Nach Angaben der linksliberalen Tageszeitung Eleftherotypía belastet das Gutachten den Schützen. Zwar sei die Kugel abgelenkt worden, bevor sie den 15jährigen traf, der Schusskanal und die Verformung des Projektils bewiesen jedoch, dass der Schuss von einer Hauswand abgelenkt wurde, der Schütze also waagerecht in Richtung des Jungen und nicht in die Luft geschossen habe. Mehrere Augenzeugen hatten in eidesstattlichen Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft bezeugt, der Beamte ha­be gezielt geschossen.

Im Verlauf der vergangenen Woche wurden die ers­ten festgenommenen Demonstranten dem Haft­richter vorgeführt, der in vielen Fällen Unter­suchungs­haft verhängte. Die meist jugendlichen Migranten, die ohne gültige Papiere verhaftet wurden, sollen nach der Haft abgeschoben werden. Weitere Inhaftierte – vor allem aus Larissa und Athen – sollen nach dem Antiterrorgesetz angeklagt werden. Mit dieser »Null-Toleranz«-Politik will die Justiz offenbar durch exemplarische Urteile die Proteste eindämmen.
Das scheint jedoch bisher nicht zu gelingen. Die drei Gewerkschaften des Bildungssektors haben sich mit den Schülern und Studenten solidarisiert und riefen am Donnerstag voriger Woche zu einem landesweiten »Bildungsaktionstag« auf. Die Demonstration mit 15 000 bis 20 000 Teilnehmern endete mit schweren Auseinandersetzungen im Zentrum von Athen und neuen Festnahmen.
Doch die Rebellion hat auch ihre kreativen Seiten. Mehrere zehntausend Menschen besuchten am Freitag zwei Solidaritätskonzerte, die über 100 Musiker und Bands in Athen und Thessaloniki veranstalteten. Am Freitag platzten etwa 100 Pro­tes­tierende in eine Premiere des Nationaltheaters in Athen und verteilten an die Zuschauer und Schau­­spieler Flugblätter, auf denen zu lesen war: »Nun, da ihr eure Handys deaktiviert habt, ist es an der Zeit, euer Bewusstsein zu aktivieren.« In Athener U-Bahnstationen haben kleine Gruppen von Aktivisten Fahrkartenautomaten sabotiert und Flugblätter verteilt, in denen u.a. zu lesen ist: »Die Selbstorganisierung der Fahrgäste wird das Ende der Kontrolleure bringen.«
Zudem haben die Gewerkschaften des Bildungs­sektors zu einem landesweiten Aktionstag am 9. Januar aufgerufen. Das Datum wurde im Geden­ken an den linken Lehrer Níkos Temponéras gewählt, der am 9. Januar 1991 in Pátras von Faschisten mit einer Eisenstange erschlagen worden ist. Aus Protest gegen eine von der damaligen konservativen Regierung unter Konstantínos Mitsotákis geplante Bildungsreform wurden zur Jahreswende 1990/91 in ganz Griechenland Schulen besetzt. Als solidarischer Lehrer befand sich Temponéras in einer besetzten Schule, als sie von Faschisten angegriffen wurde.
Derzeit sind nach Zählungen der Gewerkschaft der Mittelstufenlehrer (OLME) über 700 Schulen und 140 Hochschulfakultäten besetzt. Und seit über einer Woche sind fünf Rathäuser in Stadtteilen von Athen, Thessaloniki und Iraklion okku­piert. Seit der Besetzung des Regierungsgebäudes im Athener Stadtteil Ágios Dimítrios am 11. De­zember werden dort täglich Volksversammlungen abgehalten, an denen mehrere hundert Menschen teilnehmen. Seither sind die Rathäuser zu wichtigen Zentren für den Informationsaustausch geworden, sie gelten als lokale Treffpunkte und bieten einen Raum für die Selbstorganisation der Anwohnerinnen und Anwohner. In Ágios Dimítrios erklärten diese, das Gebäude auch gegen Angriffe der Polizei verteidigen zu wollen. Sogar die Rathausangestellten haben sich dort zu Wort gemeldet und in einem Schreiben ihre Solidarität mit den Besetzern bekundet.
Ebenso besetzt wurde das Zentralgebäude des Gewerkschaftsdachverbandes GSEE in Athen. Am Mittwoch voriger Woche wandten sich die »aufständischen Arbeiter«, wie sich die Besetzer selbst bezeichnen, in einem Aufruf explizit an migrantische Arbeiter und forderten alle auf, sich zu organisieren und sich an den Kämpfen zu beteiligen. Mehr als 500 Teilnehmer einer Vollversam­m­lung verabschiedeten eine Erklärung gegen die Gewerkschaftsleitung und die herrschenden Verhältnisse. »Seit dem Mord an Aléxandros beteiligen wir uns an den Demonstrationen, den Aus­einandersetzungen mit der Polizei, den Besetzungen in den Innenstädten. Immer wieder haben wir unsere Arbeit und unsere täglichen Verpflichtungen beiseite gelassen, um mit den Schülern, Studenten und den anderen kämpfenden Proletariern auf die Straße zu gehen. Um den von den Medien verbreiteten Irrglauben auszuräumen, dass die Arbeiter nicht an den Zusammenstößen der letzten Tage beteiligt waren«, heißt es darin. Die Arbeiter wehren sich dagegen, von den Medien »als Opfer der Unruhen dargestellt« zu werden, »während gleichzeitig die kapitalistische Krise in Griechenland und der restlichen Welt zu unzähligen Entlassungen führt, die von den Medien und ihren Managern als natürliches Phänomen behandelt werden«. Dem bürokratischen Gewerkschaftsapparat gehe es einzig darum, eigene Pfründe zu sichern. Ihn treibe die Angst, die Arbeiterschaft könne »vom Virus des Aufstands« befallen werden.

Die gesamte Situation setzt die ohnehin wankende konservative Regierung unter erheblichen Druck. Die Oppositionsparteien fordern vehement Neuwahlen, was Ministerpräsident Kóstas Karamanlís bislang ausschließt. Zehn Tage nach Ausbruch der Proteste entschuldigte er sich erstmals öffentlich für »Versäumnisse und Fehler« seiner Re­gierung in den vergangenen Jahren. »Chronische Mängel des Staats« hätten zu Zuständen geführt, die nicht akzeptabel seien. »Ich weiß, die Bürger sind enttäuscht. Dafür übernehme ich meinen Teil der Verantwortung«, sagte er und kündigte weitere Reformen an.
Als später der staatliche Fernsehsender Net Karamanlís’ Rede vor den Abgeordneten der Néa Dimokratía übertrug, unterbrachen Demons­tranten das Programm. Ungefähr 20 Personen er­schienen in ganz Griechenland auf den Bildschirmen, sie hielten schweigend ein Transparent hoch mit der Aufschrift: »Hört auf fernzusehen, geht lieber auf die Straße!« Der Sender unterbrach nach 20 Sekunden das Programm und sendete Werbung.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Revolte ist die emanzipatorische Nutzung der Kom­mu­ni­ka­tions­­­technologien: Die Rebellion und auch die internationalen Solidaritätsaktionen lassen sich am Bildschirm verfolgen. »Ist es möglich, sich eine anarchistische Internationale vorzustellen, eine transnationale Version der undefinierten, aber leidenschaftlichen Demonstrationen, die Griechenland in diesem Monat verwüstet haben?« schrieb die britische Wochenzeitschrift The Econo­mist beunruhigt in ihrer jüngsten Ausgabe. »In diesen Tagen verbreiten sich Bilder (bewegte als auch unbewegte) schneller als Wörter; und natürlich überwinden Bilder die Sprachbarrieren…« Aber nicht nur die geschickte Nutzung des Internets durch die griechischen Aufständischen berei­tet dem Economist Sorgen, sondern auch die mög­lichen Auswirkungen der Rebellion auf die globa­lisierungskritische Bewegung beschäftigen ihn. »Diese Bewegung hat die Idee eines spontanen, ver­netzten Protests ignoriert und sich stattdessen auf Standardereignisse wie Gipfel konzentriert. Sol­che Methoden sehen nun überholt aus. Regierungen sind nicht das einzige, was von der vernetzten ›Anarchie‹ bedroht wird.«