Über Edgar Allan Poe

Aus dem Meer der Finsternis

Am 19. Januar 1809 wurde der Schriftsteller Edgar Allan Poe geboren. Kurz bevor er 40 Jahre später die Welt wieder verließ,
fasste er alles, was er über sie wusste, in einem seltsamen Buch zusammen.

Am 30. Januar 1847 starb Virginia Poe, die Frau des Schriftstellers, an Tuberkulose. Sie wurde 24 Jahre alt. Obwohl ihr Tod lange schon vorauszusehen gewesen war, erlitt Edgar Allan Poe, der sie sehr geliebt hatte, einen Nervenzusammenbruch und befand sich zehn Tage lang in einer Art Koma. Nur langsam kam er wieder zu Kräften. Er raffte sich auf zu seinem letzten großen Werk, »Eu­reka. A Prose Poem«.
Obwohl wie üblich fast mittellos, mietete er im Februar 1848 den großen Saal der New York Society Library an, um aus »Eureka« vorzutragen. Der Saal fasste 600 Besucher, 60 erschienen, die, so eine Augenzeugin, kein Wort verstanden, aber von seinem Vortrag fasziniert wa­ren; »seine Augen schienen zu funkeln wie die seines Raben«. Tags darauf stellte sich Poe bei George P. Putnam vor, der bereits »The Raven«, die Erzählungen und den »Arthur Gordon Pym« verlegt hatte. 50 000 Exemplare Startauf­lage für »Eureka« halte er für einen guten Anfang, soll Poe dem verblüfften Putnam gesagt haben.
Weil die Zeitungsberichte zum Vortrag freund­lich ausgefallen waren, ließ der Verleger 750 Exemplare drucken, gewährte dem Autor »14 Dol­lar Anleihe« auf den Erlös, allerdings mit der Auflage, dass er ihn nicht »um irgendwelche wei­teren Anleihen oder Vorschüsse« angehen dürfe. Das Buch verkaufte sich nur schleppend und hat bis heute, von einer Hand voll Akademiker abgesehen, kaum Leser gefunden, genau genom­men exakt drei, W.H. Auden, Georges Poulet und Paul Valéry.
Das Problem, das die meisten Literaten mit die­sem Buch haben, ist, dass es sich zwar »Prosagedicht« nennt, aber weder den Rhythmus noch die Metaphorik des klassischen Prosagedichts bietet, wenn auch andere Rhythmen, andere Metaphern. Es ist ein sehr kühnes, streckenweise heftig kalauerndes Buch voll rasanter Spekulation und weiser Einsicht.
»Eureka« nennt sich aber nicht nur Prosagedicht und »Art-Product«, sondern auch einen »Essay über das materielle und das geistige Uni­versum« und ist Alexander von Humboldt gewidmet. Damit sind die Astronomen, Physiker und Philosophen angesprochen. Doch sie reagierten ebenso verstockt wie die Literaten. Obwohl nicht zu übersehen ist, dass »Eureka« einigen Erkenntnissen der neueren Physik verblüf­fend nahe kommt, geschieht dies doch in einer so unwissenschaftlich-übermütigen Weise, dass es die Gelehrten schaudern muss.
»Eureka« fordert einen Leser, dessen Begriff von Poesie wissenschaftlich und dessen Begriff von Wissenschaft poetisch ist. Allzuviele davon scheint es nicht zu geben, aber das ändert nichts daran, dass diese 150 Seiten zu den aufregendsten von Poe gehören. Er selbst schrieb in einem Brief an Maria Clemm, seine Schwiegermutter, er, der gerade 40jährige, habe keine Lust mehr zu leben, seit »Eureka« fertig ist, »mehr kann ich nicht vollenden«. Tatsächlich starb er nur wenige Monate später, am 7. Oktober 1849.
Worum geht es? – Nun, es geht um alles, um das All und was es im Innersten bewegt. Überall und von jeher sind, Poe zufolge, zwei Kräfte wirksam: attraction und repulsion, Anziehung und Abstoßung. Sie erklären, wie das All entste­hen und sich Sonnen, Planeten und Körper aller Art bilden konnten. Sie erklären die Bewegung des winzigsten Partikels bis zum mächtigsten Sternennebel. Sie erklären, dass irgendwann alles enden muss.
Die Anziehung oder Verschmelzung leitet Poe im Wesentlichen aus Newtons Gesetzen der Gravitation ab, die er zu diesem Zweck verallgemeinert und gehörig überstrapaziert. Allen Atomen sieht er die Lust, in ihre ursprüngliche Lage zurückzukehren, eingeprägt. Aller Stoff strebt nach Hause zurück, will seinen Frieden im Nichts, das seine »Normalität« ist. Ausgerechnet die Trägheit des Stoffes ist Motor dessen, was hier »Reaktion« heißt, eine Art Gegenbewe­gung zur Schöpfung. Diese wiederum wird paradoxerweise als Zerstreuen und Zerstieben gefasst.
Für das schöpferische Zerstieben kennt Poe noch nicht den Begriff der »Entropie« und modelliert sie deshalb nach dem Bild der Elektrizität. Elektrizität ist die Kraft, die aus dem Verschie­denen erwächst. »Nur dort, wo Dinge differieren, tritt Elektrizität auf.« Was sich fremd ist, stößt sich ab. Der Urfunke soll von Gott ausgegangen sein. Damit sind die beiden Grundprinzipien, Anziehung und Abstoßung, auch theologisch bestimmt. Alles Auseinanderstreben­de ist geistig, Teil des »spiritual universe«, alles Sichzusammenballende ist stofflich, Teil des »ma­terial universe«.
Wichtig ist, dass stets beide Kräfte im Widerstreit liegen, denn so begründet sich die Bewegung im All und schon in den Teilchen. Valéry bemerkt in seinem Aufsatz über »Eureka«, in al­len Körpern wohne »ein ewiges Fieber«. Nichts kommt hier je zur Ruhe, und diese Unruhe teilt sich auch im Text selbst mit.
Hier werden nicht bedächtig Gedanken auseinandergesetzt, hier wird aufs Grellste dramatisiert. Gleich am Anfang fingiert Poe einen langen Brief, den ein Autor namens Pundit im Jahr 2648 oder 2748 geschrieben und in eine Flasche gesteckt haben soll. MS. Found in a Bottle. Die Flaschenpost sei auf dem Mare Tenebrarum, also dem Meer der Finsternis, dahingetrieben. Pundits Brief ist kein On-dit, also ein Gerücht, son­dern ein Pun-dit, also ein Wortspiel. Pundit ist zugleich ein philosophischer Bandit, der den be­rühmtesten Denkern der letzten 2400 Jahre auf­lauert, allerdings nur, um sie zu verhohnepipeln. Aristoteles heißt bei ihm »Aries-Tottle«, von »aries«, also Widder, er wird deshalb auch im Folgenden kurz »Ram« genannt. Sein Gegenspieler in diesem philosophischen Bestiarium ist ein »Hog« oder Hausschwein; gemeint ist Francis Bacon, dessen Familienname »Speck« bedeutet. In Nebenrollen treten auf: Tuclid (Euklid), Kant oder Cant (wörtlich »Geschwätz«), Johannes Kepler so­­wie (John Stuart) Mill, wörtlich »Mühle«, und sein utilitaristisches »Mühlpferd« Jeremy Bentham.
Gegen die verschiedenen Denkmethoden der Genannten, ob Deduktion oder Induktion, ob Logik oder Empirie, bietet Poe seine eigene auf: die »Intuition«. Damit ist keine himmlische Eingebung, sondern ein freies, poetisches Denken gemeint. Poe bezieht sich auf Alexander von Humboldts »reflectirende Thätigkeit«. Der Intuitive beugt sich weder den Gesetzen der philosophischen Tradition noch denen der Anschauung. Paradebeispiel ist Pierre-Simon Laplace, dessen Nebel-Hypothese über die Entstehung des Sonnensystems Poe bis ins Detail folgt. Laplace habe seine These nicht am Tele­skop oder über Büchern ersonnen, vielmehr sei er mit verbundenen Augen durch das Labyrinth des Irr­tums – die Welt – gelaufen, geführt allein von seinem »geradezu wunderbaren mathematischen Instinkt«. Und so fand er, unbeeindruckt von allem und allen, zur Wahrheit. Intuition schließt also ein Misstrauen gegen alles Offensichtliche ein.
Dass Intuition keine Beweise liefern kann, streitet Poe gar nicht ab. Aber was sind schon Beweise? Intuition spiele eine viel größere Rolle in der Heuristik, als gemeinhin eingestanden werde. »Heureka!«, »Ich hab’s!« soll Archimedes gerufen haben, als er sein Prinzip fand; daher der Titel des Essays. Doch was einmal gefunden sei, bleibe nicht, und was die strengen Denker für unwiderleglich halten, ruhe auf tönernen Füßen. Mill etwa lehnt einerseits alles Den­ken, das bloß auf »Vorstellungen« beruht, ab, hält andererseits den Satz der Identität (A = A) für erwiesen. Ein Baum ist ein Baum und kann nicht zugleich etwas anderes als ein Baum sein. Warum? »Weil wir es uns unmöglich vorstellen können.« Also beruft er sich doch auf eine Vorstellung, jedoch auf die allergewöhnlichste.
Der Satz der Identität ist ein rotes Tuch für ei­nen Dichter. Dass ein Baum oder überhaupt irgendein Ding, irgendein Wort mit sich selbst stets völlig identisch ist, trifft nirgendwo weniger zu als in der Dichtung. Ja, die Dichtung ist eine fortwährende Widerlegung dieses Satzes. Das deutet sich bereits in Pundits Wortspielen an. Erst fallen Klang und Sinn auseinander, dann zersplittert der Sinn. Wörter verhalten sich ganz so wie die Atome, »Verschiedenheit ist ihr Charakter und Wesen«, Verschiedenheit, die Ver­schiedenheit zeugt.
Die Suche nach Identität ist attraction, aber in allen Körpern wohnt auch das Fieber der repulsion, der Differenz. In allen Körpern, in allen Namen und allen Wörtern; der gesamte Aufsatz lässt sich aus einem einzigen Wort ableiten, nämlich aus universe. Dazu muss dieses Wort frei­lich in zwei Teile gespalten werden. Poe schreibt: »In der ursprünglichen Einheit des ersten Dings liegt bereits der Auslöser für alle Dinge und mit ihm der Keim ihrer unausweichlichen Vernichtung. Um diese Idee vor Augen zu führen, schlage ich ei­ne Umschau im Universum vor, um den Verstand in die Lage zu versetzen, einen individuellen Eindruck vom All zu erhalten und zu behalten. Wer auf dem Gipfel des Ätna steht und seine Augen lässig umherschweifen lässt, wird von der Weite und der Vielfalt der Aussicht beein­druckt sein. Doch nur wer sich rasch auf seinem Absatz umherwirbeln lässt, kann hoffen, das Panorama in der ganzen Erhabenheit seines Einsseins zu erfassen. Aber wie auf dem Gipfel des Ätna nie einer auf den Gedanken verfallen ist, sich auf seinem Absatz herumzudrehen, so hat auch noch niemand die ganze Einheit die­ses Ausblicks in sich aufgenommen.«
»Eureka« ist dieses Umherwirbeln. Es kreist um das Universum. Das Universum war ursprünglich eine Einheit, mit sich identisch. Diese Idee manifestiert sich in der ersten Worthälfte von »Universum«, die auf unus, lateinisch »eines«, zurückgeht. Doch wenn es das eine gibt, gibt es immer auch das andere; in dem einen, einzigen Ding sind deshalb die vielen Dinge bereits vorhanden. Das ist schlicht eine Folge der Betrachtung. Die Einheit muss zerfallen, sobald sie reflektiert wird, sobald sich ihr einer zuwendet oder sie sich selbst zuwendet. Auch dieses Sich-Zuwenden ist in dem Wort »Universum«, nämlich in dem versus, »gegen«, von verso, »ich drehe mich«, »ich wende mich um«, enthalten. Geht die Einheit in einer Wende verloren, kann sie später nur in einer Wende vorge­stellt werden. Die reflektierende Hinwendung zerstört die Einheit, die synoptische Umschau stellt sie wieder her. Daher das Bild von einem raschen Umherwirbeln dicht am Abgrund des Vulkans. Natürlich ist auch an Empedokles gedacht, der sich mit den Worten »Ich bin ein Gott« in den Ätna gestürzt haben soll. Into the Maelström.
Empedokles stürzte sich in den Ätna, Poes Be­trachter fühlt sich vielleicht nicht weniger als ein Gott. Aber er schaut in genau die entgegengesetzte Richtung. Er vereint noch einmal alles, was in seiner ganzen Verschiedenheit ausgebreitet daliegt. Er vereint es in einer Bewegung, in einem Vorstellen. Das Wort »Universum« zerfällt in das eine, unus, und in die Reaktion, versus. Doch sind weder Einheit noch Reaktion göttlich, allein ihre Trennung ist es. In Poes Vor­stellung ist Gott der Erste Scheidekünstler; er zertrümmerte das erste Ding und zerstreute es in alle Winde.
Poe nennt sein Universum ein »erhabenes Gedicht«, aber es ist ein modernes. Nicht nur Din­ge, auch Wörter zerfallen darin. Das Universum bricht mitten entzwei, und nicht einmal ein Baum soll noch ein Baum sein. Der Dichter ist manchmal der, der den Sinn zersplittert. Er ist manchmal der, der die ursprüngliche Einheit wie­der herstellen will. Doch beweist allein der Wunsch, zum Ursprung und zur Einheit zu wollen, dass es Ursprung und Einheit nicht mehr gibt, nicht mehr geben wird. »Indem die Materie in die Einheit versinkt, versinkt sie sogleich im Nichts.«
Valéry hat es an »Eureka« gestört, dass noch immer ein Gott darin umhergeistert. Dass Gott »Nichts« ist, sagt Poe einige Male. Doch zugleich ist immerfort von einem »göttlichen Willen« die Rede. Was genau ist denn der Wille dieses Gottes? Dass sich alles zerstreut und in alle Richtun­gen strebt, oder dass alles in der Einheit erlöscht? – Beides zugleich, antwortet Poe. »In mensch­lichen Konstruktionen hat eine bestimm­te Ursache eine bestimmte Wirkung; eine bestimmte Absicht verfolgt einen bestimmten Zweck. Aber das ist auch schon alles, wir sehen keine Wechselwirkung. Die Wirkung reagiert nicht auf die Ursache; die Absicht wechselt nicht ihre Rolle mit dem Bezweckten. In göttlichen Konstruktionen kann der Zweck sowohl Absicht als auch Zweck sein, gerade so, wie wir es sehen wollen. Und jederzeit kann ein Grund zu einer Wirkung werden oder umgekehrt, sodass wir nicht mehr mit Bestimmtheit sagen können, was was ist.«
Reziprozität und Symmetrie sind die ästhetischen Prinzipien, nach denen Gott schafft und zerstört. »The Universe is a plot of God«, das Universum ist eine Fabel Gottes, vielleicht aber auch eine Verschwörung und ein finsterer Plan. Denn da »Eureka« eine Poetik enthält – und ei­ne ziemlich dialektische obendrein –, stellt sich die Frage, weshalb der göttliche Dichter seine Schöpfung unbedingt in einer »Tendenz zum Kollabieren« begriffen sehen will. Weshalb muss am Ende alles zusammenstürzen? Poe vermutet, dass, wenn alles vernichtet wäre, doch gewiss wieder etwas Neues, Größeres entstünde. Das Universum bewegt sich in »Revolutionen«, in einem »Rotieren des Rotierens«, es wird implodieren und neu erstehen. Tröstlich wirkt das nicht. Poes Welt wird vom Fieber geschüttelt, sie schwillt an und krampft sich zusammen wie ein Todkranker. Hier ist, etwas abstrakter, noch einmal aufgeführt, was schon an den Erzählungen beunruhigt, ein fataler Todestrieb oder »imp of the perverse«. Beunruhigender noch, dass der Schriftsteller sein Denken nun auf ein wankendes Fundament, unter ein stürzendes Firmament setzen kann. Edgar Allan Poes letztes und verkanntes Buch ist mehr als nur eine science fiction, die den Namen verdient.