13 Gründe, The Cure zu lieben. Teil I

Gute Bands kommen in die Hall of Fame, The Cure kommen überall hin

13 Gründe, diese Band zu lieben. Hier sind fünf davon.

Rock’n’Roll, gewiss doch, kann auch einfach »Kunst« sein. Wie ein Bild von Picasso, das auf seine grandiose Weise auch dann existiert, wenn ich es nicht anschaue. Aber Rock’n’Roll ist meistens weniger und meistens mehr als Kunst, nämlich ein Teil des Lebens: des Lebens derjenigen, die ihn machen, und derjenigen, die ihn empfangen (wie eine Nachricht, wie eine Hostie). Rock’n’Roll klingt nicht außerhalb des Lebens. Manchmal ist übrigens auch Kunst einfach Rock’n’Roll, aber in aller Regel bleibt sie dann doch lieber Kunst.
Deswegen ist auch das Konzept der »Band« nicht verschwunden, obwohl man es musikalisch nicht mehr braucht, obwohl es kulturell ein wenig peinlich ist, und obwohl es immer noch nach Jungs schmeckt, die nicht so recht erwachsen werden können. Einzelne Musiker sind Götter oder Entertainer, Bands bestehen aus Helden und Metaphern. (All dies kann man natürlich auch definitiv verfehlen; das Dieter-Bohlen-Fernsehen spricht von nichts anderem, weil es viel zu klein für Götter und Helden ist, und für Entertainer und Metaphern auch schon zu doof.) Mythisch erzählen Bands vielleicht vom Zusammenfinden (wie es auch Fußballmannschaftsmärchen tun), semiotisch erzählen sie genau vom Gegenteil, vom Auseinandergefallenen in allem, was sich sagen lässt.
Langweilig werden Bands in aller Regel nicht bloß dadurch, dass sie sich wiederholen, sondern vor allem dann, wenn sie diese Geschichten nicht mehr erzählen. Übrigens ist es gar nicht so einfach zu sagen, wann eine Gruppe von Musikern eine Band ist und wann nicht. Zum Beispiel ist an David Bowie zu sehen, dass man nicht »in einer Band sein« kann, nur weil man eben das so will, und Mick Jagger konnte machen, was er wollte, er funktionierte außerhalb der Stones nicht. Freddie Mercury brauchte Queen, und TV On The Radio ist immer noch eine Band, auch wenn es zur gleichen Zeit ein ziemlich intelligentes Projekt ist. Auch Robert Smith ohne The Cure geht einfach nicht.
Die imaginäre Liebesgeschichte zwischen einer Band und einem Menschen ist daher mehrdeutig und vielleicht sogar widersprüchlich. (Und ich meine »lieben« und nicht »gut finden« oder »bewundern« oder großartige Ideen von nicht ganz so großartigen abgrenzen oder irgendwelche anderen Spiele der empathischen Kritik.) Sie ist freilich auch gelegentlich furchtbar dogmatisch: Alles, was ein anderer Mensch auf dieser Welt über The Cure sagt, ist von vornherein anmaßend, falsch, im besten Fall unwissend, im schlimmeren unverzeihlicher Schwachsinn eines ganz und gar nicht Eingeweihten. Und all das gilt auch, wenn die Aussage zufällig richtig oder unwiderlegbar sein möchte. Die Liebe zu einer Band ist eifersüchtig, intolerant und, wenn man zum Nerdtum neigt (und tun wir das, gelegentlich, nicht alle?), pedantisch. Ab dem Stadium des Leserbriefschreibers ist einer, der eine Band liebt, definitiv unerträglich. Und wenn einer wie David Fargier ein Buch über seine Band schreibt, dann ist das so was wie ein heiliger Text nebst Exegese, in dem dem Gegenstand kein noch so kleines Plätzchen für Beiläufigkeit, Zufall oder Irrtum gelassen wird. The Cure ist der Sinn, und damit basta.
Vielleicht nützt es, das einmal genauer zu erklären, damit die Liebe zu einer Band nicht einfach ein privater Wahnsinn bleibt, der ansonsten zu nichts weiter führt. Möglicherweise kann man am Ende doch aus einer Liebe zu einer Band etwas erfahren, über Ontologie, Zeichen, Empfindungen, Subjekte und all den philosophischen Scheiß. Und wenn nicht: Geschadet hat ein bisschen Struktur nur selten.
Die ersten beiden Gründe für die Liebe zu einer Band haben natürlich etwas mit der jeweils eigenen Biographie zu tun.

1
Man liebt eine Band, weil sie genau zum richtigen Zeitpunkt auftaucht, um dich aus etwas herauszuholen oder etwas aus dir herauszuholen, um dich in etwas hineinzubringen oder etwas in dich hineinzubringen, was dringend notwendig, nachträglich betrachtet unausweichlich war. Eine Band, die man liebt, muss irgendwann in einem Leben einen plot point bewirkt haben: Etwas ist anders geworden, als es ohne sie geworden wäre. (Natürlich kann man sich so etwas auch einbilden, aber wer sollte das schon entscheiden?)

2
Eine Band, die man liebt, ist ein Spiegelbild der eigenen Situation. Sie drückt genau das aus, was mit dir los ist, und zwar in dem, was gerade auseinanderfällt, und in dem, was gerade zusammenkommen will. Zur Liebe gehört dann eine gewisse Nachhaltigkeit. Eine Band, die älter wird, ist nicht einfach ein Stück aus role models, die Älterwerden darstellen, es ist auch eine Entwicklung vom Rollenspiel zur Lebensgeschichte. In den sechziger Jahren war es wichtig, die Frage zu beantworten: »Ist es leicht, jung zu sein?«; 40 Jahre später (Rock’n’Roll und Jugendkultur sind nicht mehr unbedingt vollständig kongruent) ist die Schlüsselfrage des Pop, wie man in Würde mit dem und im Rock’n’Roll altern kann. Eine Art öffentlicher Biographismus, komplett mit Machtkämpfen, Verrücktwerden, Tod, Streit und Versöhnung, begleitet die Band-Geschichten. Nach einem halben Jahrhundert sind sie, da kann man nichts machen, auch Teil der Kulturgeschichte und ein Teil der politischen Ökonomie geworden.
Es gibt Bands, die muss man schon deshalb lieben, weil es sie trotz allem überhaupt noch gibt. Bands, die nicht zu ihrem eigenen Denkmal geworden sind und deren 13. Album nicht genau so klingt wie das zwölfte. Bands, die aber auch nicht vor lauter Bemühen, sich neu zu erfinden, ihre eigene Geschichte und die ihrer Fans verleugnen. Bands, die nicht an Drogen, Tourneestress, Umbesetzungen und Querelen mit der Musikindustrie zerbrochen sind, aber auch nie tun, als hätte es das alles nie gegeben. Bands, deren Musik man die Euphorie und die Depression anhört, die im Rock’n’Roll so nahe beieinander liegen. Bands, denen man beim Älterwerden zuschauen kann, ohne sich zu schämen. Bands, bei denen man hört, was eine Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug und eine Stimme machen können, damit etwas sehr Einfaches sehr vielschichtig wird, etwas Zorniges sehr schön, etwas Abstraktes sehr persönlich und umgekehrt. Eine Band wie The Cure eben.

3
Die Musik, certainement. Sie gehört, zum einen, einem bestimmten »Genre« zu, und wenn sie besonders interessant ist, dann verbindet sie verschiedene Genres auf eine Weise, die nicht nivelliert, sondern aus verschiedenen musikalischen Sprachen holt, was man einerseits zum Überleben und andererseits zum Selber-Werden braucht. Vereinfacht gesagt, ist The Cure ein Projekt, die Energie des Punk über die coole Luzidität der New Wave zum Pop-Song als autonome Skulptur zu entwickeln. »Three Imaginary Boys« bezeichnet 1979 den Ausgangspunkt, »Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me« 1987 den vorläufigen Zielpunkt. Danach geht die Bewegung in die Tiefe (okay, manchmal auch in die Breite). Eine Reise in die Dunkelheit.
Die Anreicherung des Cure-Sounds mit Pop-Elementen (von Puristen, sagen wir mal, skeptisch beurteilt) führte über die Szenen hinaus, ließ Funk und Bläsersätze zu, später würde man vor Salsa-Anklängen nicht zurückschrecken. Es sind einerseits Angebote an den Mainstream und andererseits Öffnungen des Konzepts: Gute Bands kommen in die Hall of Fame, The Cure beinahe überall hin. Mit einem Bewusstsein der Rock-Geschichte: Für eine Band wie The Cure ist der Stil immer auch ein artistisches Problem; man hört manchmal den Songs an, gegen welche Widerstände sie entstanden sind. Das ist ein weiterer Grund, eine Band zu lieben:
Dann freilich kann man Rock-Songs auch einteilen in Lyrik, Erzählung, Drama oder Bild. Cure-Songs sind am ehesten Opern (komplett mit Ouvertüre, Arie und Duett). Es ist das Paradox eines Rituals der Gefühle, der schönen Schmerzen.

4
Der Einzelne. Robert Smith, natürlich, ist eines von diesen Rock’n’Roll-Tieren. Sie machen nicht Rock’n’Roll, sie sind Rock’n’Roll. Das ist manchmal auch eine ziemlich anstrengende Aufgabe (es gibt sogar Phasen, in denen sie langweilig ist), und es ist ziemlich leicht, sich zwischendurch in ein komplettes Arschloch zu verwandeln. Smith hat sich zur rechten Zeit eine Bühnen-Persona zugelegt, die in ihrer konkreten Schlampigkeit schlichtweg genial ist, eine Verwandlung mit ein bisschen Kajal, ein bisschen Lippenstift und aufgewurstelten Haaren (ein leichter Fall von Frankensteins Braut), und doch eine perfekte Semiotik, die genau zwischen der Destruktion von Punk und der Maske des Glamour, zwischen dem Drama und der Clownerie vermittelt und das alles hinter sich lässt. Dasselbe gilt für eine Stimme, die auf eine vollkommen unwehleidige Art jammert, auf eine empathische Art schimpft und selbst in gefährlicheren Höhen nie gänzlich unkon­trolliert wird. Sehr englisch ist das übrigens auch.
Robert Smiths Stimme war zu romantisch, zu melancholisch, zu klagend für den Punk, sie war zu emotional, zu dreckig, zu druckvoll für die New Wave, und für die aufkeimende Szene der Gothics war sie zu diesseitig, direkt und zornig (mal davon abgesehen, dass The Cure für einen solchen Karneval in Schwarz gewiss nicht die richtigen waren). So blieb Robert Smith nichts anderes übrig, als Robert Smith zu werden. Und das tat er verdammt gut.
Robert Smith brachte das Kunststück fertig, zugleich der Held und der Harlekin, zugleich Zampano und Matto zu sein. Das erzeugt eine Bandbreite und einen Spannungsbogen, der selbst trivialere Elemente schillernd macht. (Denn für sich sind Held und Harlekin, Zampano und Matto ja einigermaßen einfach, doch wenn sie aufeinanderstoßen …)

5
Das Kollektiv. Im Jahr 1976 taten sich vier Jungs von der St. Wilfrid’s Catholic Comprehensive School in der südenglischen Industriestadt Crawley zusammen, um unter dem Namen Easy Cure Musik zu machen. Jungs aus eher bürgerlichen Familienhäusern, die weniger Probleme mit arbeitslosen Vätern und fernsehsüchtigen Müttern hatten als mit dem moralischen Weltschmerz. Man hatte, wie sich der Sänger Robert Smith erinnert, vielleicht ein paar Bücher zu früh gelesen, die davon handelten, dass die Menschheit nicht zu retten war. Die Punks wussten das natürlich auch ohne Bücher. Sie warfen sich mit Krach und Zorn dem »No Future« entgegen, dem die Musiker der New Wave mit stilvoller Coolness begegneten. The Cure hatten beides. Sie waren zornig und verzweifelt, und sie waren cool und durchsichtig.
Zweifellos gab es Phasen, in denen The Cure nicht viel mehr waren als Robert Smith und wechselnde Begleiter, und andere Phasen, in denen The Cure Musiker waren, die gemeinsam auf Tournee gingen, um ihr Repertoire zu spielen, aber nicht einmal im Studio gemeinsam arbeiteten. Das Band-Projekt schien mehrfach schon gescheitert (Robert Smith machte gelegentlich Singles, die so poppig waren, dass sie für den Fan nur Signal der Auflösung sein konnten, und auch seine zeitweilige Mitgliedschaft bei Siouxsie and the Banshees war so ein Signal), aber es reformierte sich immer wieder, und fast immer erst einmal als Idee. Erstaunlicherweise erzählen die Besetzungswechsel der Band deren Geschichte immer nach vorn und zugleich zurück; wichtige Impulse kommen nicht nur durch neue Leute, sondern auch durch Leute, die zu The Cure zurückkehren. Porl Thompson an der Gitarre ist bereits zum dritten Mal zu The Cure zurückgekommen, und immer war das wie eine Rettung für die Band. Es ist eine Band, die nicht sterben kann, obwohl sie von Anfang an auf nichts anderes hin konzipiert scheint als auf den eigenen Tod. Simon Gallup ist sowieso nicht bloß Rückgrat, sondern auch »bester Freund«, Huck, Tom und die anderen.
Und immer wieder schließen sich die Kreise. Seit dem 2004-Album »The Cure« sind The Cure definitiv wieder eine Band. Eine Band, die gemeinsam meditiert, diskutiert und komponiert, um genau zu sein. Das neue Projekt von The Cure ist es, The Cure zu sein.
Es gibt da übrigens verrückte familiäre Verstrickungen. Porl Thompson ist der Bruder der Ex-Frau von Simon Gallup, Robert Smith wiederum der Bruder der Frau von Porl Thompson, also: der Schwager des Schwagers von Simon Gallup. Es ist eine Gruppe von Verwandten und Freunden, die sich immer wieder zusammenfindet, beim Picknick oder eben beim Musikmachen, anders als jene Brüder-Bands mit den bekannten Streithähnen und Eitelkeiten. Zugleich ewige Kindsköpfe und mehr oder weniger gute Ehemänner und Väter, die sich am wohlsten im Pub und beim Spielen im Garten fühlen.
Es ist das innerlich halb kaputte und halb heile, irgendwie unmögliche und zugleich stabile und unkorrumpierbare Kollektiv einer Gruppe, die die große Oper ins ganz Normale und das ganz Normale in die große Oper bringt.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: Acht weitere Gründe, The Cure zu lieben