Die Debatte um die Entschädigung für ehemalige Heimkinder

Zucht und Züchtigung

Immerhin wird diskutiert über die brachialen Erziehungsmethoden in Kinder- und Jugendheimen der frühen Bundesrepublik. Entschädigungen für die Betroffenen sind aber nicht vorgesehen.

Dietmar Krone trug als Jugendlicher lange Haare und hörte »Negermusik«. Seine Mutter schlug ihn regelmäßig. Er suchte Zuflucht bei einem älteren Freund aus einer Kirchengruppe, weshalb er von seiner Mutter öffentlich einer homosexuellen Beziehung bezichtigt wurde. Eines Tages beging Krone einen Selbstmordversuch, kurze Zeit später wurde er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Gequält mit Elektroschocks und voll­gepumpt mit Valium, kam er schließlich in das Fürsorgeerziehungsheim nach Viersen-Süchteln in der Nähe von Mönchengladbach. Als offizieller Grund wurde »sittliche Verwahrlosung« genannt. Er war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.
Es folgten über fünf Jahre der Demütigungen und der körperlichen Züchtigung. Auch sexuell miss­handelt wurde Krone, von Erziehern wie von anderen Jugendlichen. Manchmal sperrte man ihn tagelang in einer Dunkelzelle ein. Als er bei der Küchenarbeit zwei Teller fallen ließ, trat ein Erzieher dermaßen auf ihn ein, dass Krone bis heute seinen linken Arm nicht mehr benutzen kann. Kon­takt zur Außenwelt hatte er so gut wie gar nicht: »Immer, wenn ich nach Post für mich fragte, wurde mir von der Heimleitung gesagt, dass sich da draußen doch eh keiner für mich interessiert«, er­zählt er. Als er entlassen wurde, bekam er 50 Brie­fe von Freunden und Verwandten ausgehändigt, die ihm vorenthalten worden waren. Es war das Jahr 1973.

»Die Einrichtung eines ›Nationalen Ent­schä­di­gungs­fonds‹ wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt«, schreibt Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) in einem Brief an den Berliner Bildungssenator kurz und bündig. Hans-Siegfried Wiegand, der Vorsitzende des Vereins für ehemalige Heimkinder, vermutet, dass die Bundesregierung angesichts der Vielzahl von Menschen, die das Schicksal Krones teilten, die Kosten für Entschädigungen scheut.
Von 1945 bis in die siebziger Jahre waren in West­deutschland 800 000 Kinder und Jugendliche in ungefähr 3 000 Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen eingesperrt. Die Mehrzahl von diesen wurde von den beiden konfessionellen Verbänden Caritas und Diakonie geführt. Anlass für zahlreiche Einweisungen war, wie bei Dietmar Krone, der gesetzliche Begriff der »Verwahrlosung«. Dies betraf vor allem uneheliche Kinder. Weitere Indizien waren ein nicht konformes Äußeres oder »sexuelle Auffälligkeiten«, sprich Sex vor der Ehe – also alles, was der reaktionären Moralvorstellung in den Wirtschaftswunderjahren der BRD wi­dersprach.
Manfred Kappeler, emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der FU Berlin, bezeichnet die Fürsorgeanstalten als »totale Institutionen«: »Die oberste Maxime war absoluter Gehorsam, die Betroffenen waren 24 Stunden am Tag fremdbestimmt.« Drastische Fälle werden von den Verbänden noch immer als Ausnahmen bezeichnet. Dem widerspricht Kappeler: »Die Ausnahme war es vielmehr, wenn Erzieher vom Zwangssystem abwichen.«
Für viele der Betroffenen ist es schwer, überhaupt über ihre Erfahrungen zu reden. Wiegand vom Verein für ehemalige Heimkinder berichtet, dass einige Leidensgenossen selbst den eigenen Lebenspartnern ihre Vergangenheit verschweigen: »Wenn ein Kind von der eigenen Familie aus­gestoßen und dann außerdem in einem Heim schlecht behandelt wird, dann wird sich das Kind vielleicht selbst sagen, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist, und beginnen, sich für sich zu schä­men.« Einer der entscheidenden Auslöser für die öffentliche Diskussion war im Jahr 2006 das Buch »Schläge im Namen des Herrn« des Spiegel-Autors Peter Wensierski. Dietmar Krone ist kurze Zeit später mit seinem Buch »Albtraum Erziehungsheim« als eines der ersten Opfer an die Öffentlichkeit gegangen.

Nach Beschwerden der Opfer und einer zweijährigen Debatte im Petitionsausschuss forderte der Bundestag im November schließlich die Regierung auf, die Hintergründe und Folgen der zweifelhaften Erziehungsmethoden aufzuklären. Nun soll ein »Runder Tisch« eingerichtet werden – unter dem Vorsitz des Deutschen Vereins für öffent­liche und private Fürsorge, an dem auch die damals verantwortlichen Verbände, Caritas und Diakonie, beteiligt sind. Vorsitzender des Vereins war bis in die sechziger Jahre Hans Muthe­sius, der während des Nationalsozialismus für die Ver­wal­tung der Jugendkonzentrationslager in Moh­rin­gen, der Uckermark und in Lodz zuständig war.
Die Opfer fordern insbesondere, für die in den Anstalten geleistete Arbeit entlohnt zu werden. Wolfgang Focke, seit 2006 einer der Beschwerdeführer vor dem Petitionsausschuss, musste in unterschiedlichen Heimen bis 16 Stunden täglich arbeiten, und das keineswegs nur für die Heime, sondern für Unternehmen wie Miele oder die Paderborner Hella-Werke. Den Hauptteil des Lohns strichen die Heime ein, die Jugendlichen bekamen nur wenige Pfennige. Die schulische Ausbildung wurde dagegen vernachlässigt, das Lesen hat sich Focke später selbst beigebracht. Seine Schreibarbeiten, unabdingbar für die politische Aufarbeitung seiner Vergangenheit, erledigt eine Freundin. Da er mit ihr in einer Wohngemeinschaft zusammenlebt, wurde ihm die Grundsicherung gestrichen. Ihm bleiben aus seinen Arbeiten als Friedhofsgärtner und Busfahrer 300 Euro Rente pro Monat, fast die Hälfte geht für die Krankenver­sicherung drauf. »Eine symbolische Entschuldigung bringt mir da nur wenig«, sagt Focke.
Die Ausgrenzung »Verwahrloster« war freilich keine Erfindung der Bundesrepublik. Die Ursprün­ge der Erziehungsanstalten gehen auf das 19. Jahr­hundert zurück. Mit den veränderten Lebensbedingungen der Industriegesellschaft schien die Familie als zentrale Instanz gefährdet, die Heim­erziehung war damit zugleich eines der ersten An­zeichen des interventionistischen Sozialstaates. Bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die Zustände in den Heimen skandalisiert, die Rufe nach einer Liberalisierung verstummten freilich 1933. »Damit waren fortschrittliche pädagogische Konzepte erst mal aus Deutschland verschwunden, und nach 1945 arbeitete ganz überwiegend dasselbe Personal in den­selben Erziehungsanstalten mit kaum veränderten Sichtweisen und Methoden weiter«, sagt Manfred Kappeler.

Erst die Heimkinderbewegung in den sechziger Jahren brachte eine öffentliche Diskussion in Gang. Eine historische Randnotiz sei hier erwähnt: Auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin befreiten in wilden Aktionen Heimkinder. Ulrike Meinhof kritisierte in Veröffentlichungen die Situation in den Anstalten, ihr Film »Bambule« wurde jedoch nach der Befreiung Baaders aus dem Gefäng­nis im Mai 1970 nicht mehr gesendet.
Die Zustände änderten sich aber keineswegs schlagartig, wie Kappeler es beschreibt. So wurde zwar der Stacheldraht alsbald entfernt, und man ersetzte einige große Einrichtungen durch kleinere Jugendwohnprojekte. Die pädagogische Ausbildung der Erzieher verbesserte sich jedoch erst mit der Zeit. Der Begriff der »Verwahrlosung« wurde erst 1990 mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gestrichen.
Manche Politiker würden indes wohl am liebsten die gute, alte Zeit zurückholen. Da es in Deutschland »zu viele kriminelle junge Ausländer« gebe, hatten Roland Koch (CDU) und andere im vergangenen Jahr die Einrichtung von »Erziehungslagern« gefordert. Um »entwürdigenden Drill oder menschenverachtende Methoden« gehe es dabei aber nicht, versicherte sein Parteikollege Wolfgang Bosbach.