Ich schlage vor, dass wir uns küssen

Briefe, einander geschrieben von Liebenden, werden von Ost nach West und von West nach Ost geschickt. Und die Stasi liest mit. Zumindest Oberleutnant Schnatz. Eine mehr oder weniger romantische Geschichte

Ich würde gern optimistischer in die Vergangenheit schauen, vor allem in die eigene. Aber leicht ist das nicht, ständig gibt es Abwanderungsbewegungen. Dinge, die einfach verschwinden, einzelne Sätze, Gespräche, für immer gelöscht, komplette Nächte verschollen. Die Leute verlieren nicht nur Haare, sondern auch Namen und Gesicht. Es gibt Personengruppen von der Größe einer Kleinstadt, die niemals wieder auftauchen, für alle Zeit verduftete Augenblicke, Küsse, Schatten, Zahnschmerzen – das alles ist, mal ganz unpathetisch resümiert, nicht ohne weiteres greifbar.
Die Dinge dagegen, auf die es überhaupt nicht ankommt, sind in der Regel immer da: Fotos mit gespenstisch-fremden Standbildern, ominöse Familienbestecke, Schallplatten, seit Jahrzehnten staubumfangen, Hauslatschen des vor zehn Jahren verstorbenen Großonkels, Schub­laden voller Krempel, der vor sich hin dämmert, dümpelt, döst, Koffer mit verrosteten Schlössern ohne Schlüssel und Uralt-Standuhren, die treuherzig Gong machen.
Und Papiere natürlich. Papiere aus einem anderen Leben.
Kopien, genauer gesagt, kaum lesbare, fast schwarze, mit einem Zentimetermaß am unteren und seitlichen Blattrand versehen, Kopien von Briefen, Briefen über Briefen, Briefen mit der süßen, mir so vertrauten Handschrift, Liebesbriefen, Liebeserklärungen, Karten mit Liebesgrüßen, Fotos mit Lippenstiftmund.
Beim Nachzählen im Aktenstapel sind’s 169 Briefe von ihr, 180 von mir, geschrieben zwischen 1980 und 1989, mitgelesen, gegengelesen, geprüft, berührt, begafft, kommentiert von der Stasi – von der Unterwäsche-Patrouille, angeführt von Oberleutnant Schnatz.
Ich hätte mir charmantere Mitleser gewünscht als den Spanner vom Innendienst. Das Fatale in der DDR war leider auch, dass man sich seine Spitzel nicht aussuchen konnte. Am meisten stört, dass dieser Schnatz die Briefe, ihre Briefe, sogar noch vor mir gelesen hat. Wie habe ich gewartet und gelitten, ich bin krank gewesen, wenn länger kein Brief von ihr kam. Ich habe den Briefkasten unten im Haus mindestens so überwacht wie die Stasi mich. Inklusive der Nachbarbriefkästen, falls da versehentlich ein Brief gelandet sein sollte. Inklusive der Briefträger. Inklusive des Wegs, den die Briefträger zurücklegten, bis sie zu mir kamen, und den, den sie anschließend einschlugen.
Und während ich vor Ungeduld, Ungewissheit und Sehnsucht vor dem Briefkasten auf und ab patrouilliere wie ein unter Hospitalismus leidendes Tierpark-Gnu vor den Gitterstäben des Käfigs, sitzt bei der Stasi ein Typ namens Schnatz, greift sich in aller Seelenruhe die nur für mich bestimmten Briefe, öffnet den Umschlag über Wasserdampf und betatscht die für mich so kostbaren Papiere, um sie danach in das steindumpfe und staatsdumme Behörden-Kauderwelsch des Ministeriums für Bespitzelung Minderjähriger zu übersetzen.
»Festst. ideolog. Beeinfl. Erkennen und Beseitigen begünst. Beding. u. Umst. für feindl. neg. Wirken des W. Aufklären u. Bearb. d. Charakt. v. Liebesbez. zu Freundn. im NSA.«
Ich bin kein Mensch, der sich in Bestrafungsphantasien ergeht. Wäre ich einer, ich würde vorschlagen, Leute wie Schnatz dürften für den Rest ihrer Tage nur noch in diesem von ihnen kreierten Krüppel-Sprech reden. Jeder wüsste gleich Bescheid, es gäbe öfter was zu lachen.

Lianes Briefe an mich. Lianes Briefe. Liane.

Ich war wie eine Kompassnadel von ihr magnetisiert, nur andersherum. Schiefes Bild, ich weiß und lass es trotzdem stehen. Egal, wo ich mich befand, schaute ich zuerst, wo Süden ist, Südsüdwest, ich habe es nachgeschlagen und ausgemessen, genau: 48 Grad, neun Minuten, 13,94 Sekunden nördliche Breite. Ich schaute immer, ob der Blick frei war, ob es eine Lücke gab zwischen den Häusern, und dann schaute ich zu ihr, denn in dieser Richtung, da war sie, in München.

Absprache erwünscht

In München: du.
Ich: in Berlin.
Hätt nichts dagegen,
Mal umzuziehn.

Ich wär bei dir.
Eh du dich versiehst.
Wenn du nicht zugleich
Nach Berlin umziehst.

Für Oberleutnant Schnatz ist unser Briefwechsel eine Fundgrube mit »objektiven Verstößen«, »feindl. neg. Inhalten«, »Verschleierung d. Verbind.«, »konkreten Republikflucht-Vorh.«. Das alles ist »aufzuklären«, »zu erfassen«, »weiter zu erfassen«, »zu verhindern«, »umfassend zu beseitigen« und natürlich wie stets »operativ zu bearbeiten«.
Was das heißt, wird nach einigem Blättern klar. Alle Briefe gelangen nur auf dem Umweg über Schnatzens Schreibtisch zu mir. Leute werden abkommandiert, die mich besuchen und unter Alkohol setzen, um mir Gedichte zu entwinden. Bei der Stasi läuten acht Jahre die Alarmglocken, operative Maßnahmen laufen an, Hunderte von Türen gehen auf und zu. Der ­Apparat startet voll durch. Meine Zeilen werden durchleuchtet, eingeschätzt, durchgeprüft und ausgewertet, als wären sie verschlüsselte Aufmarschpläne der Nato, Angriffszeitpunkt: morgen früh.

Für dich

Für dich ist dies Gedicht geschrieben.
Dafür sollst du mich einmal lieben.
Dafür sollst du mich einmal küssen.
Und nicht nur einmal, sollst du wissen.
Und nicht nur küssen, meine Liebe.
Ich denke auch an andre Triebe,
Die, weißt du, weiter südlich liegen.
Ich dichte nur. Um dich zu kriegen.

Die Verse und der Briefwechsel sind meine Legende. Damit werde ich zum Staatsfeind erfunden. Oberleutnant Schnatz analysiert und meldet etwas ratlos durch: »Offenbar ein Liebes­gedicht. Maßnahmen: Liebesbeziehung des W. auswerten u. operativ weiter unter Kontrolle halten.« Ihn stört nicht, dass es gar nichts auszuwerten gibt. »Weiter südlich« wird dick und schwarz unterstrichen und daneben geschrieben: »Operativ bedeutsam, mögl. chiffrierter Hinweis zu Plänen des W., mit KP nach Portugal zu gehen, objektiv zu IM-Berichten.« »KP« heißt Kontaktperson. Schnatz hat nichts anderes und ist angewiesen auf Ausdeutungen von Andeutungen, die allerdings mit einer Subtilität aufgespürt werden, die nur einmal in den Heuhaufen hineingreifen muss, um die Stecknadel in der Hand zu halten.

»München, 22.10.82
Mein liebster W.,
vor fünf Minuten erreichte mich Dein Brief, der sehr verzweifelt klang. O nein, Liebster, Du darfst nicht aufgeben. Das schreibe ich Dir, obwohl ich selbst so traurig bin. Nur wenn die Sonne die Farben der Blätter noch mehr leuchten lässt, wenn ich den kalten Wind im Gesicht und die Kälte an den Füßen spüre, weiß ich noch, daß ich lebe. W., mein liebster W., ich denke so sehr an Dich. Ich hoffe so sehr, daß die ›Gruppe 61‹ Erfolg hat!
Jeder Brief erreicht mich tief in meinem Herzen. Das ist ein schöner Schmerz. Ich weiß dann jedesmal, ich liebe Dich so sehr. Deine L.«

»Berlin, 2.11.82
Liebste L.,
Du bist leider nicht hier, und die Decke fällt mir auf den Kopf. Von ziemlich weit oben. Ich glaube, sie ist aus Beton. Und über der Decke sind leider, wie ich sehe, weitere Stockwerke: diese Elektriker-Lehre, die ich hasse, meine Eltern, die nerven, und weiter oben die Armeezeit. Das alles prasselt jetzt auf mich herunter. Bitte verzeih, im Moment weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. Lehre, Abendschule, Armee, Studium. Zehn Jahre Mist, zehn Jahre Krempel, zehn Jahre Unfug, zehn Jahre Warten. Nur um dann wieder ganz am Anfang zu stehen. Von irgendwas. Ich kann mich nicht darauf freuen.
Die ›Gruppe 61‹ hat hier bereits einiges erreicht und bewirkt. Aber es reicht nicht.
Wenn Du nur hier wärst, Liebste, alles wäre anders. Die Decke wäre nicht vorhanden. Die Decke wärst Du. Bitte fall! Fall auf meinen Kopf. Wann kommst Du? Nächstes Jahr? Im Herbst? Vielleicht?
Ich werde mich jetzt einfrieren lassen. Der Winter ist ja unterwegs.
Für immer Dein W.«

Zwei Briefe aus der Zeit, aus der Akte, etwa so staatsgefährdend wie handgemalte Sternschnuppen an Kinderzimmerdecken. Warum ich verzweifelt klang, weiß ich nicht mehr. Es gibt für Siebzehnjährige oft und reichlich Gründe, verzweifelt zu sein. Vielleicht war ich verzweifelt, weil sie nicht kam, nicht kommen konnte, weil wir uns nicht sehen konnten, weil es so schwierig war, weil keine Lösung in Sicht war, weil wir nicht wussten, was wir machen sollten, und sie, sie war aus dem gleichen Grund traurig. Das müsste hinkommen. So wird’s gewesen sein.
Klar, sie in München, ich in Berlin. Deutsche Grenze, deutsch-deutsche Paranoia, alles musste kreuz und quer, von morgens bis abends, von 1 bis 99 durchüberwacht werden. Kein Grund zur Aufregung. Liebesbriefe werden immer gern gelesen. Und ohne eine Ahnenreihe andeuten zu wollen: Sind Kafkas Briefe an Felice, Goethes Briefe an die Stein, Abaelards Briefe an Eloise nicht sogar veröffentlicht worden? Verschlang sie nicht jeder ohne Skrupel? Sollte ich vielleicht der Stasi dankbar sein, dass sie nur intern und für den Dienstgebrauch mitlas?

Ost-West-Beziehungen waren in den achtziger Jahren nichts Besonderes und ergaben sich immer wieder. Es gab, zumal in Berlin, viele Gelegenheiten, sich über den Weg zu laufen. Schulklassen saßen auf dem Alex rum. Reisebusse schwammen durch die Straßen. Die Stadt war voll von westdeutschen und Westberliner Tagestouristen, die in der Regel scharf darauf waren, mal ein paar ostdeutsche Exoten kennen zu lernen. Sie latschten überall in die Museen, in Ausstellungen, in Buchläden oder ins Theater, und da habe ich Liane auch das erste Mal getroffen.
Es war bei einer Theateraufführung, Anfang der Achtziger im Palast der Republik, wo das Publikum an den Seiten der Bühne saß.
Ich saß ihr gegenüber und sah erst mal nichts. Schwarze Haare, schwarzes Kleid, schwarze Augen – die Augenfarbe dachte ich mir aus, die stimmte gar nicht.
Die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nein: mit schon an Unwahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit schönste Frau der Welt.
Während der kompletten Vorstellung starrte ich zu ihr hinüber und sie, ich konnte es nicht glauben, zu mir. Vom Stück sah ich nichts. Ich sah durch das Stück hindurch, das Stück störte eigentlich nur, aber ohne das Stück wären wir ja nicht dagewesen. Und in der Zeit, in der die um unsere Liason nicht bekümmerten Schauspieler ihr Pensum absolvierten, verliebte ich mich in sie. Ich weiß noch, wie manch Augenaufschlag und der feindselige Schatten einer Haarsträhne mir gelegentlich schwer zu schaffen machten.
Nach der Vorstellung – in der Pause hatte ich nicht den Mut dazu – sprach ich sie an.
Ich fragte sie, ob sie zu dem Stück gehöre.
Sie verneinte erstaunt.
Dann, sagte ich, müsse ich mich bei ihr entschuldigen.
Sie fragte, warum.
Ich tat, als überlegte ich kurz, und lieferte dann die zuvor zurechtgelegte Begründung: Ich hätte die ganze Zeit nur zu ihr geschaut in der, wie ich jetzt zu meiner Beschämung feststellen müsse, irrigen Annahme, die Aufführung drehe sich nur um sie. Doch wenn das bedauerlicherweise nicht der Fall gewesen sei, würde ich mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen und anbieten wollen, sie zu einem Glas Wein einzuladen, als Wiedergutmachung.
Ich glaube, dass ich mich wirklich so ausgedrückt habe.
Und sie sagte zu meiner größtmöglichen Verwunderung und Begeisterung einfach: »Sehr gern.«
Wir tranken einen Wein und noch einen. Sie war Schülerin in München, Abitur, letztes Jahr, interessierte sich für Schauspiel – ich Lehrling, erstes Jahr, natürlich auch mit superstarkem Schauspielinteresse. Wir redeten über alles und sogar über nichts, und zwischendrin saßen wir da und schauten uns etwas verlegen an.
Um 24 Uhr musste sie über die Grenze. Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Ich ging mit ihr durch die Straßen im Prenzlauer Berg. Sie sagte, es rieche überall nach Braunkohle, das fände sie sehr romantisch, und ich fand es auch romantisch, nicht die Braunkohle, sondern mit ihr. Wir liefen quer durch die Stadt und wieder zurück, klapperten alle Orte ab in Berlin, die ich ihr unbedingt zeigen wollte, meine Wohnung, das Spreeufer, mein Lieblingscafé, besuchten auch ein paar Freunde, es regnete, es war kalt, es war schon dunkel, und wir spazierten gerade irgendwohin Richtung Scheunenviertel, als sie fragte, was wir als nächstes tun würden.
Ich sagte: »Ich schlage vor, dass wir uns küssen.«
Sie blieb stehen. Ich ging wie in Gedanken versunken ein paar Schritte weiter und drehte mich dann zu ihr um.
»Vorausgesetzt«, ergänzte ich, »es findet sich eine Mehrheit für diesen Vorschlag.«
Ich weiß noch, sie hatte ein Tuch um den Hals, das sie um uns beide schlang und unter dem wir verschwanden. Wenn es nach mir gegangen wäre, für immer. Sie hätte meinetwegen aus Australien kommen können, aus Island oder von der Venus, es war mir egal. Hauptsache, sie war da. Und ging nicht mehr weg.
Als wir uns am Grenzübergang Friedrichstraße wieder verabschiedeten, überließ sie mir das Tuch, und es duftete nach ihr. Mir war, als sei jemand gestorben. Eine nahestehende Person, wahrscheinlich ich selber. Und eine noch näherstehende Person, deren Tod ich sterbend gerade noch mitbekam, ihren.
Romeo und Julia.
Julia und Romeo.
Mit zwar keineswegs verfeindeten Familienclans im Hintergrund, aber doch mit penetrant über Kreuz liegenden Feindesländern.
Sie auf dem Balkon, einem Podest an der Absperrung – ich vor der Glastür, nicht singend. Eine Lerche war nicht da.
Sie langsam verschwindend im Gang, ihre Silhouette in der Tür, weg war sie – ich leider nicht weg.
Ich hasste nicht die Mauer, ich hasste nicht die DDR. Ich hasste nicht den Kalten Krieg, nicht die Nazis, die letzten Endes die Schuld an der deutschen Teilung trugen. Ich hasste nicht die Deutschen, die zu doof waren, ein ganz normales 0815-Volk zu sein. Ich hasste gar nichts. Ich war nur tot, eine Zeit lang jedenfalls.
Ein ganzes Jahr sahen wir uns nicht. Aus ihrem Tuch habe ich in der Zeit jedes einzelne Geruchsmolekül persönlich aufgesogen. Es roch am Ende nach mir. Viele Briefe gingen hin und her, manchmal schrieb ich jeden Tag, und wir waren verliebt, und wir verliebten uns in unsere Briefe, und ich fing an, Gedichte zu schreiben, einfach um mitzuhalten mit ihrer Schönheit, die plötzlich in mir aufgetaucht war.

Romeo und Julia,
als Brieffreunde verkleidet

Ich hatte dich nicht erwartet.
Da warst du plötzlich hier.
Und als du gingst, da war es
Praktisch geschehn mit mir.

Wie abgemacht war nichts.
Die Dinge warn verschwommen.
Und daß es dazu kam,
Dazu sollte es nicht kommen.

Wie soll ich sagen, alles
War unerforschtes Gebiet.
Ich wußte nie, was zu tun ist.
Du wußtest nicht, was geschieht.

Du schliefst mit meinen Briefen.
Ich ging mit deiner Schrift.
Dann stießen wir an Grenzen,
Was die weitere Forschung betrifft.

Auch Schnatz war sprachlos, jedenfalls für seine Verhältnisse. Mal unterstrich er etwas am Rand, mal steuerte er nur ein Fragezeichen bei, mal heftete er die Seiten ohne Kommentar ab. So ein Oberleutnant ist auch nur ein Mensch und kann nicht ununterbrochen den Kindergarten überwachen.
Mal kam gar nichts, kein Brief, und der Briefkasten blieb leer trotz mehrfacher Prüfung am Tag – mal kamen gleich mehrere Briefe von Liane auf einmal am Tag. Sie waren immer wochenlang unterwegs. Ich dachte mir nichts dabei. Prinzipiell wusste natürlich jeder, dass es kein Postgeheimnis gab und alles bei Bedarf kontrolliert wurde. Aber ich war ja nun kein Raketen­spezialist oder Geheimexperte, der irgendwelche Strontium-Angelegenheiten auszuplaudern gehabt hätte.

Es war fast unvermeidbar, dass ich im Laufe unseres Briefwechsels zum BRD-Fan wurde wie sie zur Anhängerin der DDR. Sie fand alles gut oder »immer besser« im Osten als bei sich zu Hause. Dass die Leute hier noch »echt« seien, dass man sich »schöner« unterhalten könne, dass »so gut wie nichts« käuflich sei, dass man die Fassaden der Häuser weniger mit Reklame »verunglimpfe«, überhaupt dass die Farben nicht so »schockierend bunt« seien, sondern »angenehm dezent grau«, und dass ich, anders als die »Macker« in München, nicht nur »ein gewisses Etwas« hätte, sondern wirklich »was«, und zwar mit ihr.
Ich rechnete die unfreiwilligen Vorzüge meines Landes eher zu seinen besonders reizlosen Seiten und hätte meinerseits auch gern vergleichende Gegenbesichtigungen unternommen, aber das ging ja nun nicht. So schlecht und grauenhaft, wie sie immer sagte, konnte München gar nicht für mich sein, weil sie da herkam. Selbst wenn dieses München nur ein trostloses und sogar von Hunden gemiedenes Hundeklo an einer desolaten Autobahnraststätte gewesen wäre, ich hätte es, wegen der selbstverständlichen und alltäglichen Nähe zu ihr, stark gepriesen und unendlich adoriert.
Der Osten war für sie jener Typ, der sie auf einem Tagesausflug in ein Landhaus einlud, dort angekommen aber feststellen musste, dass er den Schlüssel vergessen hatte, und sich dann in unbekümmerter Verzweiflung durch einen über dem Kellerfenster auftürmenden Kohlenhaufen arbeitete, immer weiter grabend und rumpelnd völlig darin verschwand, um etwas später, von Kohlenstaub umglänzt, wie er war, zwei Gläser Wein in der Hand, von innen die Tür zu öffnen und sie gleich direkt und überall zu küssen, bis praktisch alle Kleidungsstücke, die sie trug, und sogar die, die sie darunter hatte, die besonders, schwarz verschmiert waren und unbedingt ausgezogen werden mussten – ich.
Und der Westen? Für mich? Nun, zunächst mal das verbotene Land, die andere Welt, die es eigentlich nicht geben dürfte, wo zwar alles, den Fernsehbildern und Berichten zufolge, schöner, schicker, aufregender war, wo die Leute zwar selbstbewusster, höflicher, eloquenter auftraten, aufzutreten schienen, wo zwar die Post richtig abging, Mord richtiger Mord war, Drogen richtige Drogen, Skandale richtige Skandale, Musik richtige Musik, wo aber die Meute, die ich durch die große graue Eisentür am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße kommen sah, vor der ich manchmal stundenlang auf Liane wartete, auf mich so überdurchschnittlich langweilig und so uninteressant wirkte, wie sie war, so überflüssig auch und so zeitraubend, denn jeden einzelnen und jede einzelne starrte ich an und musterte ich, um, ja, sie nicht zu verpassen, Liane, was natürlich Quatsch war, denn ich sah sie gleich, ich sah sie sofort, ich sah sie, bevor ich sie sehen konnte, ich erkannte schon am Schwung der Tür, den ich mir natürlich einbildete, den es aber doch gegeben haben musste, dass es nur eine sein konnte, die jetzt kam – sie.
Sie schickte mir Platten und Bücher, und die fand ich allemal aufregender als die quasi vergleichbaren Quasinummern aus den überschaubaren volkseigenen Buch- und Plattenbeständen.
Wochenlang starrte ich auf das Cover von »Wish you were here«. Bekanntlich sind zwei Männer darauf zu sehen, die auf einer Lichtung zwischen Industriehallen stehen und sich die Hand reichen. Einer der beiden, der rechte, brennt, Flammen schlagen aus seinem Anzug und auch aus seinem Kopf. Sie hatte eine Karte dazugelegt und mit ihrer wundervollen Schrift geschrieben:

»München, 21.12.87
Liebster, ich liebe Dich übrigens. Aber wer von den beiden bist Du eigentlich? Überlege es Dir gut! Du hast zwei Versuche. Deine Dich liebende L.«

Ich überlege bis heute. Bin ich dieser lodernde, hitzige, leidenschaftliche, sich in einem kleinen Privatfeuerwerk abfackelnde Typ? Der es allerdings, wie’s aussieht, nicht mehr lange machen wird. Oder bin ich der kühle Beobachter, der dem Leidenschaftlichen die Hand reicht, ihm scheinbar alles Gute wünscht? Der selbst aber lieber unangefackelt bleibt? Wurde ich von hinten angezündet? Suchte ich Hilfe, und alles, was ich von dem anderen bekam, war ein Händedruck? Handelt es sich um eine Abschiedsszene – der eine weiß gar nicht, dass er brennt, während der andere es zwar klar sieht, aber höflich schweigt? Wer mischt sich gern ungefragt in die Sorgen anderer ein?

»Berlin, 18.1.88
Liebe Liebste,
die Entscheidung ist ganz leicht. Ich werde sie ­irgendwann im Laufe meines Lebens treffen, wenn Zeit ist. Bis dahin bin ich sicherheitshalber beide. Ich weiß, logisch ist das heikel. Aber was ist schon logisch? Zu vieles, sagst Du. Eben.
1001 Kuß!
Brennend eiskalt, Dein W.«

Was tut Schnatz, unser Staats-Voyeur im Dauereinsatz? Er unterstreicht die Partie mit »logisch« und notiert mit sieben Ausrufezeichen daneben: »Zweifel an Logik!!! W. studiert Philosophie!!! Operative Beachtung!«

»Firma liest mit«, hieß es immer, »VEB Horch, Guck und Greif«, alles klar. Mir war das zu paranoid: Briefe mitlesen, Briefe abfangen, Brieftauben abschießen – ich lokalisierte das in einer märchenhaften Vergangenheit. Es schien mir auch zu aufwendig zu sein. Die werden anderes zu tun haben, dachte ich. Die können nicht die Briefe von allen lesen. Irgend jemand muss sie schließlich auch schreiben.
Für Liane lag die Vorstellung, dass der Staat ihre und meine Briefe lese, weit außerhalb ihrer Einbildungskraft. Sie war eher etwas abergläubisch. Wenn ich statt mit blauer Tinte mit schwarzem Farbband der Schreibmaschine schrieb, wenn irgendwelche Papierfalten durch bestimmte Buchstaben liefen, konnte sie manchmal nur mit Mühe düstere Vorahnungen beiseite schieben. Sie glaubte – etwas kokett, nicht wirklich – an die Wiederkehr bestimmter Zeichen. Keine schwarzen Katzen, die über die Straße liefen, keine Sternschnuppen. Es waren eher alltägliche Übersinnlichkeiten: Ein Stift, der nicht mehr schrieb, ein Ohrring, der plötzlich verschwand oder wieder auftauchte, ein bestimmtes Wort, zufällig aufgeschnappt in der U-Bahn, konnten sie tagelang – sie behauptete, jahrelang – aus der Bahn werfen. Ein Brief von mir, der unerwartet aus der Zeitung fiel, natürlich auch.
Daß die Stasi mitlesen könnte, erschien uns beiden zu unpoetisch. Auf einer unserer raren Begegnungen verabredeten wir trotzdem einen Test. Bei Tucholsky, glaube ich, hatte ich die kleine Erzählung entdeckt, in der ein Mann einen Floh in den Briefumschlag steckt, um so den unerwünschten Mitleser zu entlarven. Eine gute Idee, fand ich, und wir griffen sie auf.

»Berlin, 12.2.85
Liebste, allerliebste L.,
ich sehne mich so sehr nach Deinen Briefen, daß ich gestern mein Glück nicht fassen konnte, gleich drei auf einmal von Dir zu bekommen. Der eine war vom 6. Januar, der andere vom 13., der dritte vom 4. Februar. Offenbar hast Du meine Briefe in der Zwischenzeit nicht bekommen. Wo die wohl abgeblieben sind?
Lehre und Abendschule habe ich jetzt abgeschlossen. Endlich. Dieser Teil meines Lebens liegt hinter mir wie die Wüste Gobi, und das sage ich, obwohl ich noch nie in der Wüste Gobi war. Ich möchte auch nicht dagewesen sein. In ein paar Tagen beginnt die Armeezeit. Man sagt hier, man geht »zur Fahne«. Ich glaube aber, daß damit der Alkohol gemeint ist. Wir können uns in dieser Zeit nicht schreiben. Wir können uns nicht sehen. Wir können überhaupt nichts. Was Portugal angeht, das ist für mich im Moment so weit weg wie Portugal.
Wenn Du aber wissen willst, wie tief meine Traurigkeit ist, muß ich Dir leider sagen, sehr tief. Der Baikalsee in Sibirien, habe ich gelesen, ist über 1 500 Meter tief. Da fängt meine Traurigkeit erst an. Einer der tiefsten Meeresgraben soll der Aleutengraben sein, der knapp 8 km abwärts geht. Dort unten ungefähr ist meine Traurigkeit eingezogen. Wenn du sie sehen willst, such nicht da. Die Stelle soll erdbebengefährdet sein.
Hoffen wir auf Ergebnisse der ›Gruppe 61‹ …
Eine Bitte, Liebste: Leg keine Locke, aber leg ein Haar von Dir in Deinen nächsten Brief. Für mich. Ich werde mich an diesem einen Haar festhalten müssen, wenn ich Hilfe brauche.
Ich küsse Dich, wie ich Dich nie mehr küssen werde,
Dein W.«

Liane wusste, was zu tun war. Ihre Antwort erreichte mich einen Tag vor meiner Einberufung zur Armee:

»München, 28.2.85
Mein Liebster,
ein nebliger Wintertag geht hier zu Ende. In meiner Küche sitzend denke ich an Dich. Immer wieder ertappe ich mich bei Gedanken an Dich. Ich höre Brahms’ 1. Sinfonie. Die Musik ist so überwältigend, daß ich das Herz bis an meinen Hals schlagen höre.
Für Deine Armeezeit mußt Du wissen, daß ich bei Dir sein werde. Deine Traurigkeit soll ruhig in den Aleutengraben einziehen. Meine wohnt ja die ganze Zeit da. Endlich ist sie da unten nicht mehr so allein.
Mit mir fühle ich mich schon lange fast lebensunfähig. Ich möchte mich spalten in Hunderte Persönlichkeiten. Wie langweilig es doch ist, nur mit mir! Es muß doch mehr aus dem Leben zu machen sein! Überlege es Dir gut, Geliebter, wenn Du zurückkommst. Möchtest Du wirklich eine Verrückte treffen und sogar mit ihr nach Portugal?
Ich bin Dir ja so treu!
Deine L.
P.S. Schickst du mir, bitte, auch ein Haar, ein kurzes von Dir? Für mich?«

Als ich den Umschlag öffnete, sah ich es sofort: schwarz, lang, etwas gewellt. Es sah aus wie ihrs. Ich hielt es hoch, mit spitzen Fingern, es fiel steif herab und bewegte sich überhaupt nicht. Im Gegenlicht schien es, als wäre da, wo es hing, ein Riss in der Welt.
Dann ließ ich es angewidert fallen.
Liane, meine geliebte Liane, hatte, wie ich wusste, keins beigelegt.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Rayk Wieland: Ich schlage vor, dass wir uns küssen. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 215 Seiten, 18,90 Euro. Der Roman erscheint Anfang März.