Matthias Frings: »Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau«

Und du?

Der Schriftsteller Ronald M. Schernikau ist zurück – in Zeitungen, Zeitschriften, im Funk, im Fernsehen und vermutlich demnächst im Kino. Das haben wir der Biografie von Matthias Frings zu verdanken.

Das Merkwürdigste an Ronald M. Schernikau ist seine Literatur. Zugegeben, sein Leben ist auch ziem­lich merkwürdig, jedenfalls solange wir meine, deine oder Spießers straighte Lebenslinie zum Vergleich nehmen. Als Kind im Kofferraum aus der DDR geschmuggelt, danach jahrzehntelang diesen Staat erträumend, ersehnend, in dessen realer und geistiger Welt er sich besser auskennt als wir uns im Raumschiff Enterprise; ein schwuler Kommunist – mit anderen Worten ein Widerspruch in sich; die ganze Hybridität, die daraus folgt: ein Propagandastück für ein Tuntenensem­ble, ein Schlager gegen Reagan für Marianne Rosenberg, ein monumentales Musical auf marxistischer Grundlage; schließlich der Schriftsteller, der allerletzter Bürger der DDR wird, mit 31 Jahren einen Tausendseiter abschließt und eine Woche darauf stirbt. Und das sind nur einige Daten.
Matthias Frings hat in seiner gründlich recherchierten Biografie all diese Kuriositäten ausgebreitet, und es ist dennoch kein Kuriositäten­kabinett dabei herausgekommen. Wie ist ihm das gelungen? Indem er genau das getan hat, was ihm nun einige vorhalten: Er hat sich nicht auf die eine Person beschränkt, er hat keine bürgerliche Biografie geschrieben. Er verknüpft das Leben von Ronald M. Schernikau mit dem Ellen Schernikaus, das des Sohnes mit dem der Mutter, er täuscht keine Objektivität vor, sondern schreibt aus seiner eigenen Perspektive, er zeigt nicht the one and only, sondern einen Freundeskreis, eine Szene, eine Zeit, eine Gesellschaft. Anders gesagt: Er baut sein Buch nach Schernikaus Poetik.
Schernikau selbst hat zwar hin und wieder Einzelpersonen dargestellt, aber, wie er mir in einem Interview sagte, nur dann, wenn das Material es erfordert hat. Im Grunde sei es sein Ziel, »Gruppen zu zeigen, nicht mehr Personen zu zeigen«. Und das ist, nebenbei bemerkt, nicht besonders überraschend für einen sozialistischen Autor. In »variante« (1979–1981), »so schön« (ca. 1982), »die schönheit« (1985), »die tage in l.« (1989), schließlich und vor allem in »legende« (1983–1991) gibt es folglich kein isoliertes Schicksal, kein aufgeblähtes Ich, das sich in inneren Monologen entlädt. Es gibt keine Psychologie, dafür Gruppen, die fast behavioristisch in ihrem Zusammenspiel dargestellt sind, Aktion, Reaktion, Spruch, Widerspruch und viel Spaß dabei. »ich möchte, daß rummel ist. ich weiß das ist sentimental. aber so schön.« Schernikaus Texte sind dialogisch, dramatisch organisiert.
Selbst »irene binz« (1980–1984) ist ein Drama, ein Monodrama, gewissermaßen Schernikaus Version des »Gesprächs im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe«. Die »binz« könnte man unter die dokumentarische Literatur reihen, denn sie ist aus dem Protokoll einer langen Unterhaltung des Autors mit seiner Mutter hervorgegangen. Es spricht allein die Mutter, die Fragen und Einwürfe des Sohnes sind jeweils ausgespart. Und doch ist auch hier das, was wie ein Monolog erscheint, Dialog; Dia­log mit einem schweigenden Partner. Der letzte Akt besteht aus einem einzigen Satz: »Und du?«
Schernikau hat das Dokument nicht nur dramaturgisch, sondern auch metrisch bearbeitet. Irene Binz erzählt ihr Leben in Blankversen (die vornehmlich jambisch sind, aber sich nicht reimen). »Er hat gesagt, er liebt mich unwahr­scheinlich. / Er kann sich aber nicht zusammen­nehmen. / Er ist ein bißchen leicht. Er mußte hin. / Er wußte ganz genau, daß er mir weh tut. / Er fand sich selber auch nicht toll. Ich dachte: / Wir freun uns auf das Kind, wir freun uns, wir.«
Und das ist eben das Merkwürdige, Ungewöhn­liche, ganz und gar Schöne: Anfang der Achtziger sitzt ein junger Mann in Westberlin, verknüpft die Moderne mit der Weimarer Klassik, die Nüchternheit der DDR- mit der Schnoddrigkeit der BRD-Literatur, missachtet im Übrigen alles, was gerade im Schwange ist, greift weit aus, und schreibt ein großes Monodrama, das selbstverständlich völlig unverkäuflich, unaufführbar und weder im Westen noch im Osten an den Mann zu bringen ist. Glaubt einer ernsthaft, dass Schernikaus Leben seltener ist als diese Literatur? Schwule Kommunisten hat es vor ihm gegeben, und auch Künstler, die in die DDR gingen. Bekannt wurde Wolfgang Kieling, ein Schauspieler, der auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1968 nach Ostberlin übersiedelte, aber nach zwei Jahren zurückkehrte. Schernikau zitiert ihn mit den Worten: »Ich bin selbst zu sehr manipuliert, um mich in eine völlig neue Gemeinschaft einreihen zu können.«
Jedoch ist, wie schon »irene binz« belegt, das Werk auf intrikate Weise mit dem Leben verwoben. Allein das rechtfertigt die Biografie, die im Übrigen den heiteren, überschwänglichen, gern auch kalauernden Ton trifft, in dem allein für Schernikau Denken, Sprechen, Handeln möglich sind. Es ist für jeden, der die »binz« lesen will, hilfreich, das Leben Ellen Schernikaus kennen zu lernen. Und den, dem in »legende« ein kommunistisches Mannequin begegnet, wird es vielleicht überraschen, dass es sich dabei keineswegs um eine Phantasiegestalt handelt. Alles, was die ästhetische Differenz, den Abstand von Text und Welt, deutlich macht, nützt der Kunst.
Es nützt der Kunst – aber nützt es auch der Politik? Im Spiegel lese ich, wir müssten, um uns für Schernikau zu interessieren, »in der Lage« sein, »ein ästhetisches Werk von seiner politischen Ausrichtung zu entkoppeln«. In der Frankfurter Rundschau dagegen schreibt Jörg Sundermeier, wer Schernikau »richtig lesen« wolle, müsse seine »entschiedene kommunistische Haltung« ernst nehmen. Was denn nun, entpolitisieren oder politisieren? Kunst oder Kommunismus?
Beides zugleich, denn das eine gibt es nicht ohne das andere. Wer die »legende« von ihrer »politischen Ausrichtung entkoppeln« wollte, handelte wie der Pfiffikus, der sich wundert, dass der Wagen, aus dem er den Motor ausgebaut hat, nicht mehr beschleunigt. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass der Kommunismus, den Schernikau vertritt, weder bei Marx noch bei Engels, nicht einmal in einem abgelegenen Supplementband der Lenin-Ausgabe zu finden ist. Eine kommunistische Tuntenkomödie lässt sich vorstellen, durchaus, aber schon schwerer wird es, den Materialismus einer Welt zu begründen, auf die vier Götter niedersteigen, um in einem Fahrradladen nach dem Rechten zu sehen. Und hat es die DDR der »tage« wirklich gegeben? Kein einziger Satz darin ist erfunden, aber ohne die Idee, die der Autor auf die Fakten projiziert, sind sie nichts wert. Es ist eine Konstruktion und doch keine Phantasie.
Kommunismus und Kunst sind hier so dicht aufeinander bezogen, dass das eine nicht ohne das andere auskommt. Das steht ausnahmsweise nicht bei Matthias Frings, aber wie jeder gute Biograf gibt auch dieser dem Porträtierten das letzte Wort. Frings lädt dazu ein, zu lesen, was er selbst nicht hat schreiben können und auch nicht hat schreiben müssen, weil es bereits geschrieben ist.

Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau. Aufbau, Berlin 2009. 488 Seiten, 19,95 Euro