Zum 100. Todestag des Dichters Algernon Charles Swinburne

Und vergib uns unsere Unschuld

Er war der Perverse für alle Fälle, dennoch oder gerade deswegen ein großer Dichter: Algernon Charles Swinburne zum 100. Todestag.

Im Jahre 1862 schickte der 25jährige Dichter Algernon Charles Swinburne dem Spectator die Besprechung zweier französischer Lyrikbände ein: »Wir müssen den britischen Leser davor warnen, auch nur eines der in Frage stehenden Gedichte in Anwesenheit von Engländerinnen zu deklamieren.« Er zitierte angewidert aus den Gedichten; verblüht und vergilbt wie eine alte Hure sei der Mond, heiße es einmal. »Schmutz und Lästerung besudeln jede Zeile«, schrieb Swinburne, es finde sich in ihnen »jede Art von Unflat und Narretei, die eine schamlose Lüsternheit aus einer krankhaften Phantasie zu zeugen vermag«.
Erschrocken lehnte Richard Holt Hutton, der Herausgeber des Spectator, die Besprechung ab. Diese Bücher seien einer Kritik nicht würdig, »ich könnte im Spectator nicht mit mehr echtem Abscheu von ihnen sprechen als dem, den Ihr Artikel einflößt«. Jedoch missfalle ihm Swinburnes »leichtfertiger Ton«. Kurz, dem Herausgeber waren die beiden Bändchen nicht wichtig und die Kritik nicht streng genug.
Und das war sein Glück, denn mit einer Veröffentlichung hätte Hutton sich blamiert. Die beiden poètes maudits samt ihren Versen hatte sich Swinburne ausgedacht, seine Besprechung war eine Parodie auf den Zustand der viktorianischen Kultur. Es war eine Parodie, aber auch eine Prophetie, denn nur vier Jahre später fiel die Kritik in fast wörtlich genau denselben Sätzen über Swinburnes zweiten und bis heute bekanntesten Gedichtband her, die »Poems and Ballads« (erste Folge). Der Empörung war kein Ende, jahre-, jahrzehntelang, das Buch musste vorüber­gehend zurückgezogen werden, der Autor sah sich zu einer Erwiderung gezwungen. Und im Grunde ist dieser Skandal alles, was von Swinburne in Erinnerung geblieben ist.
Die situationistische Intervention, die ihm vier Jahre zuvor fast geglückt wäre, beweist, dass ihn das alles nicht überrascht haben kann. Er wusste genau, wo er lebte, mit wem er umging. Er wusste deshalb auch, wie mit gezielter Provokation ein Effekt zu erzielen wäre, denn das probte er fast jeden Abend im Art Club. 1867 berichtete ein Herr der Londoner Gesellschaft, er habe im Club Swinburne getroffen, der ihm »von einem zotigen französischen Dichter namens Bourdelaire« vorgeschwärmt habe, der »›15 Millionen Mal‹ besser als Tennyson« sei. »Er war erkennbar betrunken, saß da, ruderte mit seinen Armen, presste wie üblich seine Beinchen zusammen, redete laut und wild. Er bestellte sich eine Droschke, bestellte sie wieder ab, sprang auf und setzte sich wieder, schüttelte mit trüben Augen meine Hand und torkelte mit der Bemerkung aus dem Zimmer, er müsse ›seine Aufwartung machen‹.« Der Bericht endet mit Krokodilstränen. Es sei traurig, diesen jungen Dichter zu sehen, wie er »Lästerliches und Unzüchtiges hervorstößt und vom Trunk niedergestreckt wird«.
Swinburne hatte sich mit seiner Gesellschaft, ihren Werten, ihrem Geschmack, ihrer Politik und vor allem ihrer Heuchelei überworfen und vielleicht überwerfen müssen. Längst war er auf der Suche nach etwas ganz anderem. 1862, als er die Parodie schrieb, erkannte er als einer der ersten die Bedeutung von Charles Baudelaire. Und ebenfalls in diesem Jahr begann er damit, den Marquis de Sade zu lesen. Erst schüttete er sich über dessen unbeholfenen Stil vor Lachen aus und dann wurde er diese berüchtigten Roma­ne nicht wieder los. Und all das geschah mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, denn Bücher suchen sich ihre Leser, und sie finden sie auch.
Bei allem Vergnügen an der Provokation spielte dieser Leser, Swinburne, den Außenseiter nicht nur, er war es von Anfang an. Auf eine sexuelle Abweichung folgte eine literarische, auf die literarische eine politische. Am Grunde seiner Abweichung findet sich jedoch nicht auftrumpfende Stärke, sondern Schwäche. Er war schwächer als die anderen Knaben in Eton. Er war der Prügelknabe, der irgendwann Gefallen am Prügeln fand. Aus dieser Vorliebe ging eine flagellatorische Dichtung hervor, die bis heute zum größten Teil unveröffentlicht ist. Flagellantismus (der moderne Liebhaber spricht von »Spanking«) vermischte sich mit inzestuösen und lesbischen Phantasien. Aus all diesen Motiven, angereichert mit Erinnerungen ans Meer, ans Pferdereiten, an Northumberland, entstand um das Jahr 1864 die Erzählung »Lesbia Brandon«. Der Titel stammt vom Herausgeber, das harmlose Büchlein erschien zum ersten Mal 1952.
Stärker als der Kitzel der Provokation war der des Dichtens selbst. Jedenfalls kann man nicht anders als glauben, dass es reizvoll gewesen sein mag zu dichten, »that I could drink thy veins as wine, and eat / Thy breasts like honey!« (Dass ich aus deinen Venen Wein saugte und / Deine Brüste wie Honig verschlänge). Das ist seine verschwenderische Version einer Ode der Sappho an die geliebte Anactoria; Liebe und Grausamkeit sind darin kaum zu unterscheiden. In »Dolores« stimmt er gar ein satanisches Vater- oder vielmehr Mutterunser an: »Ah, forgive us our virtues, forgive us / Our Lady of Pain«. Vergib uns unsere Unschuld, wir wollen uns nicht mehr dümmer stellen, als wir sind. Die Schmerzensmutter wird zur Domina und die erotische Ausschweifung geht in einen frontalen Angriff auf die Werte einer Gesellschaft über, die verfolgt, was sie selbst am meisten begehrt.
Anhand solcher unerhörten Verse, die von ebenso unerhörten Auftritten begleitet waren, begann sich die Öffentlichkeit ihr Bild von dem jungen Antichristen zurechtzumachen. Mal küsste er öffentlich einen Freund, mal hatte er eine Affäre mit einer femme fatale. Sein Ruf eilte ihm voraus, und als er Frankreich besuchte, ging die Geschichte um, er habe es nicht nur mit Männern, sondern auch mit einem Affen getrieben, den er nach dem Genuss verspeiste.
Von Schauergeschichten unbeeindruckten Lesern konnte es allerdings nicht entgehen, dass bereits die erste Folge der »Poems and Ballads« das Werk eines verblüffend vielseitigen und gebildeten Dichters war. Der Band enthält Couplets ebenso wie Oden, Balladen, Sonette, Rondeaus und dramatische Monologe. Die wenigen, die sich nach seinem Tod für Swinburne näher interessierten, haben gern diese Virtuosität gegen die Perversionen ins Feld geführt, die ihn berühmt gemacht haben. Er habe sich im Grunde gar nicht für Sex, sondern für Wörter interessiert.
T.S. Eliot schreibt in seinem Aufsatz über den Dichter (1920), nicht die Dinge, allein die Wörter hätten ihm einen »thrill« gegeben, sein Genie sei es gewesen, in der Sprache zu lustwandeln. Zum Beweis führt er einige Verse aus Swinburnes erstem langem Gedicht, »Atalanta in Calydon« (1865), an: »Before the beginning of years, / There came to the making of man / Time, with the gift of tears, / Grief, with a glass that ran.« Darin sei keine Musik, das wirke nur als abstraktes Statement. Als ob sie Eliot widersprechen wollten, haben die Fugs genau diese Verse im »Swinburne Stomp« ihrer ersten Platte (1965) skandiert und dabei mit den Füßen heftig auf den Boden gestampft. Die Elegie, wird in diesem Stück unüberhörbar, hat einen Beat.
Auch eine weitere Behauptung Eliots über diese Verse lässt seinen gewohnten Scharfsinn vermissen. Er schreibt, sie seien wie Sätze, die einem im Traum einfallen. Doch beim Aufwachen frage man sich: »Zeit mit der Gabe der Tränen, / Kummer mit dem rieselnden Glas«? Weshalb weint die Zeit, weshalb hält der Kummer die Sanduhr in Händen, müsste es nicht gerade umgekehrt sein? Swinburne hat das Stilmittel der Vertauschung von Attributen – die Hypallage – häufig benutzt, und niemals zufällig: Zeit und Kummer, will er hier bedeuten, sind am Ende ein und dasselbe. Die Zeit läuft ab, und das ist der Kummer, denn die Himmelfahrt hat er abgeblasen und auf die Ewigkeit baut er nicht.
Nur ein Lüstling kann die Zeit, »die flink verbindet, flink trennt«, wirklich begreifen, denn Lust ist das, was plötzlich schmerzhaft endet oder aber in Langeweile versickert. Lust ist auch das, an was wir uns nicht mehr erinnern können. Was wir gestern begehrt haben, ist uns heute nicht einmal einen zweiten Blick wert. Dieser ganz in der Zeit und in der Lust lebende Mann ist keiner, der sich deutlich erinnern könnte, er ist kein sinnlicher Dichter. Es gibt in seinen Gedichten keine Gesichter, keine Körper, keine Gerüche, keine Farben, keine Details. Nirgendwo malt er. Erst nach fast 250 Versen erfährt der Leser von »The Triumph of Time«, welches Geschlecht das Objekt der Liebe hat, die hier besungen wird (es handelt sich um eine Frau), und mehr Einzelheiten werden nicht preisgegeben. Aber das Gedicht kreist wie zwanghaft um sein leeres Zentrum. »Hab ich dir nicht ein Grab gebaut und hab ich dir nicht / Grabeskleider aus Grabesgedanken gewoben, / aus sanft gesponnenen Versen und Tränen, die nicht vergossen, /aus süßen, lichten Bildern von Taten, die nicht getan?« Die so unheimlich umworbene Geliebte lässt sich nicht ins Grab der Zeichen locken, und daraus ergibt sich die eigentümliche, auch erotische Spannung dieses Gedichts.
Swinburne, der mit Dante Gabriel Rossetti befreundet war und häufig dessen Orden von präraffaelitischen Schöngeistern zugeschlagen wird, war wie viele Fin-de-siècle-Künstler ein Gegner des Christentums, jedoch ein militanter. Einzig in der Literatur des Jahrhunderts ist ein 1882 entstandenes Gedicht, in dem er Jesus fragt, ob er nicht am Kreuz hätte vorausahnen können, dass »Deine Hunde« dereinst die russischen Juden verfolgen würden (»On the Russian Persecution of the Jews«).
In einem gewissen Gegensatz zu diesem strikten Antiklerikalismus steht, dass Swinburne zu einem Anbeter der italienischen Revolution im Besonderen und der Republik im Allgemeinen wurde. An die Mutter schreibt er über seine erste Begegnung mit Giuseppe Mazzini: »In derselben Minute, in der er den Raum betrat, der voller Menschen war, lief er geradewegs auf mich zu (…) und sagte: ›Ich kenne dich‹, und ich tat das, was ich mir immer zu tun vorgestellt habe und tatsächlich gar nicht tun wollte – ich fiel auf die Knie und küsste seine Hand.« Im Jahr zuvor hatte er in seinem »Hymn to Proserpine« Gott noch entgegengeschleudert: »I kneel not nor adore you«, ich knie nicht nieder, bete dich nicht an. Aber diesem Gott, dem gescheiterten Befreier Italiens, konnte er nicht widerstehen.
In der heroischen Phase des Atheismus ging ohnehin manches durcheinander: »Ich sehe es als meine Mission an, als Evangelist und Apostel in meinem Bekanntenkreis alle Republikaner zu Atheisten und alle Atheisten zu Republikanern zu machen.« An dem Mazzini gewidmeten Band »Songs before Sunrise« (1871) hat Christian Enzensberger (»Viktorianische Lyrik«, München 1969) kritisiert, diese Gedichte redeten »ihrem Feind das Wort, weil sie seine Sprache sprechen«. Doch auch die »Songs« bieten mehr als nur Revo­lutionsdevotionalien, und »Hertha« war nicht ohne Grund das erklärte Lieblingsgedicht seines Autors.
Mit der zweiten Folge von »Poems and Ballads« (1878) schließlich erschien sein vielleicht reifstes Werk. Wieder ist Zeit sein Thema, wieder denkt er, etwa in »A Forsaken Garden«, an die Liebe, die vorüberging. Nun liegt sie bereits in so weiter Ferne, dass sie nicht mehr wahr zu sein scheint. Doch gerade, als sich alles im Nebel zu verflüchtigen scheint, bricht blitzartig die Katastrophe hervor, und der Dichter beweist ein weiteres Mal, dass er zur Schule der Rebellen zählt: »Wenn die zähe See sich erhebt und die blanke Klippe zerstäubt, / Wenn tiefe Strudel Hochebene samt Flur verschlingen, / Wenn die Macht der Springflut die / Schwindenden Felder, schrumpfenden Felsen erniedrigt, / dann liegt hier, in seinem Triumph, der alles taumeln lässt, / hingebreitet auf seiner ausgelegten Beute, / Wie ein Gott, der sich an seinen Altaren entleibte, / tot der Tod.«
Ein hinterlistiger Zufall hat es gefügt, dass der 100. Todestag dieses frommen Atheisten auf den Karfreitag fällt, das Fest der Passion.

Algernon Charles Swinburne: Selected Poems. Hg. v. L.M. Findlay. Carcanet, Manchester 1982, 274 Seiten, ca. 7 Euro.
Rikky Rooksby: A. C. Swinburne. A Poet‘s Life. Scolar Press: Aldershot 1997, 320 Seiten, 70 Euro.
Christian Enzensberger: Viktorianische Lyrik. Tennyson und Swinburne in der Geschichte der Entfremdung. Hanser, München 1969, 240 Seiten

Geändert: 11. April 2009