Ein Buch über den Massenmord an Juden in der Ukraine

Im Wald auf den Juden

Ein französischer Priester macht sich auf die Suche nach den Spuren des Massenmords an den Juden in der Ukraine.

Am Rande der Grube war eine behelfsmäßige Treppe in die Erde gegraben worden. Von den Wachen geprügelt, mussten sich die Juden entkleiden. Vollkommen nackt stieg eine Familie nach der anderen, die Väter, die Mütter und die Kinder, die Stufen hinunter und legte sich mit dem Gesicht zur Erde auf die Leichen derer, die gerade erschossen worden waren. Humpel, ein deutscher Polizist, schritt aufrecht am Grubenrand an den reglos Daliegenden entlang, eine Pistole in der Hand, und ermordete jeden Juden, einen nach dem anderen, mit einem Genickschuss.
Die Schwestern Ljuba und Vira mussten aus einer Entfernung von knapp zehn Metern alles mitansehen. Die beiden alten Damen erzählen in den schlichten Worten der Kinder, die sie damals waren, von den Gräueltaten. »Das Massaker dauerte einen ganzen Tag. Humpel hat alle Juden des Dorfs getötet.«
Etwa zwei Dutzend solcher Tötungsszenarien rekonstruiert Patrick Desbois in seinem Buch »Der vergessene Holocaust«. Der französische Priester begab sich 2002 auf die Spurensuche, um die Ermordung der ukrainischen Juden zu dokumentieren. Dazu angeregt wurde er von seinem Großvater, der von den Nazis nach einem Fluchtversuch aus einem Kriegsgefangenenlager in ein Straflager bei Rawa-Ruska im damaligen sowjetisch-polnischen Grenzgebiet verschleppt worden war. Sein eigenes Leid relativierte der Großvater gegenüber seinem Enkel wiederholt mit Sätzen wie »Für die anderen war es schlimmer … «. Es dauerte eine Weile, bis Desbois klar wurde, wer diese »anderen« waren.
Im Juni 2002 fuhr Desbois mit René Chevalier, einem Mitgefangenen seines Großvaters, nach Rawa-Ruska. Hier erzählte Chevalier, wie die Gefangenen beim Ausbessern der Rollbahnen neben einem Trupp Juden arbeiteten. »Die kamen zu Fuß aus dem Ghetto von Lwiw/Lemberg. Am Abend sind nie so viele Juden ins Ghetto zurückgekehrt, wie am Morgen gekommen sind.« Als Desbois fragt, wo man die Toten begrub, antwortet Chevalier: »Ach, wissen Sie, es gab damals vie­le Löcher in den Rollbahnen des Flughafens …« Diese konkreten Schilderungen in dem rund 300seitigen Buch sind oft nur schwer erträglich, bezeugen sie doch die Alltäglichkeit, mit der der Mord an den etwa 1,5 Millionen der insgesamt rund 2,5 Millionen Juden, die damals auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebten, vollzogen wurde. Desbois’ Buch ist auch insofern ein Meilenstein der Forschung, weil die vorliegenden Dokumentationen zum Wüten der deutschen Einsatzgruppen und der Wehrmacht nach dem Überfall 1941 auf die Sowjetunion überwiegend auf Aktenmaterial beruhen und sich auf das Vorgehen der Täter konzentrieren. Desbois eröffnet dagegen eine neue Perspektive, wenn er die Augenzeugen befragt.
Von dem Historiker und Holocaust-Forscher Raul Hilberg stammt die Einteilung in »Täter, Opfer, Zuschauer« der Shoah. Desbois bezieht sich bei seiner Arbeit auf die dritte und bisher vernachlässigte Gruppe der Zuschauer und befragt diese. Damals waren die heute noch lebenden Zeugen des nationalsozialistischen Völkermords noch Kinder. Einige erlebten das Geschehen versteckt von einem Heuschober aus mit, andere standen direkt am Tatort und schauten mit kindlicher Neugier zu. Ältere Kinder wurden von den Mördern bisweilen gezwungen, ihnen zur Hand zu gehen und die Gruben auszuheben. Desbois sieht sich als katholischer Priester aus Frankreich in der Rolle desjenigen, der versucht, »kein Urteil über den Menschen zu fällen, mit dem ich spreche«. Trotzdem fragen die Zeugen sich, »ob sie schuldig oder unschuldig sind, obwohl sie doch zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse erst sechs, sieben oder neun Jahre alt waren«. Denn heute sind diese Kinder 75 Jahre alt und möchten reden. Seine Frage, warum sie bisher nichts erzählt haben, beantworten viele mit dem Satz: »Weil uns nie jemand danach gefragt hat.«
Nach und nach entdeckten Desbois und das Team, mit dem er immer wieder in die Ukraine fuhr, über 850 Orte, an denen Juden von den Deutschen getötet wurden. Er vermutet, dass es insgesamt 1 500 solcher Exekutionsstätten gegeben hat. Mit ihm reisten eine Dolmetscherin, ein Fotograf, mehrere Forscher und ein Ballistikexperte, »denn da, wo die Patronenhülsen sind, sind auch die Leichen«. Sie fanden heraus, warum ein Areal nahe Lwiw/Lemberg in der West­ukraine im Volksmund der »Wald auf den Juden« heißt. Menschliche Knochen, die bei den Ausgrabungen gefunden wurden, zeugen von dem Massenmord; doch niemand gedenkt der rund 90 000 Juden, die dort ermordet wurden. Die Forscher entdeckten Gruben hinter den Dörfern, in denen Tausende Leichname verscharrt liegen. Kein Hinweis, keine Gedenktafel, kein Stein erinnert an das Geschehene. Und doch ist im kollektiven Gedächtnis des Dorfes überliefert, wer dort liegt. Und wer schoss.
»Hier geht es um die Hinterlassenschaften von konkreten Tätern, die das Töten als Handwerk ausübten«, betont Jan Fahlbusch, Mitarbeiter beim American Jewish Committee (AJC) in Berlin, der Desbois auf einer Forschungsreise in die Westukraine begleitet hat. »Desbois’ Blick bleibt nicht im Zentrum des ›industriellen‹ Tötens in den Vernichtungslagern wie Auschwitz stehen. Im Holocaust in der Ukraine«, sagt der Politologe, »gibt es Orgien, die sadistisch ausgelebt werden, es wird vergewaltigt, Kinder werden lebend in die Gruben geworfen. Hier bekommt der Massenmord einen individuellen Zug. Sichtbar werden damit auch die individuellen Handlungsräume und Optionen – vom Daneben-Schießen, dem stillen Nicht-Mitmachen bis hin zur offenen Verweigerung.«
Mittlerweile hat sich die Arbeit von Desbois deutlich professionalisiert. Im Jahr 2004 gründeten französische Priester und jüdische Organisationen die Vereinigung »Yahad – In Unum«, was auf hebräisch und lateinisch jeweils »zusammen« heißt. Der Vereinigung geht es um die katholisch-jüdische Verständigung, zugleich unterstützt sie Desbois’ Forschungsreisen.
Als sein Buch im Jahr 2007 in Frankreich erschien, hatte seine Arbeit endgültig die Ebene der offiziellen Politik erreicht. Als er vor wenigen Wochen sein Buch in der französischen Botschaft in Berlin vorstellte, fehlte es nicht an diplo­matischen Spitzen gegen den deutschen Papst und dessen Umgang mit den Holocaustleugnern der Pius-Bruderschaft. Mit Blick auf die lückenhafte Erinnerungspolitik in der Ukraine betonte Desbois, »dass man Europa nicht auf dem Schweigen aufbauen kann«. Dass die Forschungs­arbeit von Desbois bald auch auf die Gebiete von Weißrussland und der Russischen Förderation ausgeweitet werden könnte, hofften anschließend weitere Redner und betonten, »die internationale Verantwortung für die Schaffung würdiger Grabstätten«.
Desbois kritisierte, dass die nationalsozialistische Ideologie sich bis heute in der Ordnung der Gräber erhalten habe. »Unter der Erde ist jeder an dem Platz, den die Hierarchie des Dritten Reichs für ihn vorsah.« Während die deutsche Kriegsgräberfürsorge jeden im Krieg gefallenen Deutschen, auch die SS-Männer, auf prachtvolle Friedhöfe umbetten ließ, gebe es lediglich »kleine Gräber für die Franzosen, weiße Steine unter Brombeergestrüpp für die anonymen sowjetischen Soldaten und absolut nichts für die Juden«.

Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust – Die Ermordung der ukrainischen Juden. Berlin-Verlag, Berlin 2009, 300 Seiten, 22,90 Euro