Nazis in Stolberg gedenken ihrer »Märtyrer«

Gegen Bürgermeister und Braunkohle

Am 4. April 2008 wurde Kevin P. in Stolberg von einem staatenlosen Libanesen erstochen. Die Rechtsextremen der Region arbeiten weiter daran, aus dem deutschen Jugendlichen einen Märtyrer zu machen.

Mit einem schallenden »Heil Stolberg« eröffnete Ingo Haller, der NPD-Vorsitzende des Kreises ­Düren, die Kundgebung am Freitagabend. Der Ruf wiederholte sich am Wochenende noch ­öfter, ohne dass die Polizei darauf reagierte. In seiner Rede erwähnte Haller einen »mutigen ­Bischof aus England«, womit er wohl den Piusbruder und Holocaust-Leugner Richard Williamson meinte. Positive, wenn auch indirekte Bezüge auf die NS-Zeit waren ebenfalls an diesem Wochenende in Stolberg häufig zu hören.

Als der deutsche Jugendliche Kevin P. am 4. April 2008 im Zuge einer Auseinandersetzung von ­einem 19jährigen staatenlosen Libanesen erstochen wurde, reklamierten Rechte aus der Regi­on um Aachen den Toten sofort als »einen der ihren«. Obwohl sich Eltern und Freunde von Kevin P. gegen diese Vereinnahmung wehrten, »gedachten« die Rechten des »Mordopfers« im vorigen Jahr mit mehreren Demonstrationen. Inzwischen sind vor allem NPD-Kreise davon abgerückt, den Toten als einen »Kameraden« zu bezeichnen, vielmehr benutzen sie die Tat als Beweis dafür, wie »gefährdet« Deutsche und Weiße »im eigenen Land« seien.
Bis 2018 haben die Rechtsextremisten an den Jahrestagen »Trauermärsche« durch die Stolberger Innenstadt angemeldet. Sie scheinen bestrebt, eine Tradition des Märtyrer-Gedenkens ins Leben zu rufen wie im schwedischen Salem, wo sich der Marsch zum Gedenken an einen getöteten Schweden zum größten jährlichen Treffen von Rechtsextremen in Skandinavien entwickelt hat.

Nachdem die bürgerlichen Parteien im vorigen Jahr dazu aufgerufen hatten, die Demonstrationen gar nicht zu beachten, organisierte dieses Jahr ein »Bündnis gegen Extremismus« für Samstag, den 4. April, ein Stadtfest gegen Neo­nazis. Dies erlaubte der Polizei, die ursprünglich von Ingo Haller für diesen Tag angemeldete Route durch die Innenstadt zu verbieten. Um die Einschränkung zu umgehen, meldete Haller für den Freitagabend einen »Fackelmarsch« durch die Innen­stadt an. Stolbergs Bürgermeister Ferdinand Gatzweiler (SPD) rief dazu auf, die Nazis am Freitag zu ignorieren. Viele Anwohner, unter ­ihnen auch Migranten, fanden sich dennoch ein und übertönten die Reden immer wieder mit Buh-Rufen und Pfiffen.
Die Protestierenden wurden jedoch von der Polizei zurückgehalten, als sich der »Trauermarsch« mit 80 Teilnehmern in Bewegung setzte. Einträchtig nebeneinander liefen dabei NPD-­Kader, darunter der Stolberger Ratsmann Willibert Kunkel und Mitglieder der Kameradschaft Aachener Land (KAL) und der Freien Kräfte, die sich im Raum Aachen zurzeit gegenseitig zuarbeiten. War der Hinweg zum Tatort noch als »Trau­ermarsch« mit dramatischer Musik ver­sehen und schweigend absolviert worden, wur­den auf dem Rückweg laut Parolen gerufen. Neben den »kriminellen Ausländern« war vor allem der Bürgermeister zum Hassobjekt auserkoren. Der Ruf »Gatzweiler muss weg« klang allerdings eher wie »Garzweiler muss weg«. Dies sorgte nicht nur unter den Spalier laufenden Polizisten für Verwirrung, handelt es sich bei »Garzweiler« doch um einen nahe gelegenen Braunkohletagebau.

Der Samstag begann mit einer Demonstration des bürgerlichen Bündnisses, das sich aus 80 Vereinen, Schulen und Parteien zusammensetzt durch die Innenstadt. Etwa 2 500 Menschen be­teiligten sich daran. Da bereits während der Vorbereitung des Stadtfestes alle Besucherinnen und Besucher der Innenstadt zu Antifas erklärt worden waren, schwoll deren Zahl im Laufe des Tages auf 6 000 an.
Tatsächlich hatte sich die Antifa auf die Blockade des Stolberger Hauptbahnhofs verlegt, nach­dem ihre ursprünglich angemeldete Demonstration von der Polizei untersagt und ein späterer Ausweichtermin angeboten worden war. Den 200 am Bahnhof versammelten Antifas gelang es, den Bahnsteig zu blockieren, bevor sie selbst eingekesselt und stundenlang festgehalten wurden.
Nazis, die dadurch zu einem längeren Aufenthalt im benachbarten Eschweiler gezwungen waren, nutzten die Gelegenheit allerdings zu einer Spontandemonstration. Immerhin trafen viele Rechtsextremisten mit so großer Verspätung am vorgesehenen Versammlungsort ein, dass die genehmigte Demonstrationszeit bis 17 Uhr nur wegen der kurzen Route noch einzuhalten war.
Die meisten der gut 500 überwiegend jungen Demonstrationsteilnehmer gehörten zum Spektrum der »autonomen« Nationalisten des Rhein-Ruhr-Gebietes. Unterstützt wurden sie von einigen »freien Kameradschaftlern« aus München und Potsdam sowie Christian Worch aus Hamburg. Dass die NPD-Prominenz ausblieb, lag wohl am Bundesparteitag, der zur gleichen Zeit in Berlin stattfand. An internationalen Gästen war lediglich eine Gruppe der Niederländischen Volks-Union (NVU) angereist.
Einigen aus der Innenstadt kommenden Antifaschisten gelang es zwar, in die Hörweite der Nazis zu kommen, auf der Route selber war jedoch außer dem einer türkischen Familie, die ein Plakat mit der Aufschrift »No Nazi« in einem Fenster angebracht hatte und mit dem Kühnen-Gruß bedacht wurde, kaum Protest zu vernehmen. Erst als sich die Demonstration bereits auf dem Rückweg befand, flog aus einer Seitenstraße, die zum von Migranten bewohnten Mühlen-Viertel führt, eine Tomate auf den vorderen, schwarzen Block der Demonstration.

Die Aktionen dieses Wochenendes wurden von allen Beteiligten als Erfolg gewertet. Das bürgerliche Bündnis betrachtete es als Erfolg, dass die Nazis »nicht in die Stadt gekommen sind«, und vergaß dabei, dass sie am Freitagabend sehr wohl da waren. Auch wird nächstes Mal der Trick, die Anmeldung der Nazis lediglich als Absichts­erklärung und nicht als bindend zu werten, vielleicht nicht funktionieren. Dann könnte eine ­offensivere Strategie nötig sein, um die Rechten vom Stadtzentrum, vom Migrantenviertel oder gar von der ganzen Stadt fernzuhalten.
Haller und seine Kameraden haben an diesem Wochenende deutlich gemacht, dass sie entschlossen sind, weiterhin regelmäßig in Stolberg zu demonstrieren und sich daran nicht von Auflagen oder Stadtfesten hindern zu lassen. Eine Teilnehmerzahl von knapp über 500 Leuten kann bei Aufrufen in der gesamten Republik allerdings kaum als Erfolg angesehen werden.
Auch die Antifa bezeichnete ihr Blockade-Konzept als gelungen. Tatsächlich wurde die Anfahrt der Rechten nur verzögert, in ernsthafte Zeitprobleme kamen sie dadurch nicht. Nach der Aktion saßen die Linken dann fern vom Geschehen und öffentlicher Aufmerksamkeit am Hauptbahnhof fest und konnten die Möglichkeiten, die die nicht vollständig abgeschirmte Demons­trationsstrecke geboten hätte, nicht nutzen.