China und die Wirtschaftskrise

Die Harmonie kommt noch

Die Wirtschaftskrise trifft China hart. Millionen von Menschen sind in den vergangenen Monaten arbeitslos geworden. Durch die massenhaften Entlassungen verschärfen sich auch die sozialen Konflikte, der chinesische Staat versucht dabei, durch starke Repression die Kontrolle zu behalten. In der südchinesischen Provinz Guangdong haben sich die ersten Folgen der Krise gezeigt.

Wei Wei, ein rundlicher Mittdreißiger, sitzt in seinem Stuhl und telefoniert aufgeregt. Neonlicht flackert im Raum, der zugleich Zentrale der NGO Little Bird, Konferenzraum und Kantine in einem ist. Dann ist für einen Moment Ruhe. Die Klimaanlage keucht. Von außen drängt unaufhörlich der Lärm der ewig hupenden Taxis in das kleine Zimmer. Wei Wei blickt etwas skeptisch, als wolle er seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung taxieren. Dann blickt er auf. »Wir haben den Prozess gewonnen«, sagt er sichtlich gelöst. Eine Spielzeugfabrik hatte Jian, einem Arbeiter, zehn Monate lang keine Überstunden bezahlt. Dadurch hatte er nur 600 Yuan (65 Euro), die Hälfte seines regulären Lohns, zum Leben. »Jetzt müssen sie alles nachzahlen«, sagt Wei Wei. Ein kleiner Sieg für seine NGO, die sich für die Rechte der Wanderarbeiter im Süden Chinas einsetzt. Ihr kleines Büro liegt im vierten Stock eines grau-billigen Hochhauses in Shenzhen in der Region Guangdong, dem Produktionszentrum chinesischer Exportindustrie nördlich von Hong Kong. Hier wird alles hergestellt, was später auf den Wühltischen im Baumarkt oder bei Aldi um die Ecke verkauft wird. Lo-Tech wie Hi-Tech. 200 000 Arbeiter schrauben hier für Apple I-Pods und Rechner zusammen.

Nachdem Deng Xiao Ping 1979 auf Rat des US-amerikanischen Ökonomen Milton Friedman das Motto »Reichtum ist ehrenvoll« ausgegeben hatte, brach in der neugeschaffenen Sonderwirtschaftszone Shenzhen eine Art Goldgräberstimmung aus. Aus dem unbedeutenden Fischerstädtchen mit 30 000 Einwohnern wurde eine der vielen neuen chinesischen Riesenstädte, die in den achtziger und neunziger Jahren erbaut wurden. Shen­zhen ist heute ein beliebtes Ziel des inländischen Tourismus. Im örtlichen Themenpark »Minsk World« ist ein ausrangierter russischer Flugzeugträger zu sehen, die größte Auswahl an gefälschten Produkten gibt es in der Lo Wu Commercial City, direkt hinter der Grenze zu Hong Kong.
Shenzhen ist halb Metropole und halb Ein-Euro-Shop. Ganz chinesisch pragmatisch wurde hier ohne lästige Planfeststellungsverfahren oder Bürgerbegehren eine Stadt aus dem Boden gestampft, die heute sowohl Vorbild als auch Symbol für ganz China ist. Shenzhen war das Laboratorium, mit dem China erste Schritte in Richtung Kapitalismus wagte. Auch deshalb steht es wie keine zweite Stadt in China für die drama­tischen Veränderungen, die den Aufstieg des Landes geprägt haben. Die Menschen kommen auf der Suche nach Glück aus allen Regionen Chinas hierher, kaum einer scheint älter als 25 Jahre zu sein. Die meisten haben ihre Familie und ihr Dorf hinter sich gelassen und sich hier in das Heer der Arbeitssuchenden eingereiht. Gerade Frauen fliehen vor der starren, patriarchalischen Gesellschaft der Dörfer, sie machen über zwei Drittel der Wanderarbeiter aus. Frauen gelten in den Fabriken als arbeitsam, effektiv und konfliktscheu. Doch jetzt, da die Krise die Produktion hart trifft, haben auch die Konflikte in den Firmen stark zugenommen. »Wir hatten noch nie so viel zu tun wie in diesem Jahr«, berichtet Wei Wei.
Offizielle Zahlen sprechen mittlerweile von mindestens 23 Millionen arbeitslosen Wanderarbeitern, unabhängige Organisationen wie die in Hong Kong ansässige NGO China Labour Bulletin gehen jedoch von deutlich höheren Zahlen aus. Ihrer Einschätzung nach sind doppelt so viele, bis 50 Millionen Menschen, im Zuge der grassierenden Rezession arbeitslos geworden. Viele der Wanderarbeiter kehrten nach den Ferien rund um das chinesische Neujahr im Februar zu ihren Arbeitsplätzen in die südlichen Provinzen zurück und wurden dort entweder vertröstet oder sofort zurückgewiesen. Wer einen Job bekam, muss jetzt mit der Hälfte des Lohns auskommen, den er im Jahr zuvor erhielt. Zum Teil bekommen die Arbeiter in Shenzhen jetzt nur noch 1 500 Yuan (rund 160 Euro) pro Monat, kaum noch genug, um Geld aus dem teuren Shenzhen an ihre Familien auf dem Land zu schicken.

Bereits im Morgengrauen stehen die Arbeits­suchenden vor den Werkstoren eines riesigen Fa­brikenkomplexes im Nordosten von Shenzhen. Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch den allgegenwärtigen Smog, in einer Ecke steht eine Gruppe Männer und raucht. Arbeit gibt es für sie hier nicht. Für diejenigen, die einen Job haben, sieht das Leben auch nicht viel besser aus. »Es ist härter geworden in der Fabrik seit der Krise, aber jeder hier ist froh, überhaupt noch einen Job zu haben«, sagt eine junge Frau, die mit ih­ren Kollegen gerade Feierabend macht.
Gearbeitet wird bis 14 Stunden täglich, 80-Stunden-Wochen sind an der Tagesordnung, der Sonntag ist häufig der einzig freie Tag in der ­Woche. Die meisten Fabrikgebäude haben wenig mit ihren mitteleuropäischen Versionen gemein. Sie bestehen meist aus einer eingezäunten, von Security-Leuten bewachten Anlage, in der die Arbeiter nicht nur arbeiten, sondern auch essen und häufig auch schlafen. Damit sind sie viel abhängiger von ihren Arbeitgebern, denn bei einem Arbeitsplatzverlust würde ihnen auch ­sofort der feste Wohnort entzogen. Soziales Leben ist so kaum möglich. Es gibt keinen Raum außerhalb der Schlafräume, in dem sich die Menschen austauschen könnten. Auch deshalb produziert die NGO Little Bird wöchentlich ein Radio­programm, das den Arbeitern eine Möglichkeit gibt, sich Gehör zu verschaffen oder einfach über ihre Erfahrungen zu sprechen. »Viele haben Angst und sorgen sich um ihre Angehörigen und kommen mit verschiedenen Problemen, auch psychischen, zu uns«, sagt Wei Wei. »Wir versuchen dann zu helfen. Nicht immer sind wir so erfolgreich wie bei Jian.«
Die Provinz Guangdong rund um Shenzhen gilt als Seismograph der chinesischen Wirtschaft. Als Sonderwirtschaftszone ist sie direkt in den internationalen Handel integriert. Gerade hier wurden die ersten Anzeichen der Wirtschaftskrise in China sichtbar. Der Trickle-Down-Effekt hat sich in der Krise gezeigt, allerdings vollkommen anders, als es sich die neoliberalen Apologeten bei Anne Will vorgestellt hatten. Schien die Krise zuerst lokal begrenzt auf das obere Segment des Immobilienmarktes in wenigen US-amerikanischen Boomtowns, so zeigen spätestens die chinesischen Arbeitslosen das wahre Ausmaß der Krise. Hier ist sie jedoch nicht nur allmählich spürbar geworden, sie hat vielmehr auf dem Weg nach China an Fahrt aufgenommen und schlägt sich nun mit aller Wucht nieder.
Chinas Ökonomie, vor allem mit ihren unzäh­ligen Fabriken in den südlichen Sonderwirtschafts­zonen, ist voll und ganz auf den westlichen Konsum ausgerichtet. Alleine der US-amerikanischen Einzelhandelkonzern Wal-Mart importierte im Jahr 2007 Waren im Wert von 27 Milliarden US-Dollar aus China. Die Nachfrage nach billigen Produkten blühte, und Chinas Industrie befriedigte jeden Wunsch.

Xiao-Zhi steht vor den Jobangeboten, die vor dem Shenzhen Talent Market aushängen. Das ist die zentrale Anlaufstelle für Jobsuchende in der Stadt. Skeptisch blickt die 25jährige auf die wenigen freien Stellen im Aushang, um die sich eine Menschentraube gebildet hat. »Hier gibt es so gut wie keine Jobs oder es sind nur Stellen als Sekretärin oder Assistentin. Dafür hätte ich auch zuhause bleiben können«, sagt sie. Jilin, das Zuhause von Xiao-Zhi, ist derzeit 2 500 Kilometer entfernt. Drei Tage, erst mit dem Bus, dann mit der Bahn, brauchte die Fremdsprachenkorrespondentin für den Weg in eine erhoffte bessere Zukunft. Doch nach einer solchen sieht es hier derzeit nicht aus. Das an einer Ausfallstraße gelegene mächtige Hochhaus hat nicht viel von den vergangenen Boomjahren hier mitbekommen. Gammeliger Beton wird nur von den großen, grellen Werbetafeln verdeckt, die ein besseres Leben in einer glücklichen Familie versprechen.
Im dritten Stock liegen die Räume des Shen­zhen Talent Market, hier zeigt sich die Krise wie an kaum einem anderen Ort in der Stadt. Erst nach längeren Gesprächen mit der Geschäftsleitung und nur unter Beobachtung des Sicherheitspersonals dürfen die Räume besichtigt werden, die sich hinter dem Sicherheitscheck befinden. In der großen Halle stehen kleine Kabinen zu Hunderten eng aneinander, die Stimmung erinnert an eine Polizeistation und ein Call-Center gleich­zeitig. In den Kabinen, wo sonst die Vertreter vieler Firmen auf die neuen Universitätsabsolventen aus ganz China warten, herrscht derzeit gähnende Leere. Vielleicht 15 von mehreren hundert Schreibtischen sind besetzt, Dutzende scharen sich um die kleinen Schreibtische in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz. »Das ist ganz normal. Da müssen sie schon früher kommen«, schallt es durch den viel zu leisen Raum. Eine Frau in offiziöser Kleidung tritt aus der Gruppe der Verwaltungsbeamten und Sicherheitskräfte hervor und erklärt in offensichtlich auswendig gelerntem Schulenglisch, sie sei hier, um zu »helfen und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen«. Ihre Funktion will sie nicht erklären, es ist allerdings deutlich, dass sie eine Art Kontrolleurin ist. Die verbliebenen Jungarbeitslosen gucken weg. Diejenigen, die ein wenig Englisch verstehen, belächeln die Situation, später erläutert einer von ihnen aufschlussreich: »China State Police, no talk.« Auch das gehört zu Chinas Erfolgsstory, dieser Mischung aus Marktwirtschaft und allgegenwärtiger Macht des Staats. Für westliche Augen und Ohren scheint es zuweilen schwierig, Chinas neue Rolle zu definieren. China ist weder der neue »Endgegner« der westlichen Vorherrschaft noch die Bestätigung des fernöstlichen Mythos. Kaum einer spricht beispielsweise über Konflikte, Kritik an der Obrigkeit ist traditionell verpönt, auch das macht die Krise wieder deutlich.
Auf die Frage, ob es manchmal Probleme mit den Behörden gebe, wollen die meisten Leute nicht antworten. Manchmal sei es schwierig, seine Interessen gegenüber dem Staat oder dem Unternehmen durchzusetzen, erfährt man dann. China solle seinen eigenen Weg gehen, das ist ein Satz, der hier häufig zu hören ist. Im Kern ist darin der chinesische Nationalismus zu erkennen, der oft mit Staatspropaganda angereichert wird, die auch noch Zensur und schärfste Repression als etwas Notwendiges und Gutes für die Gesellschaft darstellt. Wer deutliche Kritik an dem chinesischen »eigenen Weg« oder an den drängenden sozialen Problemen übt, muss nach wie vor mit Repression rechnen.
Wer korrupte Verflechtungen zwischen Fabrikbesitzern und Parteioffiziellen öffentlich macht, ist der Willkür des Staats ausgesetzt. Berichte belegen, dass KP-Mitglieder zusammen mit engagierten Schlägerbanden auf renitente Dorfbewohner einprügeln. Sie werden zur Aufgabe ihrer Häuser gezwungen, die Grundstücke werden dann für Neubauprojekte genutzt. Korruption ist weit verbreitet. Eine ganze Schicht von Beamten lebt offenbar sehr gut von Schmiergeldzahlungen. So berichtete die New York Times anlässlich des Volkskongresses der KP im vergangenen Jahr über gemeinsame Shoppingtouren von »Investoren« und ranghohen KP-Mitgliedern, die sich nicht nur selbst in Pekings Edelboutiquen ausstaffieren lassen, sondern auch häufig noch über Spesenkonten für ihre Familien oder Zweit- und Drittfrauen verfügen. Die Zeit während des Volkskongresses gilt in China als die umsatzstärkste für Prada, Gucci und andere Luxusmarken.

Ein neuer Typ von kapitalistischer Herrschaft hat sich hier herausgebildet, fernab von der Idee, mit der erweiterten Freiheit der Unternehmer werde die Demokratie quasi per Huckepack mitgeliefert. Vielmehr folgt sie der Logik größtmöglicher Effizienz. Forderungen nach einem besseren Leben sind dabei nur hinderlich.
Wettbewerb in China ist stets orchestriert. Wer hat welche Verbindungen zur Regierung oder zu den einflussreichen Sicherheitskräften? Auf welcher Ebene? Die chinesische Regierung un­ter Führung des Präsidenten Hu Jintao weiß durchaus um die Gefahr, die sich derzeit aus den sozialen Verwerfungen ergeben könnte. Riesige Banner in den Straßen verkünden eine »harmonische Gesellschaft«, die als oberstes ideologisches Ziel verkündet wird. Im Hinterkopf der Parteiführer scheint immer noch das Massaker rund um den Tiananmen-Platz präsent zu sein, das sich diesen Sommer zum 20. Mal jährt. Die Ausgangslage war damals ähnlich wie heute. Nach Jahren des Wachstums stiegen die Lebenshaltungskosten gewaltig, während immer weniger Menschen Arbeitsplätze in den privatisierten Betrieben fanden. Der Protest formierte sich zunächst unter Studenten, bevor er sich dann auf Peking ausdehnte und auf starke Unterstützung der Bevölkerung traf.
Anders als damals ist heute allerdings keine Gruppe vorhanden, die als Sprachrohr des so­zialen Protests dienen könnte. Neue Wege wie das Internet werden nicht nur nach außen abgeschottet, auch nach innen wird penibel gefiltert. Gleichzeitig schürt die offizielle Propaganda die Angst vor vermeintlichen »feindlichen Spionen« aus dem Ausland. In den wenigen erlaubten – was auch bedeutet: vom Staat kontrollierten –Chat-Netzwerken wird ständig vor angeblichen ausländischen, meist US-amerikanischen Spionen gewarnt, die mit GPS-Navigationsgeräten alle möglichen Ziele in China auskundschaften. Auffällige Personen sollten sofort gemeldet werden, lautet die Vorschrift an die Bevölkerung. In den Augen der Parteiführung sind es nur »zersetzende Elemente von außen«, die die angebliche »soziale Harmonie« Chinas stören. Beispielhaft für diese Politik sind Äußerungen der stellvertretenden Vorsitzenden der einzigen of­fiziellen chinesischen Gewerkschaft ACFTU. Nach einem Minenunglück mit 74 Toten im vergangenen Jahr schwadronierte sie von »inneren und äußeren feindlichen Kräften«, die die Wander­arbeiterschaft angeblich »infiltrieren und zersetzen« würden.
Seit 2008 hat Shenzhen als erster Distrikt weitreichende Arbeitsschutzgesetze, die in Zeiten der Krise allerdings einer ernsten Belastungsprobe unterzogen werden. Freie Gewerkschaften sind in China nach wie vor verboten, einzig die ACTFU, die streng auf Parteilinie steht, hat das Recht, Arbeiter zu organisieren. Doch die Partei der Arbeiter hat offenbar kein Interesse am Arbeitskampf. Was für China gut ist, so der offizielle Tenor, ist auch für die Arbeiter gut.
Die stehen in der Zwischenzeit vor der Arbeitsbörse und telefonieren mit Freunden und Verwandten aus ihren Herkunftsorten. Vielleicht hat einer der Bekannten ja hier Arbeit bekommen und kann weiterhelfen. Xiao-Zhi lächelt, sie ist fest davon überzeugt, noch einen Job zu ergattern. Als sie in ein Taxi steigt, um zu ihrer Schwester zu fahren, sagt sie leise und ein wenig enttäuscht: »Die Krise kann ja nicht überall sein.«