Über antideutsche Ideologiekritik und Realpolitik. Fortsetzung einer Debatte

Immer nur dagegen

Sind die Antideutschen stolz auf ihre eigene Bedeutungslosigkeit? Gilt es, die Kreuzberger Hinterhöfe zu verlassen und in der Erwachsenenpolitik mitzumachen? Oder ist ein solches Handeln der Ausdruck von Verzweiflung und intellektueller Selbstaufgabe? Und sind Antideutsche eigentlich antiliberal, humorlos und typisch deutsch? Über Glanz und Elend der Antideutschen. Eine Fortsetzung der Debatte über Ideologiekritik und Realpolitik (Jungle World 4/2009).

Spätestens seit Marx in den Thesen über Feuerbach die selbstgenügsame Philosophie in ihre Schranken verwies, steht das Verhältnis von Theorie und Praxis im Zentrum linker Debatten. Die Konstellation dessen, was heute im dichotomen Begriffspaar von Ideologiekritik und Realpolitik auftritt, war stets Gegenstand historischer Wandlung: Mit sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen stellt sich die Frage nach der Beziehung von gesellschaftskritischer Theoriebildung und verändernder Praxis neu. Mit Auschwitz geriet der bis dahin vorhandene Bezug der Theorie auf die Praxis in eine fundamentale Krise und wurde zumindest in der Interpretation der Kritischen Theorie tendenziell verunmöglicht. An diese Einsicht knüpfte die sich in den neunziger Jahren formierende antideutsche Linke an, um von dort aus die Restbestände des bewegungslinken Unwesens, an dem Vernunft wie historische Erfahrung offensichtlich gänzlich vorbeigezogen waren, zum Ziel ihrer Attacken zu machen. Der dabei viel beschworene Rückzug auf radikale »Ideologiekritik« ist inzwischen fester Bestandteil der mantraartig vorgetragenen Selbstbekenntnisse vieler antideutscher Kritiker (und nur weniger Kritikerinnen). Dem gegenüber stehen diejenigen, die gerade aus einer radikalen Kritik an linker Tradition und deren blinden Flecken (Antisemitismus, Antiamerikanismus, das Verhältnis zur deutschen Nation und der Vergangenheit) die Notwendigkeit (real-)politischer Interventionen ableiten.
Wird in der jetzigen Debatte also nur ein nicht mehr frisches Thema verhandelt? Oder ist mit dem Wissen um die Geschichte dieser Debatte auch das Wissen um ihre Geschichtlichkeit verbunden, um die stete Notwendigkeit, sich aufs Neue diesen alten Fragen zu stellen und, ausgehend von einer Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, über theoretische Kritik und die Möglichkeiten und Formen politischer Intervention neu zu diskutieren? Als Beitrag zu diesem fortlaufenden Projekt emanzipativer Gesellschaftskritik verstand sich auch das aus Diskussionen der Leipziger »Gruppe in Gründung« hervorgegangene Dossier (Jungle World 4/2009).
Sebastian Tränkle

In der Winterhöhle. Anmerkungen zur ­falschen Kritik der Realpolitik
Leidig sind sie, die Diskussionen um Theorie vs. Praxis. Werden sie geführt – so wie hier unter den Stichworten Realpolitik und Ideologiekritik –, dann sind sie meist Ausdruck und Symptom einer Krise. Einmal in einem ganz allgemeinen Sinn: Wüsste man, wo das Gesuchte liegt, würde man es ja nicht suchen. Zugleich jedoch in einem speziellen, an die hiesigen Verhältnisse gebundenen Sinn. Denn wie lässt sich der Umstand, dass das, was einmal als »antideutsch« firmierte (ob man diesen Begriff nun ablehnt oder affirmiert), sich um sich selbst dreht, sonst verstehen? Warum diese Konzen­tration auf die eigenen Leute, die das meiste widerspruchslos abnicken, und woher das Gefühl, jeden Text irgendwie schon einmal gelesen zu haben? Wie man es auch dreht und wendet: Es geht in diesen Debatten immer um mehr als die richtige Form der kritischen Intervention. In diesem Fall steht hinter der Diskussion die Frage nach der gesellschaftlichen Verfasstheit Deutschlands, seiner internationalen Rolle und der angemessenen Reaktion auf Antisemitismus und neue Herausforderungen wie den politischen Islam.
Im gegenwärtigen Streit stellen sich Realpolitik und Ideologiekritik als zugespitzte und zu quasi unversöhnlichen Extremen stilisierte Elemente einer größeren theoretisch-politischen Konstellation heraus: jener bemerkenswerten Mischung aus radikaler Kritik des Kapitalismus (gewaschen mit allen Wassern der Wert-, Kapital- und Staatskritik) und gleichzeitiger Affirmation bestimmter Elemente der bürgerlichen Gesellschaft. Dies hat zunächst etwas durchaus Positives. Zumindest einige in der Linken haben in dieser Tradition gelernt zu differenzieren, gelernt, dass Staat nicht gleich Staat ist und dass die Gesellschaft (nämlich die bürgerliche), die das kommunistische Glücksversprechen erst hervorgebracht hat, gegen diejenigen, die nur hinter sie zurückwollen, zu verteidigen ist.
Dieselbe Überlagerung scheint es aber gleichzeitig mit sich zu bringen, dass die notwendigen Bestrebungen, sich der eigenen Theorie und Praxis zu versichern, mit einem hohen Maß an Abschottung und intellektueller Exzentrik einhergehen. Dies lediglich damit zu erklären, dass die Linke ein Problem mit Erfolg habe und prädestiniert sei für Sektierertum und gesteigertes Distinktionsbedürfnis, wäre billig und kaum überzeugend.
Zunächst gilt es, in dem Streit zwischen Realpolitik und Ideologiekritik einige Einschränkungen zu machen. Es ist ja nicht so, dass eine antideutsche Partei bereits in Arbeit sei oder dass als Antwort auf die Frage »Was tun?« das Engagement in der lokalen Bürgerinitiative gegen Parkplatzmangel empfohlen wird. Diskutiert wird vielmehr über die Frage, ob eine ideologiekritische Linke in die Realpolitik intervenieren und das als legitime Fortsetzung dieser Ideologiekritik verstehen kann. Implizit stellt sich dabei auch die Frage, was die schleichende Professionalisierung der Kritik, d.h. ihre Überführung in bestehende Institutionen, für dieselbe bedeutet. Der Streit entzündete sich deswegen auch nicht zufällig an einem der zentralen Elemente antideutscher Theorie, nämlich dort, wo man die besten Argumente hatte: der Kritik des Antisemitismus und der Haltung zu Israel. Beide Themen waren vor allem in Deutschland die neu­ralgischen Punkte eines traditionellen linken Selbstverständnisses. Doch egal, wie man heute die Situation innerhalb der Linken beurteilt – ob als erfolgreiche Etablierung von Mindeststandards, als »Burgfrieden« oder als Koexistenz bei Ignoranz der jeweils anderen Seite: Das Konfliktpotenzial, das diesen Themen inhärent war, ist auf Seiten der außerparlamentarischen Linken, sieht man einmal von Fällen wie Magdeburg ab, nicht mehr dasselbe.
Das zu konstatieren, bedeutet allerdings noch lange keine Beschönigung der Situation. Um ein Beispiel zu liefern: Keine Antifa, keine antideutsche Gruppe hat einen Finger gerührt, als es in Berlin im Zusammenhang mit dem Militäreinsatz Israels im Gaza-Streifen zu den wohl größten antizionistischen und antisemitischen Demonstrationen seit Jahren kam. Dort formierte sich eine unheilige Mischung aus friedensbewegter Zivilgesellschaft, Migranten und antiimperialistischen Linken. Es brauchte schließlich die Jusos (also Leute, die man eher dem Spektrum der Realpolitik als dem der Ideologiekritik zurechnen würde), um eine nachträgliche Gegendemonstration zu organisieren, die schließlich abgesagt wurde.
Was sich jedoch abzeichnete, war eine Diffusion von Israelsolidarität und Antisemitismuskritik, beides entstammte einer antideutschen Politisierung. So kam kaum eine der politischen Stiftungen in den vergangenen Jahren an internen Streitigkeiten um die Themen Antisemitismus, Antiamerikanismus und Israel vorbei, und es ist nur logisch und wünschenswert, dass sich diese Diskussionen auch weiter ausdehnen, auch in die Zivilgesellschaft und die Parteien. Dies führt ab und an sogar zu tatsächlichen Konsequenzen, beispielsweise jüngst zum Rücktritt von Hermann Dierkes, einem Politiker der Linkspartei, der zum Boykott israelischer Waren aufgerufen hatte. Dass dies vor fünf Jahren so geschehen wäre, ist zu bezweifeln.
Die Argumente gegen »realpolitisches« Engagement sind vielfältig. Lässt man die periodisch erhobenen Vorwürfe des Karrierismus einmal beiseite, sind es vor allem folgende: Das Engagement bleibe folgenlos, es biete falschen Trost in einer ausweglosen Situation, es laufe Gefahr, staatstragend zu sein, oder die Konzentration auf Teilbereiche der Politik verliere das große Ganze aus den Augen. Mir kommt es zunächst weniger auf die Stichhaltigkeit dieser Argumente an, sondern vielmehr auf eine spezielle Form. Zumeist vollzieht sich die Kritik in dem Medium, das man am besten beherrscht, dem Text. Dort wird dann ein Reich der reinen Kritik entworfen, mit einem Kritiker, der alles richtig macht. Nicht nur ist diese Figur in ihrer Reinheit problematisch, sie hat außerdem mehr und mehr ein Erkenntnis verstellendes Eigenleben entwickelt. Meist evoziert man eine spezielle Distanz von der Gesellschaft, die viel zitierte »Einsamkeit des Theoretikers«. Sie soll zugleich Zustandsbeschreibung, Forderung und Kriterium für die richtige Erkenntnis sein. In dieser »Einsamkeit«, d.h. gesellschaftlicher Marginalität, habe der Kritiker allerlei »Widersprüche auszuhalten« (nämlich die zwischen dem Gewünschten und dem Erreichbaren). Dabei kommt es zu einer Existenzialisierung dieses vorweggenommenen Scheiterns, einem Leiden an der Marginalität (statt am fortdauernden gesellschaftlichen Elend). Gleichzeitig nimmt der Kritiker aber in Anspruch, am authentischsten solidarisch zu sein und am furchtlosesten dem gesellschaftlichen Unrecht ins Angesicht zu blicken.
Indem man sagt, der »Kritiker« sei eine rhetorische Figur, soll in diesem Zusammenhang betont werden, dass die Trennung zwischen Ideologiekritik und Realpolitik, samt der Figur des »Kritikers« in ihrer Reinheit und Ausschließlichkeit, eine im Wesentlichen analytische und eben rhetorische Bestimmung ist. Zumindest in den Reihen derer, die an dieser Debatte irgendwie beteiligt sind, wird man in ­Reinform weder das eine noch das andere finden. Wenn es aber so banal und so einsichtig ist, dass es einen Bruch zwischen Text und Realität gibt, und wenn gleichzeitig deutlich wird, dass man sich weigert, diesen Bruch zur Kenntnis zu nehmen, ja ihn sogar weiter vorantreibt, dann wird man fragen müssen: Warum? Die Antwort kann dann nur sein, dass die emphatische Berufung auf ein Kritikmodell, das einen vermeintlichen Königsweg liefern soll, selbst Teil einer ganz spezifischen politisch-strategischen Praxis ist. In der ständigen Neuvermessung der Welt (im politischen Sinne), einem fortlaufenden Dezisionismus, der die Freund-Feind-Unterscheidung immer wieder res­tituiert, treibt man die Leute ständig vor sich her, in der Hoffnung … ja, in der Hoffnung worauf eigentlich? In der Hoffnung, das Individuum möge sich bekennen, sich für den Kommunismus entscheiden (wenn ja, was würde das dann bedeuten)? In der Hoffnung, die Menschen würden bedingungslos solidarisch mit Israel? In der Hoffnung, man könne einfach ein wenig Zweifel und Skepsis streuen?
Zu kritisieren sind weder diese Hoffnung noch die Motive, warum man so handelt. Kritikwürdig ist, dass man eine analytische Trennung als reale nimmt; stilisiert zum Entweder/Oder. Und kritikwürdig ist auch, dass man sich weigert, das Auseinanderfallen von Begriff und Realität, diese Verselbständigung politischer Rhetorik, reflexiv wieder aufzunehmen. Agnoli hatte dafür die Stichworte Geduld und Ironie bereit, manchmal täte es auch einfach nur intellektuelle Redlichkeit.
Einen Königsweg der Kritik kann es nicht geben. Angeben lässt sich, was sich heute verbietet: So zu tun, als sei man mit geschichtsmächtigen Kräften im Bunde, oder sich, im Gegensatz zu jenen, die sich auf so genannte Teilbereichspolitik einlassen, darauf zurückzuziehen, dass nur die Kritik des großen Ganzen zähle und »alles andere Quark« sei (Rosa Luxemburg). Nimmt man die Rede vom »Zeitkern« der Wahrheit ernst, so schließt das heute auch die Reflexion auf das ein, was Goethe die »Forderung des Tages« nannte. Die Missbilligung und das Unverständnis des Politischen können das aber nur behindern. Sei es, weil man das Politische samt seiner Subjekte lediglich als aufgeschobenen und immerzu drohenden Ausnahmezustand begreift, oder weil einem realpolitische Vorgänge einzig zur ideologiekritischen Verklärung dienen: die IDF als bewaffneter Arm des Kommunismus. Das Beharren auf der bereits erwähnten »Einsamkeit des Theoretikers« – soll sie denn mehr meinen als eine durch Deutung erlangte Distanz von der Gesellschaft – läuft dann Gefahr, eine wohlfeile Rationalisierung der eigenen Marginalität zu sein, an der man letztlich mehr leidet als am Unrecht, das man abschaffen will. In dieser Winterhöhle der Ideologiekritik lassen sich Widersprüche prima aushalten.
Walter Schrotfels

Raus aus der Szene, rein ins Leben.
Über George Clooney, realpolitische Interventionen und die Ansprüche einer Ideologiekritik, die zur Phraseologie geronnen ist
Die Diskussion über das Verhältnis von Kritik und Realpolitik oder, wie es historisch genannt wurde, von Reform und Revolution ist so alt wie der Anspruch, die kapitalistische Gesellschaft zu transzendieren. Es lässt sich nicht in eine Rich­tung auflösen; es existiert kein Patentrezept. Vielmehr handelt es sich um ein dynamisches Verhältnis, das abhängig von der konkreten historischen Situation ist.
Bereits Marx beantwortete die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus je nach Land unterschiedlich. In den am höchsten entwickelten Gesellschaften seiner Zeit hielt er einen friedlichen Übergang zum Sozialismus für möglich. Aufgrund der Möglichkeit zu demokratischer Partizipation könnten fundamentale Veränderungen auf legalem Wege erreicht werden. In anderen Ländern hingegen müssten erst die Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen werden, so im autokratischen Russland, wo eine Veränderung nur gewaltsam geschehen könne.
Die Frage nach dem Verhältnis zur Demokratie blieb in der Arbeiterbewegung stets präsent und führte zu Zerwürfnissen. Zum ersten Mal trat im Jahre 1899 ein Sozialist einer bürgerlichen Regierung bei: Alexandre Millerand in Frankreich. Dies tat er gegen den Willen der sozialistischen Partei und wurde ausgeschlossen. In Deutschland trug sich der Streit innerhalb der sozialdemokratischen Partei Ende des 19. Jahrhunderts zu, wobei Eduard Bernstein für einen reformistischen Weg plädierte und für ein Bündnis mit den progressiven Kräften des Bürgertums eintrat. Karl Kautsky und Rosa Luxemburg erteilten den reformistischen Illusionen eine Absage. Auch bei der Spaltung der Arbeiterbewegung in und nach dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung der kommunistischen Parteien spielte diese Frage eine entscheidende Rolle.
Der Nationalsozialismus markiert eine Zäsur hinsichtlich des Verhältnisses radikaler Kritik zur bürgerlichen Gesellschaft und hinsichtlich der Möglichkeiten der grundlegenden Veränderung. Der Holocaust als die Vernichtung um der Vernichtung willen ist ein Bruch mit der zweckrationalen kapitalistischen Logik und dem an utilitaristischen Kriterien orientierten Handeln. Es konnte nicht mehr am Proletariat als dem revolutionären Subjekt festgehalten werden. Der Begriff des Fortschritts war diskreditiert, und es bedurfte einer erneuten Bestimmung der Kategorien zur adäquaten Analyse der Gesellschaft. Diesen Versuch unternimmt die Kritische Theorie. Allerdings ist in diesem Kontext keineswegs nur die »Dialektik der Aufklärung« von Relevanz. Das Spektrum der Reaktionen ist größer.
Völlig außer Frage stand für die Theoretiker der Kritischen Theorie jedoch, dass alles für die militärische Niederlage Deutschlands getan werden musste. Deshalb fanden sich viele unmittelbar im Dienst der amerikanischen Armee wieder. Herbert Marcuse war für das Office of Strategic Services tätig und Ernst Fraenkel an der Konzeption von Demokratisierungsprogrammen beteiligt. Er war nach dem Krieg Berater Amerikas in Südkorea und arbeitete dort am Verfassungsentwurf mit. Marcuse, der in den fünfziger Jahren aufgrund des Antikommunismus in den USA unter Druck geriet, hielt nichtsdestotrotz an der Revolution fest. Darüber hinaus versuchte er, als Redner und politischer Schriftsteller, praktisch zu intervenieren. Fraenkel, der politisch dem linken Flügel der SPD entstammte und als Jurist das System der Klassenjustiz kritisierte, wurde durch seine Erfahrungen in den USA in einer anderen Weise beeinflusst. Er lernte ein funktionierendes demokratisches System kennen, das auf einem gesellschaftlichen Pluralismus basiert. Er kehrte nach Westdeutschland zurück, erhielt eine Professur in Berlin und wurde einer der wichtigsten Demokratie- und Pluralismustheoretiker. Deshalb betrachtete er die Achtundsechziger mit Skepsis. Er warf ihnen antidemokratischen Dogmatismus vor, und sie sahen in ihm einen Apologeten des Monopolkapitalismus. Dass schließlich Marcuse einer der Vordenker der Bewegung wurde, zeigt, wie unterschiedlich sich vergleichbare historische Erfahrungen bei verschiedenen Personen auswirken können. Dies müsste reflektiert werden, ebenso wie eine Auseinandersetzung mit den früheren Debatten stattzufinden hätte, wenn die Linke, die unter dem Verlust historischer Urteilskraft leidet, die Diskussion vorantreiben möchte. Stattdessen dreht sie sich nicht selten im Kreis.
Ein weiterer Einschnitt mit grundlegenden Konsequenzen für die jetzige Diskussion ist der Stalinismus, der aufgrund der Rolle der Roten Armee bei der Zerschlagung Nazideutschlands in linken Debatten lange in den Hintergrund gedrängt wurde. Die so genannten Säuberungen in Osteuropa, die Gulags, die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn und des Prager Frühlings machen deutlich, was die Verwirklichung des Kommunismus bedeutet. Diese Erfahrung auszublenden, den einzig wahren Kommunismus zu fordern und den anderen abzusprechen, dass sie Kommunisten sind, hat etwas Absurdes.
Des Weiteren müsste darüber diskutiert werden, welche Auswirkung die Existenz von Massenvernichtungswaffen auf den Revolutions­gedanken hat. Es war nicht nur Günther Anders, der auf den phylogenetischen Bruch reflektierte, den der Abwurf der Atombombe auf Hiro­shima bedeutet. Die Fähigkeit der Menschheit, sich selbst zu vernichten, konstituiert eine neue anthropologische Situation. Auch Adorno wies darauf hin, dass Barrikadenbau vor dem Hintergrund der Bombe lächerlich sei.
Hinzu kommt, dass die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlage der Menschheit zu einem immer größeren Problem wird. Dies betrifft zuerst die Menschen in den Entwicklungsländern. Wer in der Tageszeitung mehr liest als den Lokalteil, und wer sich noch für anderes interessiert als für die Situation in der deutschen Linken und die israelische Innenpolitik, kann dies nicht ignorieren. Das ist kein Ökopessimismus. Es stellt sich vielmehr die Frage, was das ständige Gerede von der grundlegenden Veränderung soll und ob dies nicht selbst ein Mittel des Fernhaltens realer Entwicklungen darstellt. Polemisch formuliert: Greenpeace und George Clooney, der als humanitärer Uno-Sonderbotschafter durch Darfur reiste, haben mehr zur kon­kreten Verbesserung der Situation von Menschen beigetragen als alle linksradikalen Diskussionen. Somit ist eine Skepsis denen gegenüber angebracht, die immer nur vom großen Ganzen reden und sich abfällig über Reformismus äußern.
Als Konsequenz sollte daraus aber nicht gezogen werden, die Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft aufzugeben. Ich werde kein Plädoyer für das Engagement in Parteien oder NGO halten. Eine Kritik daran ist notwendig, und zwar eine Kritik, die sich keinen praktischen Erwägungen unterordnet. Gerade diejenigen, die in Parteien tätig sind, sollten sich mit der Eigenlogik von Institutionen befassen. Dies geschieht jedoch häufig nicht, vielmehr kommt es zu einer reflexhaften Abwehr von Kritik, der vorgeworfen wird, sie sei destruktiv, nicht konstruktiv. Diese Abwehr ist antiintellektuelles Ressentiment.
Auf der anderen Seite wäre darüber zu diskutieren, was es mit einer ätzenden Ideologiekritik auf sich haben soll, die in letzter Zeit häufig gefordert wurde. Sie nimmt für sich in Anspruch, schonungslose Polemik zu betreiben, und reproduziert doch nur einen Manichäismus, der für abwägende, differenzierende Reflexionen keinen Platz lässt. Diese Art der Polemik ist somit meist eine Verfallsform kritischen Denkens und keineswegs erkenntnisfördernde Ideologiekritik. Es ist keine Polemik im Sinne von Karl Kraus, sondern persönliche Denunziation, die mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung nichts zu tun hat. Meist ist diese ohnehin nicht gewollt. Dies würde nämlich voraussetzen, die anderen Diskutanten, ihre unterschiedlichen Meinungen ernst zu nehmen, was nicht heißt, in eine beliebige Meinungsvielfalt ohne Wahrheitsanspruch zu verfallen. Es bedeutet aber, die Prämissen für eine Diskussion zu akzeptieren und Ambivalenzen in der eigenen Überzeugung sowohl zuzulassen als auch deutlich zu machen. Es heißt außerdem, den rigorosen Dogmatismus hinter sich zu lassen, der mit einem emphatischen Wahrheitsanspruch verwechselt wird. Darin steckt ohnehin eine schlechte linke Tradition, nämlich ein eklatanter Mangel an Selbstironie und eine bestürzende Humorlosigkeit.
Nicht jeder Teilnehmer einer Friedens­demons­tration ist antisemitisch, und nicht jedes Mitglied von Attac reproduziert den strukturellen Antisemitismus. Um dies zur Kenntnis zu nehmen, müsste man sich auf Diskussionen einlassen. Es wird jedoch kein Streit gesucht. Es werden Veranstaltungen organi­siert, auf denen einem erzählt wird, was man eigentlich schon vorher wusste (»Preaching to the Converted«) und was sich gut in das lieb gewonnene Interpretationsschema einfügt. Der Erkenntnisgewinn derartiger Veranstaltungen ist, vorsichtig formuliert, gering.
Die Denunziation abweichender Überzeugungen und die ideologiekritisch rationalisier­te Arroganz haben ferner etwas Antiliberales und typisch Deutsches. Daran zeigt sich, dass es in Deutschland keine erfolgreiche bürgerliche Revolution gegeben hat, die eine zivilisierte Streitkultur hervorgebracht hätte. Problematisch wird es, wenn man ständig auf die Linke eindrischt mit dem Argument, man wolle Leute aus deren Fängen befreien. Es sollte ­einen irgendwann zum Nachdenken bringen, dass die Leute, die angeblich aufgeklärt werden sollen, sich nicht im geringsten dafür interessieren, was man macht. Und dies meist zu Recht. Wenn es einem mit dem hehren Anspruch ernst wäre, müsste man sich nämlich auf Kontroversen einlassen. Stattdessen wird die Phraseologie perfektioniert. Dies trägt offene Züge von Propaganda.
Was also tun? Die Aversion gegen Parteien und NGO sollte abgelegt werden. Es sind hete­rogene Organisationen, in denen sich Menschen aus unterschiedlichen Gründen zusammenfinden. Wo man der eigenen Überzeugung Gehör verschaffen und diese im besten Fall noch eine Wirkung entfalten kann, dort sind Interventionen lohnenswert.
Es gibt Grenzen der Aufklärung, die durch ein ideologisiertes Bewusstsein gesteckt werden. Dennoch muss nicht jeder, der Adorno nicht gelesen hat, dem falschen Bewusstsein anheim­fallen. Es geht, mit anderen Worten, darum, sich auf Auseinandersetzungen einzulassen und seine kleinen Szenen zu verlassen. Wenn man es mit den Idealen der Aufklärung hält, ist dies alternativlos, es sei denn, man möchte die eigene gesellschaftliche Marginalität permanent rationalisieren. Auf der anderen Seite darf es keine Überschätzung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme geben. Emanzipatorische Positionen werden heute von Minderheiten vertreten, und es ist kaum noch zu benennen, was diese eigentlich ausmacht. Hier­über gilt es, mit allen die Kontroverse zu suchen, die den Anspruch haben, eine linke Position im 21. Jahrhundert zu formulieren, die sich jenseits von Antisemitismus, Antiamerikanismus, Antiimperialismus und regressivem Antikapitalismus bewegt.
Sebastian Voigt

Ja zum Nein.
Plädoyer für einen neuen Konservatismus
Es geht das Gerücht um, die Antideutschen seien in einer Krise. Sogar die Redaktion ihres Zentralorgans besteht darauf, dass ihre Berliner Konferenz vom Februar »ausdrücklich nicht antideutsch« zu nennen sei; der Kapitän geht über Bord, egal wie viele Passagiere sich noch an Deck drängen. Darüber kann man lamentieren; interessanter aber ist die Frage, wo kritisches Denken heute seinen Ort hat – oder aber preisgegeben wird.
Gleichwohl ein kurzer Blick auf Glanz und Elend der Antideutschen: Diese waren der Versuch intellektuell und moralisch nicht gänzlich verkommener Linker, auf die historischen Zäsuren von 1989 (für die Älteren) und Nine Eleven (für die Jüngeren) mit Zweifel und Selbstzweifel zu reagieren. Der Rekurs auf die Kritische Theorie bedeutete dabei in gewisser Weise einen Nachvollzug ihrer Geschichte: die Desillusio­nie­rung über den orthodoxen Marxismus und sein historisches Subjekt, die Abkehr von sei­ner ideologischen und organisatorischen Verfasstheit, die emphatische Rückbesinnung auf das, worum es jeder Aufklärung und jeder Emanzipation doch recht eigentlich zu gehen hat, also auf die an das Individuum gerichteten bürgerlichen (aber in der bürgerlichen Gesellschaft nicht eingelösten) Glücks-, Freiheits- und Prosperitätsversprechen. Der alte Horkheimer nannte das einmal die Verbindung oppositionellen Denkens mit starken konservativen Gedanken: Zu bewahren sei nämlich die Utopie des autonomen Subjekts, wie es im liberalen Unternehmer schon einmal kurz real zu wer­den schien. Aber – und das ist ein vernachlässigter Aspekt – der Verrat der Antideutschen an der Linken, motiviert durch den Verrat der Linken an eben jenen bürgerlichen Versprechen, war unvollständig. So weste allerlei angelern­tes linkes Gesinnungs- und Gruppen­elend fort. Auch hat es immer weniger den Versuch der Vermittlung des eigenen Denkens über den unmittelbaren Zirkel hinaus gegeben. Man be­schränkte sich immer mehr darauf, die »Rettung der Israelsolidarität« zuvörderst in Kreuzberger Hinterhöfen zu betreiben – was (im Po­si­tiven wie Negativen) eine Verkennung der eigenen Möglichkeiten darstellt.
Das heißt aber mitnichten, das zentrale Pro­blem sei die nicht aufgelöste Ambivalenz von Kritik und Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft und des Liberalismus. Um den Widerspruch gegen diese (u.a. im eingangs genann­ten Dossier der Jungle World geäußerte) Behauptung zu begründen, scheint eine Rekapitulation von Basisbanalitäten sinnvoll, denn Kritische Theorie wird zunehmend zum Jargon reduziert, nicht mehr aber ihr Begriff der Dialektik (zuvörderst der Aufklärung) recht verstanden.
Es ist falsch, von einer Ambivalenz von Kritik und Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft zu sprechen, weil schon der Begriff der Ambivalenz in die Irre führt: In ihm steckt die zweifelhafte Forderung nach Auflösung. Wenn man aber eine Dialektik der Aufklärung und der Mo­derne annimmt, so folgt daraus die Forderung, sich zu Aufklärung und Moderne dialektisch zu verhalten. Die Implikation der Dialektik ist, diese auszutragen, also Kritik und Affirmation zugleich zu betreiben; die Implikation der Ambivalenz ist es, diese einseitig aufzulösen. Derlei begriffliche Differenz hat konkrete Bedeutung: Die vermeintliche Ambivalenz aufzulösen, wurde nämlich exemplarisch unternommen: von Jürgen Elsässer, der qua Junge Welt heim ins Reich der Volksfrontgemeinschaft marschierte, ebenso wie von den »Freunden der Offenen Gesellschaft«, die in ihrer neuliberalen Bekennt­nishaftigkeit bei zwar gewendeter Ideologie doch ganz die Alten blieben. Zwischen dem Unvermögen des Liberalismus, die Glücks-, Freiheits- und Prosperitätsversprechen einzulösen, und dem Unwillen der Linken, überhaupt noch für diese einzutreten, kann man sich nur falsch entscheiden. Der Liberalismus ignoriert die in ihm drohende und ihn selbst bedrohende Barbarei; die real existierende Linke, mithin ihr Anti- respektive Postmodernismus, spiegelt die Sehnsucht nach der Barbarei selbst.
Dagegen den dritten Weg anzuempfehlen, also die Realpolitik, ist Ausdruck größter Ver­zweif­lung. Es ist ja tatsächlich ein großes und schwer auszuhaltendes Elend, immer nur Ge­neralkritik zu üben, nicht zu wissen, wie die zivilisatorischen Restposten noch zu retten sind, mit diesem Tun gesellschaftlich marginalisiert zu sein, machtlos und mit Schrecken zu erkennen, dass die offene Barbarei im Islam wieder einkehrt, dass mit der Bombe der Mullahs die Vernichtung Israels droht, dass durch Krisen wie die gegenwärtige sich die Zurichtung der Welt und der Menschen zur totalen Verwaltung beschleunigt. Dagegen will man doch etwas Gutes bewirken; darum gilt es mitzumachen, statt nur dagegen zu sein. Dabei nimmt man die eigenen Erkenntnisse nicht mehr ganz ernst, setzt sich über die eigene Vernunft hinweg und stellt die taktische Überlegung über die Wahrheit und ihre Vermittlung.
Um dies exemplarisch zu begründen, scheint eine kurze Rekapitulation sinnvoll: Die postnazistische Gesellschaft ist formal demokratisch institutionalisiert. Was ihr gleichwohl abgeht, ist eine Kultur von Dissens, Einspruch, Widerspruch und Streit – wenn man so will: ein wirklich demokratischer Geist. Diese hermetische Gesellschaft, in der Volksgemeinschaft und Gemeinsinn (nicht personell, sondern ideologisch) fortwesen, manifestiert sich in einem repressiven Konsens; das demokratische Selbstverständnis generiert sich allenfalls aus der Simulation von Zivilgesellschaft. Diese Zivilgesellschaft besteht zuvörderst aus Parteienstiftungen, staatlich alimentierten Initiativen und NGO: Im Englischen wurde dafür das Akronym »GONGO« erfunden – »Government-operated Non-governmental organizations«.
Ein Beispiel für derlei Zivilgesellschaft: Der »Koordinierungsrat deutscher Nichtregierungsorganisationen gegen Antisemitismus« lud kürzlich nach Berlin, um seiner Forderung nach einem Antisemitismusbericht des Bundes­tags Nachdruck zu verleihen. Einer der zum Grußwort Geladenen, der Vertreter der B’nai B’rith Europe, wagte ein paar unerwartet kritische Fragen:
»Was nützt uns ein neuer Antisemitismus­be­richt, ein Expertengremium des Bundestages: Gibt es nicht genug Berichte, Experten und Gremien? (…) Welche Erfolge erzielen wir mit all den Unterschriftenlisten, Kampagnen, Petitionen, Forderungskatalogen, Konferenzen, Kundgebungen, Demonstrationen; mit all unseren Presseerklärungen?« Und die geladenen Parlamentarier fragte er: » … sind Sie nicht mündig genug, das Offensichtliche und Nötige zu tun? Wer von Ihnen wird rigorose, unilate­rale Sanktionen Deutschlands gegen den Iran im Bundestag initiieren (…)?«
Hier also wagt es einer, der das NGO-Business bestens kennt, kritisch zu reflektieren; er ­nimmt seine Erfahrungen ernst, stellt sie zur Diskussion – und wird dafür bestraft. Von einer Vielzahl der »zivilgesellschaftlichen Akteure«, insbesondere der arrivierten NGO- und Stiftungsvertreter, wird er scharf dafür angegangen, sich so undiplomatisch verhalten zu haben. Petra Pau von der Linkspartei verlässt gar ostentativ den Raum. Zivilgesellschaft hierzulande ist mitnichten der Ort von Kritik; gefragt ist gefälliger Konformismus.
Ein Exempel dafür, wie man es richtig (und also: falsch) macht, lieferte kürzlich der sonst sehr geschätzte Matthias Küntzel. Unter dem Titel »Alarmruf gegen den globalisierten Antisemitismus« gibt er einen Bericht von einer Londoner Konferenz, auf der eine »interparlamentarische Koalition zur Bekämpfung des Antisemitismus« gegründet wurde. Küntzel lobt die verabschiedete Deklaration, die Reden, die Willensbekundungen und insbesondere die Ankündigung einer Nachfolgekonferenz. So weit, so belanglos, wozu also die Mühe eines langen Artikels? Der letzte Absatz gibt Auskunft:
»Aus Deutschland nahmen an der Konferenz neben Petra Pau und ihrem Büroleiter der SPD-Bundestagsabgeordnete Prof. Weisskirchen (…), der Beauftragte für die Beziehungen zu jü­di­schen Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswärtigen Amt, Benedikt Haller, sowie der Autor dieser Zeilen teil.«
Übt nun Küntzel in seinem Artikel Kritik an Petra Pau und ihrer unsäglichen Londoner Rede, in der sie »im Kampf gegen den latenten Antisemitismus« auf Bündnisse »zwischen israelischen und palästinensischen Friedensaktivistinnen« verweist? Fehlanzeige. Kritik an Weisskirchen, einst oberster Antisemitismus-Verwalter der OSZE und seit Schröders Zeiten außenpolitischer Sprecher der SPD im Bundes­tag? Fehlanzeige. Kritik an Benedikt Haller, der ebenso für die Politik – auch die Iran-Politik – des Außenministers Steinmeier steht? Nochmals Fehlanzeige. Durch derlei Gefälligkeitsprosa vermeidet man es, durch nicht opportunes Verhalten dem Adressaten in Politik und Gesellschaft unangenehm aufzufallen.
Was da wie ein Mangel an politischer Vernunft erscheint, wird oft nachgerade als Gebot der politischen Vernunft verklärt. Die Mit­macher wissen, dass es in der hermetischen Gesellschaft als degoutant empfunden wird, den Konsens zu durchbrechen, und mahnen daher, dass sich klug (im Sinne von: taktisch, diplomatisch) verhalten müsse, wer Einfluss nehmen wolle. Dabei ist es doch Verrat an der Wahrheit und gehöriger Selbstbetrug, wenn kluge Menschen sich so unkritisch verhalten, ja sich suggerieren, über den Umweg des Be­schweigens praktisch Gutes bewirken zu können.
Es kommt einem dabei der oft zitierte Satz von Adorno in den Sinn: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« In einem Interview kurz vor seinem Tod deutet er an, wie der Versuch aussehen könnte, vor dieser Aufgabe nicht gänzlich zu scheitern, und das scheint auf die derzeitigen Vorgänge übertragbar. Adorno wendet sich gegen den Vorwurf, sich der Praxis zu verweigern: »Ich glaube, dass eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft. Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis besteht heute gerade darin, dass die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. (…) Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, dass man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.«
Wer also unter den obwaltenden Bedingungen unmittelbare Veränderungen bewirken will und sich daher realpolitisch engagiert, wird die gewünschten Erfolge kaum herbeiführen können; er muss sie sich schon einreden. All die hilflosen Kampagnen, Unterschriftenlisten und Petitionen sind Ausdruck von Verzweiflung und intellektueller Selbstaufgabe.
Festzuhalten ist vielmehr an der Hoffnung, dass mit einem kritischen Denken, im Beharren, ganz konservativ-aufklärerisch der Wahr­heit verpflichtet zu sein, und im stets aufs Neue zu unternehmenden Versuch, Wege in die Öffentlichkeit und Formen der Vermittlung zu finden, sich doch etwas Gutes bewirken lässt. Und sei es nur, jenen, die noch fähig zu Zweifel und Erfahrung sind, eine Option jenseits des verdummenden Mitmachens aufzuzeigen. Und sei es, dass im kritischen Denken die Sehnsucht nach einem besseren und menschliche­ren Leben noch am ehesten aufbewahrt bleibt.
Christian J. Heinrich

Bei den hier versammelten Beiträgen, gekürzt und redaktionell bearbeitet, handelt es sich um Statements, die auf einer Diskussionsveranstaltung vorgetragen wurden, die kürzlich in Leipzig stattfand und auf der Heinrich, Voigt und Schrotfels, einer der drei Autoren des eingangs erwähnten Dossiers (»Jungle World« 4/2009), auf dem Podium saßen.