Ökologische Probleme in Südindien

Tödliches Wasser

Auf dem Papier ist Indien Vorreiter in ­Sachen Umweltschutz, in der Praxis ist das Gegenteil der Fall. In der vorigen Woche starben mindestens sieben Menschen in der Region Hyderabad an verseuchtem Trinkwasser. Warnungen gab es seit Jahren. Sie wurden ignoriert.

Die Aussicht ist exotisch: grüne Seen, bläulich schimmernde Tümpel, braune Bäche. Doch hierher verirrt sich fast nie ein Tourist. Dabei liegt der Vorort Patancheru nur knapp 20 Kilometer entfernt vom Stadtkern Hyderabads, der Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Andhra Pradesh. In der Region produzieren etwa 250 Fabriken Pharmazeutika, vor allem für den europäischen und US-amerikanischen Markt. Im vergangenen Jahr exportierte Indien Medikamente im Wert von etwa 1,4 Milliarden US-Dollar in die USA, dem größten Handelspartner in diesem Segment.
Im einstmals landwirtschaftlich geprägten Patancheru wurden in den siebziger Jahren große Areale zu Schleuderpreisen vom Staat an Investoren verkauft. Die Ansiedlung von Pharmaunternehmen und Pestizidherstellern schuf mehr als 25 000 Arbeitsplätze, Tausende weitere Jobs entstanden durch die Aufwertung des Gebiets. Doch schon wenige Jahre nach dem Boom folgte die Ernüchterung: Die Erträge der Bauern gingen zurück, die anliegende Bevölkerung klagte über ­diverse Gesundheitsprobleme, und das Grundwasser begann sich zu verfärben. Im vergangenen Jahr identifizierte das staatliche Central Pollution Control Board 22 massiv verschmutzte Gegenden in Indien, in denen dringender Handlungsbedarf besteht – Patancheru ist eine davon.

Wie desolat die Wasserversorgung im Raum Hyderabad tatsächlich ist, zeigte sich Ende voriger Woche. Innerhalb weniger Tage starben sieben Menschen an den direkten Folgen verunreinigten Wassers, mehrere hundert Menschen mussten in Krankenhäuser eingeliefert werden. Die genaue Ursache ist noch ungeklärt, vermutlich mischten sich Abwässer und Leitungswasser nach dem Bruch mehrerer Leitungen im Stadtteil Bholakpur. Mindestens vier Mal hatten Anwohner in den vergangenen Monaten Beschwerde bei der zuständigen Behörde eingereicht, allerdings ohne jegliche Reaktion. In dem betroffenen Stadtteil leben vor allem Muslime und Dalits. Mit weiteren Todesopfern unter der verarmten Bevölkerung muss nach Angaben der Times of India gerechnet werden.
Akuter Handlungsbedarf wurde für die Region bereits Anfang der neunziger Jahre konstatiert. Seither wiesen Forscher des National Geological Research Institute kontinuierlich Schwermetalle im Abwasser nach, in Konzentrationen, die den erlaubten Grenzwert teils um das 20fache übersteigen. Diese Abwässer dienen der Bewässerung der Felder und der Versorgung von Nutztieren. Aber auch zahlreiche Menschen sind gezwungen, das Wasser zu trinken, da die Trinkwasserversorgung in einigen Dörfern nicht durchgehend gewährleistet ist und für Tausende Wanderarbeiter in ihren mobilen Slums erst gar keine Infrastruktur besteht.
Im vorigen Jahr veröffentlichte eine Forschungsgruppe von der Universität Göteborg einen Bericht über die Verunreinigung der Abwässer in Patancheru. Die Dokumentation listet insgesamt 21 medizinische Schadstoffe auf, deren Konzentration weit über den in der EU erlaubten Grenzwerten liegt. Bei zehn Substanzen wurden in Patancheru die höchsten Werte in einem offenen Gewässer weltweit gemessen. Dem Bericht zufolge leiten einige Anlagen täglich Wasser ab, in dem sich zusammengenommen Mengen des Antibiotikums Ciprofloxacin finden, die ausreichen würden, um eine Stadt mit 90 000 Einwohnern zu behandeln. Dazu kommen weitere Schadstoffe in Luft, Wasser und Böden im Großraum Patancheru, die von den diversen Fabriken meist ungefiltert ausgestoßen werden.
Über die Folgen der Verunreinigungen für Mensch und Tier gibt es unterschiedliche Studien und Einschätzungen. »So hohe Konzentrationen habe ich noch nie gesehen. Sie haben definitiv Auswirkungen auf das biologische Gleichgewicht und die Gesundheit der Menschen«, kommentiert Dan Schlenk, Ökotoxikologe der University of California in Riverside, die jüngst nachgewiesenen Antibiotika-Werte im Grundwasser. Greenpeace wies in einer Studie, die 2004 in Kooperation mit zwei indischen Universitäten durchgeführt wurde, eine elffach höhere Krebsrate im Großraum Patancheru im Vergleich mit anderen Dörfern in Andhra Pradesh nach. Auch Herzprobleme, Atembeschwer­den und genetische Mutationen treten in der Region überdurchschnittlich häufig auf. »Umweltschutzstandards werden in Patancheru eingehalten«, sagt hingegen Rajeshwar Tiwari, Sprecher der Kontrollkommission für Umweltschutz in Andhra Pradesh.
Skandalöse Giftfunde, öffentlicher Protest, die Zusicherung von energischen Maßnahmen seitens staatlicher Behörden und letztlich keine grundlegende Veränderung. So stellt sich das übliche Ritual umweltpolitischer Entwicklungen in Indien in den vergangenen Jahren dar. Damit steht Patancheru exemplarisch für das Versagen des Staates in Sachen Umweltpolitik. Auch die regen Aktivitäten der zahlreichen umweltpolitischen watchdogs bewegten den Staat nur in Ausnahmefällen zum Handeln, zu einer einflussreichen politischen Kraft konnten sich Akteure mit einer ökologischen Programmatik bislang allerdings noch nicht entwickeln.
Zwar gab es einzelne Erfolge verschiedener Bewegungen: Staudammprojekte wurden mancherorts verhindert, einzelne Firmen werden immer wieder zu Entschädigungszahlungen verpflichtet, und in der Berichtserstattung der Massenmedien finden sich häufiger umweltpolitische Themen. In Patancheru konnten NGO in den neunziger Jahren mit der Hilfe einiger Regionalparteien den Bau eines Atommeilers abwenden. Aber in den meisten Fällen sind umweltpolitische Aspekte von nachgeordneter Bedeutung, wenn Entscheidungen getroffen werden. Auch bei den derzeit stattfindenden Wahlen spielt das Thema keine wesentliche Rolle. Dabei begünstigt die gesetzliche Ausgangslage in Indien grüne Aktivitäten.

Bereits 1976 verankerte die Regierung umweltpolitische Grundsätze in der Verfassung, als erster Staat weltweit. Ein Jahr bevor in der Bundesrepublik Deutschland ein Umweltministerium seine Arbeit aufnahm, hatte Indien eine solche Behörde eingerichtet. Auf Bundesebene sind diverse Gesetze für den Schutz von Luft, Wasser, Böden, Wäldern und Fauna in Kraft, alle Betriebe müssen sich gemäß der Gesetze detaillierten Umweltverträglichkeitsprüfungen unterziehen. In Neu-Delhi nahm die Luftverschmutzung in den vergangenen Jahren tatsächlich leicht ab, nachdem den Motor-Rikschas mit ihren alten Dieselmotoren die Lizenz entzogen wurde. Tausende prekär Beschäftige verloren dadurch allerdings ihre Lebensgrundlage.
Konkrete Verpflichtungen in Sachen Emissionen möchte die indische Regierung zurzeit nicht eingehen. Sie sagte lediglich die Einhaltung der von der OECD verlangten Pro-Kopf-Grenze beim CO2-Ausstoß zu. In der Diskussion um den Klimawandel präsentiert sich die indische Regierung derzeit gerne als benachteiligter Dritte-Welt-Staat. Das klingt dann etwa so: »Der Westen hat in den letzten Jahrzehnten die Ressourcen der Welt aufgebraucht und nun soll die internationale Gemein­schaft die Rechnung bezahlen. Warum aber sollten wir uns Hürden bei unserem Wachstum auferlegen, nun ist unsere Zeit gekommen«, schrieb ein Kommentator der Tageszeitung The Hindu anlässlich der Kopenhagener Klimakonferenz im April.
Derweil bieten häufigere und größere Überschwemmungen und längere Dürreperioden einen ersten Vorgeschmack auf mögliche Auswirkungen des Klimawandels. Prognosen zufolge werden vor allem die trockenen semiariden Gebiete Indiens stark von den steigenden Temperaturen betroffen sein, für Millionen Menschen steht die Ernährungssicherheit auf dem Spiel.
Doch auch ohne zusätzliche Belastungen durch Klimaveränderungen besteht ausreichend Handlungsbedarf: Die Luftverschmutzung in Neu-Delhi und anderen indischen Großstädten ist nach wie vor gesundheitsschädigend, große Küstenabschnitte sind durch Aquakulturen verunreinigt, und die Versalzung fruchtbarer Böden nimmt stetig zu. In der öffentlichen Diskussion um den Ausbau des indischen Atomsektors werden Fragen wie Reaktorsicherheit oder Endlagerung gar nicht erst aufgeworfen. Nach Ansicht von Greenpeace ist das Ausbleiben schwerwiegender Störfälle indischer AKW bisher dem Zufall geschuldet.

Die Regierung in Neu-Delhi begreift die starke Umweltverschmutzung zunehmend als Problem für den Tourismus und, noch wichtiger, für den Agrarsektor, also als ökonomisches Problem. Etwa 60 Prozent der 1,1 Milliarden Inder sind von der Landwirtschaft abhängig. Und jedes Jahr erhöht sich die Einwohnerzahl des Staates um 15 Millionen Menschen. Vorrangiges Ziel der staatlichen Politik bleibt den Aussagen der Regierung zufolge die Armutsbekämpfung. Dabei setzen sowohl die Bundesregierung in Neu-Delhi als auch die Regierungen in den Bundesstaaten auf ökonomische Entwicklung. In den vergangenen Jahren hat die Regierung mehr in »grüne Technologien« und erneuerbare Energien investiert.
Europäische und US-amerikanische Firmen, ebenso wie staatliche Entwicklungsagenturen, drängen ins Land und hoffen auf Durchdringung des lukrativen Marktes. Gleichzeitig profitiert die Bevölkerung des Westens von den günstigen Pharmaprodukten made in India. Demonstrativ vernachlässigte Umweltstandards stellen in dem ständigen Wettstreit der Bundesstaaten um die Ansiedlung größerer Industrien einen klaren Standortvorteil dar. Die Einhaltung umweltpolitischer Regulierungen ist in Indien Sache der Bundesstaaten, meist sind lokale Institutionen ohne Kontrollmechanismen für die Überprüfungen zuständig.
So ist es auch in Patancheru. Seit Jahrzehnten ziehen sich hier bereits die Verfahren gegen diverse Pharmaproduzenten hin, die von NGO angestrengt wurden. »Wir haben es hier mit einer informellen Kooperation von Industrie und Politik zu tun. Die Firmen kaufen sich aus der Verantwortung«, sagt Divakara Rao von der NGO Deccan Development Fund. Der Präsident des Verbandes indischer Pharmazeutika-Produzenten, Narayana Reddy, räumt zwar ein, dass es Umweltbelastungen in der Region gebe, macht aber dafür illegal verscharrte Abfälle verantwortlich: »Die Anlagen in Patancheru laufen regelkonform, die Befunde irgendwelcher Wissenschaftler halte ich für falsch.« Die aktuellen Todesfälle in der Region Hyderabad widerlegen solche Verharmlosungen eindrucksvoll.