Über die Studie »Die Identität der Deutschen«

Hegel auf der Flucht

Was bedeutet »Deutsch-Sein im Alltag«? Die Identity Foundation gibt die Antwort: mit der Studie »Die Identität der Deutschen«, die zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik erschienen ist.

»Identität ist der mit sich selbst identische Unterschied«, wusste schon Hegel, ohne ahnen zu können, dass die herabgesunkenen Brocken seiner Identitätsphilosophie einmal als Versatzstücke eines intellektuell aufgepeppten Nationen-Marketings würden herhalten müssen. Längst nämlich sind es nicht mehr bornierte Nationalchauvinisten oder Preußenfans, die sich die Maximen des idealistischen Staatsphilosophen auf ihre Fahnen schreiben, sondern Vertreter einer kommunikationsfreudigen PR-Avantgarde, die sich für alternativ und weltoffen halten.

Die im Jahr 1998 gegründete Identity Foundation, der der Hohenheimer Soziologe Eugen Buß vorsteht und die alle zwei Jahre den »Meister-Eckhart-Preis« für Identitätsforschung ausschreibt, wirbt auf ihrer Website mit Hegels Ausspruch, weil darin die »Widerspenstigkeit« des Begriffs der Identität »auf wunderbare Weise ausgedrückt« sei. Die Stiftung sieht sich jedoch nicht als Hüterin eines verstaubten Kulturerbes, sondern will auf die Herausforderungen der »Globalisierung« und die »gesellschaftliche Komplexität« reagieren, indem sie den Begriff der »Identität«, der sich in den vergangenen Jahren »exponentiell erweitert« habe, anhand von »Personen wie auch von Dingen und sozialen Gruppierungen« erforscht.
Wenn dabei »Philosophie, Soziologie, Psychologie, Kommunikationswissenschaften, Betriebswirtschaft, aber auch Theologie und Kunst« interdisziplinär verknüpft werden, führt das wie von selbst zu jener höheren Esoterik, die längst auch an den Universitäten in Form der Cultural Studies zur neuen Leitideologie avanciert ist. Erforscht werden, so heißt es im Stiftungsprogramm, das »Identitätsverständnis verschiedener Kulturräume«, »Personal Identity und Corporate Identity«, »Identität durch Seinserfahrung (Ontologie)«, »Identität und Neurowissenschaften«, aber auch »Glücksdefinitionen und ‑erfahrungen der deutschen Bevölkerung«, das »Selbstverständnis deutscher Topmanager« sowie der »Wert des deutschen Gütesiegels«.

Gutgläubige mögen all das für harmloses Geschwafel halten. Wer hingegen schon einmal versucht hat, einen akademischen Projektantrag zu formulieren oder öffentliche Gelder für eine Kunst- oder Kulturveranstaltung zu ergattern, weiß genau, dass derlei Nonsensprosa schon lange die notwendige Voraussetzung dafür ist, als irgendwie förderungswürdig in die engere Wahl zu kommen.
Die Rede vom »deutschen Gütesiegel« sowie von nationalen »Glücksdefinitionen« – als wäre Glück nicht überhaupt nur als individuelles denkbar – lässt deutlich erkennen, worauf die Mixtur aus Marktforschung und Spiritualismus hinausläuft: »Identität« wird weder als individuelle Selbstidentität begriffen, die mit »Nationen« und »Kulturen« nichts zu schaffen hat, noch als die von außen oktroyierte, abstrakte Identität des Staatsbürgers, sondern als individueller Auftrag im Dienste des nationalen Ganzen, als jener Ort also, an dem Individuum und Staat spontan konvergieren und der Einzelne nichts anderes mehr ist als die aktive und freiwillige Verkörperung der Nation.
Die von der Identity Foundation anlässlich des 60. Geburtstages der Bundesrepublik erschienene Studie »Die Identität der Deutschen«, die jüngst in der Presse einige Beachtung fand, orientiert sich nicht mal mehr an empirischen Daten wie Sozial- und Bildungsstand, Parteizugehörigkeit oder persönliche Weltanschauung, sondern setzt subjektive, begründungslose Werturteile und Stim­mungen unmittelbar als objektiven Ausdruck der »nationalen Identität«: Die »Identität der Deut­schen«, heißt es, formiere sich »in einem Raum aus affektiv-emotionalen, kulturellen und kognitiven Bezügen, die in Variationsmustern auftreten und eine differenzierte Intensität des Deutsch-Seins mit sich bringen«. Feldforschung, Soziogramme und Milieustudien, mit anderen Worten seriöse Statistik und empirische Sozialforschung, erübrigen sich demzufolge, einzige Kennmarke für »Identität« sind »Affekte«, »Emotionen« und »Intensitäten«, also jene Mischung aus Instinkt, Ressentiment und partikularer Meinung, die selbst den Allensbacher Meinungsforschern lediglich als Ausgangspunkt und Voraussetzung, aber noch lange nicht als Ergebnis der eigenen Arbeit gilt.

Während die monatlichen Allensbacher Umfragen zumindest ein Bild dessen bieten, was hierzulande als gesunder Menschenverstand gilt, erschöpfen sich die Ergebnisse der Identitätsstudie in autoritärem Labelling. »Vier Prototypen gelebter deutscher Identität« gibt es demzufolge: die »Herz-Deutschen«, die sich emotional mit ihrem Land identifizieren und für die »rationale Aspekte keine Rolle« spielen (8,2 Prozent); die »Kultur-Deutschen«, für die »Deutsch-Sein« »mehr als ein Gefühl« ist (15,7); die »Grund-Deutschen«, die sich emotional und »geistig« mit Deutschland identifizieren und »die Leistungsfähigkeit von Land und Leuten« schätzen (50,6); und die »Distanz-Deutschen«, die sich »weder emotional, noch kulturell oder kognitiv mit der Nation verbunden« fühlen (12,7). Die übrigen 12,8 Prozent dürften demnach wohl als »Misch-Deutsche« gelten.
Die Vollzeitpatrioten, gut die Hälfte der Gesamtbevölkerung, wünschen sich »mehr Selbstbewusst­sein und Nationalstolz, gepaart mit historisch vermittelter Verantwortung«, sind also nicht trotz, sondern wegen Auschwitz auf Deutschland stolz und haben wenig gegen »Party-Patriotismus« einzuwenden. Im Gegenteil realisiere sich, wie es heißt, die »Bindung an die Nation« immer seltener in Form der überkommenen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, sondern eher in einem »Flickenteppich vieler kleiner party-patriotischer Feuerstellen«.
So groß wie behauptet ist die Veränderung allerdings nicht, wenn nur »jeder vierte patriotische Grund-Deutsche« der Aussage »Ich zahle Steuern, das reicht« zustimmt: Gerade wer die Verantwortung der Geschichte auf den Schultern spürt, sollte wissen, dass die Deutschen ihre Identität schon immer lieber durch Entfachung »patriotischer Feuerstellen« als durch abstrakten Dienst am Staat ausgelebt haben. Trotzdem gibt es bislang nur 36 Prozent, die bereit wären, sich in jedem Falle »vorbehaltlos für das Vaterland zu engagieren« – eine Tatsache, die offenbar einem dekadenten, aus Frankreich importierten Bohème-Habitus geschuldet ist, den die Autoren der Studien als »Caféhaus-Moral« auf seinen Platz verweisen.
Deutschsein, so viel macht die Studie klar, hat in Zeiten ökonomischer Krisen nichts mehr mit Vernunft zu tun. Der kulturbeflissene Bildungsbürger ist ebenso out wie der ordinäre Hippie oder Haschrebell. Mit jeder Faser der eigenen »Identität« deutsch zu sein, heißt vielmehr, sich ganz und gar dem »Nationalgefühl« hinzugeben, das sich in Form von Fußballweltmeisterschaft, Myfest oder kulturellem Karneval viel ungehemmter artikulieren kann als am Katheder oder im Konzerthaus. Nach Maßgabe dieser Einsicht gestaltet sich denn auch die gegenwärtige Bildungs- und Kulturpolitik, die auf allen Feldern und in allen Branchen immer mehr zur unmittelbaren volks­pädagogischen Propaganda zusammenschrumpft und auf »Ideologie«, also auf die Vorspiegelung falschen Scheins, längst verzichten kann. Das ist es wohl, was die Identity Foundation als »Deutschsein im Alltag« bezeichnet: Agent seiner Nation ist man nicht mehr nur auf dem Amt, im Beruf oder vor Gericht, sondern ganz besonders beim Pöbeln, Saufen, Grölen und Feiern, bei all jenen Aktivitäten also, die hierzulande als Ausdruck davon gelten, »Spaß zu haben«. Hegel wäre geflüchtet, sofern es ihm gelungen wäre, dem Lynchtod zu entkommen.