Über das Flüchtlingsdorf »Macondo« am Rande von Wien

Fünfzig Jahre am Rande der Stadt

Macondo heißt ein Dorf am Rande von Wien, in dem 3 000 Flüchtlinge aus 22 Län­dern zusammenleben. Seit den fünfziger Jahren kommen immer wieder neue Leute an. Über den Alltag in einem fast unbekannten transnationalen Mikrokosmos.

Die Frau, die ihren Einkaufswagen nach Verlassen des Supermarktes am Parkplatz zurücklässt, ahnt wahrscheinlich nicht, dass gleich hinter dem gelben Wellblechzaun bereits mehrere solcher Metro-Einkaufswagen stehen. Früher dienten sie alle ihrem eigentlichen Zweck, jetzt aber sind sie nur mehr Sitzgelegenheiten. Sie gehören zur Dorfsiedlung am Rande von Wien, die von ihren Bewohnern »Macondo« genannt wird.
Hier in Simmering, im 11. Wiener Gemeindebezirk deutet nicht vieles auf Multikulturalität hin. Es ist die Auslaufgegend der Großstadt. Hier bahnt sich die Donau nach ihrer Einbettung zwischen Hochhäusern und Strandbädern langsam, aber sicher wieder neben Blatt- und Buschwerk ihren Weg. Hier entstand in den fünfziger Jahren eine Dorfsiedlung für Menschen, die meist als Flüchtlinge nach Österreich kamen. Rund 3 000 Personen aus 22 Ländern leben heute hier. »In Macondo leben eigentlich nur Menschen, die schon länger in Österreich sind und auch Bleiberecht erhalten haben«, erklärt Claudia Schalla­böck vom Österreichischen Integrationsfonds.
Im Integrationshaus bekommen die Bewohner von Macondo Unterstützung von Sozialarbei­tern bei Behördengängen, bei der Jobsuche, aber auch bei Konflikten innerhalb der Siedlung. Deutsch­kurse kann man hier auch belegen.
Die 26jährige Tschetschenin Ayse kommt gerade mit ihrer Familie vom Einkaufen zurück. »Mir gefällt es hier«, meint sie und zeigt auf ein gelbes Haus. »Leider wird das Integrationshaus Ende September geschlossen, und wir müssen aus­ziehen.«

Die Geschichte ist in Macondo allgegenwärtig. Be­gonnen hat alles mit einem mexikanischen Jour­nalisten, der unter dem Spitznamen »Toluca« bekannt war und für kurze Zeit hier lebte. Er beschloss, den Alltag und das selbstorganisierte Zu­sammenleben der Bewohner auf Papier festzu­halten. Diese Geschichten hängte er dann im ganzen Gelände aus. Er nannte den Ort Macondo, in Anlehnung an den Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez.
»Die Bewohner lasen die Geschichten von Toluca immer mit großem Genuss«, sagt Jeremy Xido. Zusammen mit Claudia Heu bildet der gebürtige US-Amerikaner das Künstlerkollektiv Cabula 6. Seit September vergangenen Jahres wohnen die beiden hier in Macondo. »Freiwillig und mit großer Freude«, betonen sie.
Blickt man vom Fußballfeld quer über das Areal, so sieht man die Bungalows, in denen hauptsächlich Chilenen und Vietnamesen leben. Die ei­nen flohen im Jahr 1973 vor der Diktatur unter Augusto Pinochet, die anderen kamen als Boat-People nach Europa.
»Früher haben viele Ungarn hier gewohnt«, meint der 78jährige Koloman Pinesiczts, »jetzt sind nur noch sehr wenige da.« Pinesiczts wohnt in einer dieser Wohnungen. Gemeinsam mit seinem Nachbarn und Landsmann Herrn Kovacs sei er einer der ersten Ungarn hier in Macondo gewesen. »Das war 1960«, erinnert er sich. »Ich habe eigentlich nie daran gedacht, nochmals nach Ungarn zu gehen«, meint er. Aus Ungarn kamen nach dem Aufstand von 1956 die ersten Flüchtlinge, die sich hier ansiedelten. 1968 wurde Macondo zu einer Art Auffangbecken für Dissidenten aus der damaligen Tschechoslowakei. Und 1973 kamen dann Chilenen und Vietnamesen.
Claudia Heu klettert auf einen Container. »Den haben wir im März aufstellen lassen, um ihn zu einer Bühne und Begegnungsstätte für die Bewohner zu machen.«
Seit sie gemeinsam mit Jeremy Xido hier an die Wiener Außengrenze gezogen sind, arbeiten sie an ihrem Perfomance-Projekt »Life on Earth«.
Ausgangspunkt für das Projekt war eine Begegnung mit dem chilenischen Türsteher Ramon Villalobos einige Kilometer stadteinwärts. Die beiden Künstler trafen den Mann 2006 während seiner Arbeit im Wiener Museumsquartier an. »Wir sprachen mit ihm und erfuhren so, dass er in den siebziger Jahren aus Chile nach Euro­pa emigrierte«, sagt Claudia Heu. »Seine Geschichte hat uns so gepackt, dass wir eine Performance für ihn und über ihn kreierten.« Der erste Teil wurde im Museumsquartier vorgeführt, der zweite in Santiago de Chile. 2007 war man dann in Macondo.
»Die Leute nehmen den Container als Treffpunkt an. Sie kommen zusammen, reden und trinken. Das war genau das, was wir erreichen wollten«, so Claudia Heu. Die Trennlinie zwischen den Generationen scheint durchbrochen. Tschetschenische Jugendliche im Tratsch mit der Weltgeschichte. Dort etwa Ho-Tschi-Minh, da Augusto Pinochet.
Doch was wirklich zählt, ist das Hier und Jetzt. Macondo ist ein Ort, wo Integration nichts mit Staatsangehörigkeit zu tun hat, doch die Konflikte zwischen den Bewohnern bergen nicht wenige Gefahren, vor allem, wenn das Integrationshaus geschlossen wird. »Die Kinder der Tschetschenen machen manchmal Probleme«, sagt zum Bei­spiel Pinesiczts. »Stellen Sie sich vor, es wirft jemand etwas weg, was ein anderer noch brauchen kann. Die Kinder sind dann manchmal schneller und machen die Sachen kaputt.«
Jeremy Xido bringt dafür Verständnis auf: »Viele tschetschenische Flüchtlinge haben bis vor kurzem noch in einem Kriegsgebiet gelebt. Sie haben einfach das Gefühl, sich hier behaupten zu müssen.« Dabei haben Pinesiczts und Kovacs genau dasselbe durchgemacht. Nur ist es eben lange her. Und das müssten die Neuankömmlinge einfach lernen und begreifen, meint der Amerikaner. Die inneren Spannungen und die Schließung einer Einrichtung, die sich für eine friedliche Konfliktlösung eingesetzt hat, werden das Leben in Macondo vermutlich noch prekärer machen, als es ohnehin ist.