Das UNHCR und die Repression gegen Flüchtlinge

Flüchtlingsschutz mit Schlagstock

Die UN-Flüchtlingsagentur spielt eine wichtige Rolle in der Strategie der Europäischen Union, Migrationskontrolle und Flüchtlingsschutz in die Transitländer auszulagern. Das beweist auch die Repression gegen Flüchtlinge in Marokko.

»Réinstallation-Solution Durable« war auf einem der Transparente zu lesen, das die Flüchtlinge an die hohen Metallgitter hängten, die den Sitz der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR) in Rabat schützen sollen. Dieser Slogan beinhaltet auch die zentrale Forderung der Flüchtlinge, die Mitte Juni über eine Woche lang gegen die Politik des UNHCR in Marokko protestierten. In einer Presseerklärung forderte das Rassemblement pour tous les réfugiés au Maroc (RTRM) die sofortige Umsiedlung der Flüchtlinge in andere Länder. Ihre Forderung begründeten die Flüchtlinge mit den untragbaren Lebensbedingungen, die sie seit Jahren in Marokko erdulden müssen. Hintergrund ist, dass die marokkanischen Behörden sich weigern, den vom UNHCR anerkannten Flüchtlingen Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen. Deshalb haben sie weder Zugang zum regulären Arbeitsmarkt noch zu öffentlichen Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäusern. Darüber hinaus werden auch anerkannte Flüchtlinge immer wieder festgenommen und an die algerische Grenze deportiert, da die marokkanischen Sicherheitskräfte die vom UNHCR ausgestellten Papiere nicht anerkennen.

Der Protest in Rabat fand während eines vom UNHCR organisierten Festivals anlässlich des »Tag des Flüchtlings« statt. Die Flüchtlinge selbst blieben der Veranstaltung fern, die das UNHCR nach Angaben eines Mitglieds des RTRM mit rund 30 000 Euro finanziert hatte. Um der Presse den Eindruck zu vermitteln, die Flüchtlinge seien gut in die marokkanische Gesellschaft integriert, waren Studierende aus subsaharischen Staaten zu den Festivitäten eingeladen worden. Dennoch endete ein Bericht der französischsprachigen marokkanischen Tageszeitung Libération mit der Frage: »Inwieweit repräsentiert das UNHCR die Flüchtlinge, die vor seinem Büro protestieren und seine Politik kritisieren?«
Die Veranstaltung ist symptomatisch für die neue politische Strategie der Vereinten Nationen in Marokko. Über 37 Jahre lang war das UNHCR nur mit einer Honorardelegation in Marokko präsent. Im November 2005 eröffnete das UNHCR überraschend und ohne Einverständnis der marokkanischen Regierung ein neues Büro in der Hauptstadt Rabat, in das eine überwiegend mit Europäern besetzte Delegation einzog. Der französische Soziologe Jerôme Valluy geht davon aus, dass der Umzug des UNHCR in Zusammenhang mit der Strategie der Europäischen Union steht, den Flüchtlingsschutz in die Herkunfts- und Transitländer auszulagern. Denn als wichtiges, direkt an die EU angrenzendes Transitland steht Marokko im Mittelpunkt der im Haager Programm von 2004 formulierten Strategie, in Partnerschaft mit den betreffenden Drittländern und in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit dem UNHCR regionale Schutzprogramme der EU auszuarbeiten. Dass im »Country Operation Plan« des UNHCR von 2005 die Initiierung einer nationalen Asylgesetzgebung in Marokko als wichtigste Maßnahme genannt wird, bestätigt Valluys These. Denn eine nationale Asylgesetzgebung würde die EU ihrem langfristigen Ziel, Marokko zu einem sicheren Drittstaat erklären zu können, einen entscheidenden Schritt näher bringen. Nur dann könnte das Rücknahmeabkommen, das noch dieses Jahr mit Marokko abgeschlossen werden soll, auch angewendet werden. Ansonsten würde eine generelle Asylvermutung die Klausel, die Marokko zur Rücknahme von Drittstaatenangehörigen verpflichten soll, faktisch außer Kraft setzen.
Seit das UNHCR mit einer internationalen Delegation in Marokko präsent ist, organisiert es immer wieder Runde Tische, Workshops, Seminare und Konferenzen, um die marokkanische Gesellschaft auf den Flüchtlingsschutzdiskurs einzuschwören, damit diese ihrerseits Druck auf die Regierung ausübt, eine nationale Asylgesetzgebung zu erlassen. Bereits im November 2005 organisierte das UNHCR in Kooperation mit der französischen und marokkanischen NGO eine Tagung mit dem programmatischen Titel »Asil’Maroc«. Wie der Leiter des UNHCR in einem Interview bestätigte, wird der Großteil des Budgets für diese Form des »Capacity Building« ausgegeben. Dieses belief sich im Jahr 2007 immerhin auf fast 1,6 Millionen Dollar.

Bei den rund 600 vom UNHCR anerkannten Flüchtlingen kommt von dem Geld hingegen so gut wie nichts an. Nur eine Minderheit erhält eine finanzielle Unterstützung. Die meisten von ihnen teilen sich mit mehreren Personen ein Zimmer oder sind obdachlos. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie durch Gelegenheitsjobs im informellen Sektor, Betteln oder Prostitution. Der politische Aktivist Fiston Massamba, selbst ein vom UNHCR anerkannter Flüchtling, fasste die Situation in einem im Internetmagazin Vacarme veröffentlichten Artikel zusammen: »Für die Flüchtlinge macht es praktisch keinen Unterschied, ob sie vom UNHCR anerkannt worden sind oder nicht.«
Die Strategie des UNHCR, gesellschaftlichen Druck von unten auf die marokkanische Regierung aufzubauen, zeitigte hingegen bald Erfolge. Im Juli 2007 unterzeichnete die marokkanische Regierung ein Abkommen, in dem sie sich dazu verpflichtete, eine nationale Asylgesetzgebung auszuarbeiten. Die Frage ist seitdem nicht mehr, ob, sondern nur noch wann ein Asylsystem in Marokko eingerichtet werden und wie es gestaltet sein wird. Doch noch bevor dies geschieht, hatte der Flüchtlingsschutzdiskurs der Vereinten Nationen praktische Konsequenzen in Marokko. Nach der Deportation von fast 1 000 Migranten an die algerische Grenze im Dezember 2006 konzentrierten sich die Aufmerksamkeit der Medien und die politische Diskussion weitgehend auf die wenigen vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge unter den Deportierten. Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die regelmäßig von marokkanischen Sicherheitskräften an den 10 000 Migranten begangen werden, die sich nach Schätzungen derzeit in Marokko aufhalten, werden dagegen nur selten bekannt.
Gerade die Einführung der Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten ist es, die den Flüchtlingsschutzdiskurs so problematisch macht. Während Flüchtlingen ein Recht zuerkannt wird, Grenzen zu überqueren, wird dieses Recht all jenen aberkannt, die nicht unter die eng gefasste Definition des Flüchtlings fallen. So entsteht mit der Figur des Flüchtlings zugleich die des »Wirtschaftsmigranten«. Wie die Forschungsgruppe Transit Migration in ihrem Buch »Turbulente Ränder« feststellt, wird mit dieser Aufspaltung des sozialen Feldes in »Schurken und Opfer der Migration« die Migration als ein Problem konstruiert, das politischer Regulation bedarf.
In den Trainingsseminaren und Öffentlichkeitskampagnen des UNHCR kommen Flüchtlinge nur als Opfer vor. Ihnen wird eine Hilfs- und Schutzbedürftigkeit zugeschrieben, die Verantwortung für entsprechende Maßnahmen wird staatlichen Akteuren übertragen. So forderte ein Vertreter der Menschenrechtsorganisation EMDH in einer Diskussionsveranstaltung auf dem Festival in Rabat, dass die marokkanische Regierung einen konkreten Zeitplan für die Einrichtung eines Asylsystems aufstellen und einhalten soll. Doch erst mit der Einrichtung eines auf dem Selektionsprinzip beruhenden Asylverfahrens wird Migration »illegal«. Denn wer nicht in die eng gefasste Kategorie des schutz- und hilfsbedürftigen Flüchtlings fällt, dem wird nach der Statusbestimmung durch das UNHCR amtlich bescheinigt, ein »Illegaler« zu sein. Die Kriminalisierung von Migranten ist im Flüchtlingsschutzdiskurs somit die Kehrseite der Viktimisierung von Flüchtlingen.
Immer wieder versucht der Leiter des UNHCR in Marokko in Zeitungsartikeln und Interviews, die Bedenken der marokkanischen Regierung damit zu erklären, dass ein Asylsystem sich als »Pull-Faktor« für vermehrte Einwanderung erweisen könnte. Die Zahl der Flüchtlinge in Marokko sei gering. Demzufolge seien nicht die wenigen Flüchtlinge, sondern die vielen »illegalen« Migranten das »wahre Problem« der Maghrebstaaten. In einem zehn Punkte umfassenden Aktionsplan propagiert das UNHCR deshalb »Mechanismen«, die es erlauben, Flüchtlinge innerhalb der mixed migration flows zu identifizieren, um sie aus der Masse der »illegalen« Migranten herausfiltern zu können. In Marokko plant das UNHCR bereits, sich an der Ausbildung von Grenzpolizisten zu beteiligen. Der von der EU geforderte Auf- und Ausbau der Grenzkontrollen in den Maghrebstaaten wird dadurch als eine »humanitäre« Maßnahme legitimiert, die der Identifikation und dem Schutz von Flüchtlingen dienen soll.

Dass der Flüchtlingsschutzdiskurs auch Nachteile für diejenigen hat, die er zu schützen vorgibt, beweist der Umgang des UNHCR mit den Protesten in Rabat. In der Nacht zum 27. Juni wurde ein Sit-in durch einen brutalen Einsatz der marokkanischen Polizei aufgelöst. Dabei wurden mehrere Flüchtlinge schwer verletzt. Nachdem das UNHCR bis dahin Verhandlungen mit den Protestierenden abgelehnt hatte, sagte es ihnen Gespräche für Anfang Juli zu. Diese blieben jedoch ohne Ergebnis. Stattdessen griff die marokkanische Polizei die Flüchtlinge erneut an, nachdem ihre Vertreter das Gebäude des UNHCR verlassen hatten. In einer Presseerklärung macht das RTRM das UNHCR für den Polizeieinsatz verantwortlich. Dieses hat sich bislang weder zur Polizeigewalt noch zu der Anklageerhebung gegen fünf Flüchtlinge wegen »illegalen Aufenthalts« geäußert. Dem RTRM zufolge beweist jedoch gerade dieser Anklagepunkt, dass die marokkanische Regierung die Rechte der Flüchtlinge nicht anerkenne und dass das UNHCR nicht in der Lage sei, sie zu schützen. Das Urteil im Prozess gegen die fünf inhaftierten Flüchtlinge steht noch aus.
Womit lässt sich diese Kombination aus Scheinverhandlungen und Repression erklären, mit der das UNHCR auf Flüchtlingsproteste reagiert? Diese aggressive Reaktion überrascht weniger, wenn man berücksichtigt, dass sich die Legitimität des UNHCR als Fürsprecher der Flüchtlinge direkt aus deren Stilisierung zu hilfs- und schutzbedürftigen Opfern ableitet. Die Anthropologin Lisa Malkki hat bereits in den neunziger Jahren herausgearbeitet, dass Flüchtlinge vom UNHCR und anderen humanitären Organisationen als »sprachlose Emissäre« repräsentiert werden, die eines Leumunds bedürfen, der ihre Interessen erkennt und vertritt. Daraus leitet das UNHCR seine Autorität als Anwalt der Flüchtlinge ab. Aus dieser Perspektive erscheint die Repression als logische Folge des Flüchtlingsschutzdiskurses. Denn durch ihre selbstorganisierten Proteste machen sich die Flüchtlinge zu eigenständig handelnden politischen Subjekten und stellen damit unmittelbar die Legitimität der Stellvertreterpolitik des UNHCR in Frage.
So werden Flüchtlinge genau durch den Diskurs zum Schweigen gebracht, der vorgibt, Lösungen für das von ihnen erfahrene »Leid und Elend« zu bieten. Und das zur Not eben auch mit Gewalt. Wieder ist die Kriminalisierung ihrer Proteste die Kehrseite der Viktimisierung der Flüchtlinge. Diese beruht auf der ihnen zugeschriebenen Sprachlosigkeit, die daraus abgeleitet wird, dass die Rechte zur politischen Partizipation in einer nach dem Nationalstaatsprinzip organisierten Welt an die Staatsbürgerschaft gekoppelt sind. Innerhalb dieser »nationalen Ordnung der Dinge« können Flüchtlinge nur als »Problem« verhandelt werden. Gemäß dieser Logik haben Flüchtlinge als staatlich Verfolgte mit ihrer nationalen Zugehörigkeit auch ihre politischen Partizipationsrechte verloren. Deshalb zielen die drei vom UNHCR propagierten »dauerhaften Lösungen« – Repatriiierung, Integration in die Aufnahmegesellschaft oder Umsiedlung in einen anderen Staat – allesamt darauf, aus Flüchtlingen wieder »normale Staatsbürger« zu machen. Dadurch stellt das UNHCR jedoch genau die nationalstaatliche Ordnung wieder her, deren Konstitution und Reproduktion auf der Anwendung von Gewalt beruht, durch die ein »Flüchtlingsproblem« als permanentes Phänomen erzeugt wird. Doch stellen nicht die Flüchtlinge ein Problem dar, das einer Lösung bedarf, sondern das Nationalstaatsprinzip und das UNHCR, das diese »nationale Ordnung« reproduziert.