Der größte Markt von Moskau ist geschlossen

Thälmann muss Stalin weichen

Der größte Markt Moskaus wurde geschlossen. 100 000 überwiegend migrantische Händler wurden vertrieben, vielen droht die Ausweisung.

Wer in Moskau wilde Exotik statt zahmem westlichem Chic oder sowjetischem Abglanz erleben wollte, brauchte nur eine Reise in den Nordosten der Stadt zu unternehmen. Hier befindet sich auf einer Fläche von über 200 Hektar der längst legendär gewordene Tscherkison, der Tscherkisow-Markt. Noch vor gut einem Monat herrschte hier täglich ein Gedränge wie zur Rush Hour in der überfüllten Metro. Nun aber haben sich die Reihen gelichtet und nur noch wenige Händler stehen vor den geschlossenen Toren herum, weil sie entweder den Rest ihrer Waren aus dem riesigen Container-Labyrinth abholen wollen oder aber nicht wissen, wo sie sich eine neue Existenz aufbauen sollen.
Schon seit Jahren hieß es immer wieder, der Markt werde bald geschlossen, aber so richtig glauben wollte daran niemand. Am 29. Juni schließlich erfolgte plötzlich die Schließung. In den letzten Monaten vor dem Ende kursierten mehr und mehr Gerüchte über chinesische Schmug­gelware, aber eine eingängige Prüfung erfolgte erst, nachdem sich Premierminister Wladimir Putin Anfang Juni über mangelnde Zollkontrollen beschwert hatte. Vor Jahren ließ er die Führungsriege des russischen Zolls absetzen, geändert hat das an der Schmuggelpraxis nichts. Nachdem das Kommando von ganz oben gekommen war, nannte der Chefermittler der russischen Staatsanwaltschaft, Alexander Bastrykin, den Markt einen »Staat im Staate«. Ganz so, als wäre das zuvor niemandem aufgefallen.
Auf dem Tscherkison, einem der größten Märkte Europas, wurden neben unzähligen Gebrauchsgegenständen, Kleidung und Nahrungsmitteln alle nur erdenklichen Dienstleistungen zu Spottpreisen angeboten. Man konnte zum Friseur, zu einem der vietnamesischen Wunderheiler oder ins Bordell gehen, für jeden Geschmack war etwas dabei. Manche nannten den Tscherkison auch einen Trendsetter, denn was hier vertrieben wurde, landete früher oder später auf fast allen Provinzmärkten im europäischen Teil Russlands. Die waren zwei Wochen nach der Schließung des Tscherkison komplett leergekauft, der Nachschub aber blieb aus. Rund fünf Millionen Händler müssen sich nun überlegen, wie sie an neue Ware kommen.

An guten Tagen gab es einen Umsatz von 50 Millionen Dollar. Über 100 000 Menschen arbeiteten auf dem Markt, oft als Verkäufer oder Hersteller gefälschter Markenware von Adidas oder anderen erfolgreichen Labels. Nach chinesischen Angaben stammen mindestens 70 Prozent der Händler aus China. Russische Behörden setzen die offiziellen Beschäftigungszahlen viel niedriger an. Registriert waren 16 000 Kleinunternehmer, die Mietverträge mit der Gruppe AST des Magnaten Telman Ismailow oder einem seiner engen Geschäftskompagnons abgeschlossen hatten. Telman Ismailow, eigentlich Thälmann, denn der sowjetische Vorname geht direkt auf den deutschen kommunistischen Arbeiterführer zurück, ist ein enger Freund des langjährigen Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow. Dessen Einfluss scheint zu schwinden, denn hinter der Schließung des Marktes steht möglicherweise weniger der Kampf gegen die Korruption im Zollwesen als der Wunsch, Luschkow zu schaden, den bislang niemand von seinem Platz zu verdrängen wagte.
Die Georgierin Lali verkaufte am Samstag noch heiße Getränke, Fertigsuppen und allerlei Snacks. Sie hat einen Platz auf einem anderen Markt ergattert und wird ihren provisorischen Mini-Imbiss vor einem der vielen geschlossenen Eingänge demnächst aufgeben. »Die Händler haben sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut«, sagt sie achselzuckend. Begeistert davon ist sie nicht, lieber würde sie bleiben. Wer kann, sucht sich einen neuen Ort, aber die begehrten Plätze sind äußerst rar. Luschkow ließ seit 2002 über 200 Moskauer Märkte schließen, übrig geblieben ist kaum ein Dutzend. Auf den anderen Märkten regte sich bereits Unzufriedenheit, weil der Zustrom der Chinesen angeblich die Preise in die Höhe trieb. Die Regulierung der Mieten allerdings fordert niemand, stattdessen kämpft jeder für sich.
Einige wenige Versuche kollektiver Intervention zum Erhalt des Tscherkison gingen von asiatischen Migranten aus. Anfang Juli blockierten 100 vietnamesische Händler eine Ausfallstraße, zwei Tage später versuchten 1 500 Chinesen, den Tscherkison zu stürmen, um an ihre Waren heranzukommen, welche die Marktadministration anfangs nur an Privilegierte herausgab.

Zwei junge Chinesinnen und ein Chinese haben gerade den letzten Rest ihrer Waren abgeholt und verlassen das abgeriegelte Marktterrain. 50 000 Rubel, umgerechnet über 1 000 Euro, mussten sie auf den Tisch legen, um ihr Eigentum freizukaufen. Sie sagen, dass sie eine Unterkunft gefunden haben, aber wo sie nun ihre Ware loswerden sollen, wissen sie nicht. »Es ist sehr teuer, einen anderen Ort zu finden«, sagt eine der Frauen.
Für Ausländer stellt sich nun zudem die Frage nach einem legalen Aufenthalt. Über 400 Migranten wurden bislang abgeschoben, etliche andere verwarnt. Denn das Gesetz fordert einen Vertrag mit einem Unternehmer, deshalb sehen sich viele ausländische Händler neben dem Verlust der Einkommensquelle mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert. »Wir haben die Behörden gebeten, jene Migranten, die durch die Schließung des Marktes ihren Status verloren haben oder sich hier gänzlich ohne Arbeitsgenehmigung aufhalten, zu legalisieren«, sagte Raschid el-Arabi, der Vorsitzende des Komitees für Geschäft und Wirtschaft der Föderation der Migranten Russlands, der Jungle World. »Denn anderweitig sind sie den Sklavenhändlern voll ausgeliefert.« Doch der Migrationsdienst bleibt stur und beruft sich auf die Gesetze, die eine Legalisierung nicht vorsehen. Die Führung der Behör­de sprach sogar die Empfehlung aus, Handelsfirmen künftig eine Absage zu erteilen, wenn sie Genehmigungen für ausländische Arbeitskräfte beantragen.

Hinter einem der verschlossenen Markttore sitzen zwei junge Männer und langweilen sich. Chigir und Nurmat stammen aus Tadschikistan. Beide wollen spätestens im September zu ihren Familien zurück, weil in Moskau keine Arbeit in Sicht ist und sie nicht einmal mehr ihren vergleichsweise lukrativen Tageslohn von etwa elf Euro ausbezahlt bekommen. Nurmat ist 20 Jahre alt, Dokumente für einen legalen Aufenthalt besitzt er nicht, aber das scheint ihn wenig zu kümmern. »Der Migrationsdienst kommt nicht mehr auf den Markt, hier es ist ruhig«, sagt er.
Die chinesische Führung hat schnell reagiert, der ungestörte Warenvertrieb in Moskau wurde zur Staatsangelegenheit erklärt. Die Regierung ist bereit, eine Milliarde US-Dollar in den Bau eines neuen gigantischen Handelszentrums zu investieren. Im Moskauer Vorort Ljubertsy soll für 80 000 chinesische Händler eine neue China Town entstehen. Kirgisen, Tadschiken, aber auch aus dem russischen Dagestan stammende Händler und Produzenten müssen hingegen ohne kapitalkräftige Unterstützung auskommen. Wo heute die Containerhallen des Tscherkison stehen, plant die Moskauer Stadtregierung bereits ein neues Großprojekt. So ist derzeit der Wiederaufbau des ehemaligen Stadions mit dem bezeichnenden Namen »Stalinets« im Gespräch.