Die Erzählungen des russischen Autors Wassili Grossmann

Hier ruht die Revolution

Als junger Mann unterstützte er die Oktoberrevolution, als Schriftsteller trug er sie zu Grabe: Die Erzählungen des russischen Autors Wassili Grossman sind jetzt auf Deutsch erschienen.

Als der russische Schriftsteller und Journalist Wassili Grossman 1964 starb, war völlig unklar, ob sein monumentales Hauptwerk »Leben und Schicksal« jemals veröffentlicht werden würde. Ende der fünfziger Jahre hatte er es zur Prüfung eingereicht, woraufhin der KGB seine Wohnung durchsuchte und das Manuskript beschlagnahmte. Grossman hatte in seinem Werk das Sakrileg begangen, nicht nur die Verbrechen der Deutschen, sondern auch die Judenverfolgung unter Stalin zu benennen. Das mehr als 1 000 Seiten umfassende Buch ist das ernüchternde Zeugnis eines intellektuellen Juden, der während der Oktoberrevolution noch glaubte, dass Antisemitismus und eine auf internationale Solida­rität begründete Bewegung sich automatisch ausschließen müssten.
In Grossmans Biografie spiegeln sich die historischen Schrecknisse des vergangenen Jahrhunderts: Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion 1941 wurde seine jüdische Mutter deportiert und ermordet; Grossman arbeitete als Kriegsreporter für die Zeitung der Roten Armee, schilderte die Schlachten um Moskau, Stalingrad, Kursk und Berlin und schrieb einen der ersten Augenzeugenberichte über die Konzentrationslager Treblinka und Majdanek. Sein 1944 verfasster Bericht »Die Hölle von Treblinka« wurde später als Dokument während der Nürnberger Prozesse verlesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er als Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees die Herausgabe des »Schwarzbuchs« über die Vernichtung der Juden in Russland und die Nazi-Kollaborateure in der Ukraine. Bereits dieses 1948 fertiggestellte Buch fiel der Zensur zum Opfer und sorgte dafür, dass sich Grossman endgültig von der Politik Stalins distanzierte. Einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sollte von nun an fast nur noch für die Schublade schreiben.
Nachdem bei Claassen bereits im vergangenen Jahr der Roman »Leben und Schicksal« veröffentlicht wurde, erscheinen im selben Verlag unter dem Titel »Tiergarten« erstmals seine zwischen 1940 und 1963 entstandenen Erzählungen in deutscher Sprache. Hier gelingt es ihm, das Entsetzen über die Entmenschlichung auf das kleine Format zu übertragen, wobei er sich fast nur noch mit Menschen solidarisch erklärt, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden – die Armen, Alten und Vergessenen, zu deren Beerdigung keiner mehr kommt.
So auch in der Erzählung »Tiergarten«, deren Protagonist, ein Pfleger im Berliner Zoo kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, ganz ohne Freunde lebt und von seinen Mitmenschen für einen wunderlichen Alten gehalten wird, der nur noch mit Tieren verkehrt. Gut, dass dieser Text nicht von einem deutschen Gegenwarts­literaten stammt. In der heutigen, revanchistischen Erinnerungsliteratur würde ein solcher Plot wohl ausschließlich dazu dienen, die eigene Opferrolle zu unterstreichen. Bei Grossman ist das Gegenteil der Fall: Sein Protagonist kann bloß für die Tiere Mitleid empfinden, wünscht sich ansonsten jedoch die bedingungslose Vernichtung Deutschlands, was die Erzählung durch die Schilderung eines derart infamen Szenarios unterstreicht, dass die Bombardierung Berlins von den Lesern gar nicht anders denn als Befreiungsschlag empfunden werden kann. Auf nur wenigen Seiten skizziert Grossman ein beklemmendes Deutschland, in dem selbst dann noch Menschen bespitzelt und deportiert werden, als längst klar ist, dass der Krieg verloren ist. »Es zeigte sich, dass der Staat, und nicht die Menschen, ein lebendiges und freies Wesen war«, reflektiert der Zooangestellte. »Es fand eine teuflische Selektion statt: Die Furchtlosen, Freiheitsliebenden, diejenigen, die eine klare Gesinnung hatten und gutherzig waren, erwiesen sich als unbrauchbar – sie waren es, die auf die Müllkippe geschafft wurden.«
Solch reflektierende Passagen sind in Grossmans Erzählungen durchaus üblich, manche der in »Tiergarten« versammelten Prosatexte tendieren sogar eher zum Essay und weisen keine konventionelle Erzählstruktur mehr auf, etwa »Die Sixtinische Madonna«, eine Reflek­tion über Raffaels Gemälde, die in Erinnerungen an Treblinka mündet. Wie schon in »Tiergarten« greift Grossman hier den Gedanken auf, dass Freiheit das eigentlich Menschliche am Menschen sei. Er stellt gegen Ende des Textes mit klaren Worten fest: »Was können wir, die Menschen aus der Epoche des Faschismus, vor dem Gericht der Vergangenheit und der Zukunft sagen? Es gibt für uns keine Rechtfertigung.«
Essayistische und erzählerische Momente durchdringen einander auch in »In ewiger Ruhe«, eine seiner schönsten Erzählungen. Gross­man schildert den alten Wagankows­koje-Friedhof in Moskau und nimmt einen Spaziergang über den Friedhof zum Anlass, über verschiedene menschliche Schicksale zu sinnieren, und skizziert mit nur wenigen Sätzen ganze Lebensläufe von der Geburt bis zum Tod mit brillanter lakonischer Poesie. Schleichend geht die Erzählung vom Privaten ins Politische über. Der Erzähler stellt fest, dass selbst die Inschriften auf den Grabsteinen die Toten nicht vom Staat entbinden, sondern deren Funktion und Rang festhalten: »Das Staatliche und Gesellschaftliche folgt den Menschen auf den Friedhof nach.«
Am Ende steht er vor den Gräbern aus der Frühphase der Revolution, an den Grabmälern jener, »die an die Weltkommune geglaubt haben«: »Zu diesem Zeitpunkt war das Nationale noch nicht gänzlich aus der Form des sowjetischen Lebens in seinen Inhalt übergegangen und hatte sich das Sozialistische noch nicht endgültig in die Form verabschiedet. (…) Wie viele gemischte Ehen! Welch wunderbare Gleichbehandlung der Nationen! (…) Und wie viele Letten, Juden, Armenier, was für Kampfparolen auf den Grabmalen!« Abermals kommt der Begriff der Freiheit ins Spiel und mündet in einen Abgesang auf Staat und Obrigkeit. An den Gräbern vermeint der Erzähler noch die Flamme der jungen Revolution zu spüren, »den Geist der Internationale«. Doch was nützt eine Flamme, die nur noch auf den Gräbern glüht? – »Hier ist er, der Tod«, endet die Erzählung, die eine der größten Hoffnungen des 20. Jahrhunderts für gescheitert erklärt.
Bereits die wenigen hier eingestreuten Zitate machen deutlich, dass Grossmans Sprache nicht frei von Pathos ist und manchmal in humanistische Gemeinplätze mündet, die an Kalenderblatt-Sprüche erinnern. Damit steht Grossman nicht allein, auch in der Exilliteratur von Alfred Döblin, Klaus Mann oder Anna Seghers lassen sich vergleichbare Sätze finden. Für heutige Leser mögen sie angestaubt oder allzu banal wirken, doch nachdem der Holocaust jeglichen humanistischen Grundkonsens zerstört hatte, sahen sich die Autoren geradezu gezwungen, ihre Leser wie kleine Kinder zu behandeln. Die vor allem in den politischen Passagen sehr simpel gehaltenen Erkenntnisse Grossmans zeugen letztlich also nicht von der Schwäche des Erzählers, sondern geben das Entsetzen über eine Menschheit wieder, der selbst die einfachsten Grundlagen des Mit­einanders abhanden gekommen sind.

Wassili Grossman: Tiergarten. Aus dem Russischen von Katharina Narbutovic. Claassen-Verlag, Berlin 2009, 316 Seiten, 24,90 Euro