Der Roman »Das Recht auf Rückkehr« von Leon de Winter

Liebling, ich habe Israel geschrumpft

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Ich hab’ neulich noch einen Artikel über die DNA und die alte Frage, wer nun ei­gent­lich Jude ist, gelesen«, erzählt Ikke, einer der Protagonisten in Leon de Winters neuem Roman »Das Recht auf Rückkehr«, seinem Kollegen Bram. »Die DNA, die über Generationen hinweg unverändert bleibt, ist das Y-Chromosom des Mannes. Das wird vom Vater an den Sohn weitergegeben. Ursprünglich ging es den Rabbinern wirklich um die Blutlinie der Mutter, die war maßgeblich fürs Jüdischsein. Aber das sind überholte Ansichten. (…) Seit wir etwas über die DNA wissen, ist klar, dass die rabbinischen Regeln Schrott sind.«
Bram und Ikke betreiben in Tel Aviv eine Agentur, die Eltern dabei hilft, ihre verschwundenen Kinder aufzuspüren. Zu dem Zeitpunkt, als Ikke sein Wissen über Gentechnik und das Un­zeitgemäße rabbinischer Lehren zum Besten gibt, befinden sie sich gerade im Auto am Check­point auf dem Weg ins arabische Jaffa. In einem standardisierten Verfahren wird von den Beamten geprüft, ob die Passierenden »ethnische jüdische Merkmale« aufweisen.
Was de Winter in seinem neuen Buch thematisiert, ist die Zukunft eines Staates, dessen Existenz seit seiner Gründung bedroht ist. Das Szenario, das der Schriftsteller entwirft, ist angesichts der vielen »Israelkritiker«, die sein Buch missverstehen und begeistert aufnehmen könnten, gewagt. Die Idee einer vom Staat Israel zu Sicherheitszwecken in Dienst genommenen Gentechnik etwa ist attraktiv für all jene, die darauf warten, eine »zionistische Biopolitik« (so jüngst der Vorwurf der Literaturwissenschaftlerin Céline Kaiser an Max Nordau) anpran­gern zu können. Zwar mutet die Vorstellung eines DNA-Scanners zur Entlarvung von Nichtjuden zunächst vollkommen absurd an, doch die Wirklichkeit ist bekanntlich oftmals irrwitziger als so mancher Tagtraum. So berichtete die Zeit bereits 1998, Israel bastele »an einer Biowaffe, die nur Araber töten soll«, und bot dafür namenlose Zeugen aus dem Pentagon und dem israelischen Geheimdienst auf. Es ist anzunehmen, dass diese vermeintlich streng geheime Information damals bewusst gestreut wurde, um dem Feind Angst zu machen.
In »Das Recht auf Rückkehr« dagegen ist der Gen-Scanner kein Gerücht, das zu Abschreckungszwecken verbreitet wird, sondern Realität. Das hat mit der Situation zu tun, in der sich Israel in de Winters Erzählung befindet. Diese spielt zum größten Teil im Jahr 2024, in dem der Judenstaat auf einen streng gesicherten Stadt­staat im Umkreis Tel Avivs zusammengeschrumpft ist, einen schmalen Streifen Land am Meer. Nach mehreren verlorenen Kriegen ist Israel von seinem ursprünglichen Territorium nur noch ein geringer Teil geblieben. Der Negev und Israels Norden einschließlich Haifas sind arabisch, Jerusalem ist längst die Hauptstadt Pa­lästinas. Ein Großteil der Bevölkerung hat Israel verlassen, die Gesellschaft hat mit Überalterung zu kämpfen, nur noch gelegentlich kommen einige junge Juden aus dem reichen Russland ins Land – aus »Abenteuerlust«. Das langsam, aber sicher verfallende Israel ist nicht mehr ein Ort des prallen Lebens, der avantgardistischen Kultur und der hedonistischen Jugend, sondern ein Altersheim, dessen Bewohner sich gegenseitig beim Sterben zusehen. Doch nicht einmal das allmähliche Dahinsiechen der einstigen jüdischen Heimstatt stellt die fanatisierten Nach­barn zufrieden. Sie führen den antisemitischen Terror bis zum letzten Tag fort, getreu dem Motto: Was fällt, das soll man stoßen.
Um gegen die mörderische Gewalt gewappnet zu sein, hat Israel sich selbst eingezäunt, überwacht jeden Schritt seiner Bewohner und schottet sich gegenüber der Außenwelt ab. Trotzdem gelingt es eines Tages einem Selbstmordattentäter, die »ethnische« Schleuse zu passieren und sich in die Luft zu sprengen. Was bis dahin unmöglich schien, liegt nun auf der Hand: Ein antisemitischer Jude hat sich für den Jihad anwerben lassen.
Wie in vorangegangenen Büchern verknüpft de Winter auch dieses Mal gekonnt das politische Geschehen mit dem Leben seiner Figuren. In fast allen Geschichten des Niederländers trägt die Hauptfigur stark autobiografische Züge. Auch in dem nun auf Deutsch vorliegenden Roman sind die Parallelen unübersehbar. Bram Mannheim ist der Sohn niederländischer Juden, die den Holocaust nur dank einer Kette von Zufällen überlebt haben. Im Roman lebt Mannheim nicht nur in Israel und den Niederlanden, sondern auch in de Winters Wahlheimat Kalifornien (außerdem noch für kurze Zeit in der »Stadt des Kalifats«, die sich in Kasachstan befindet). Brams stärkster psychischer Konflikt besteht in der Auseinandersetzung mit der Autorität des kauzigen und – nach den traumatischen Erfahrungen während des Nationalsozialismus, über die der Leser weitestgehend im Unklaren gelassen wird – zu Liebesbekundungen kaum noch fähigen Vaters. Meisterhaft gelingt es de Winter, die innere mit der äußeren Welt Bram Mannheims zu verweben. Die Geschichte lebt von der Spannung zwischen den politischen und sozialen Entwicklungen in der düsteren Zukunftswelt und den individuellen Entscheidungen der Figuren, welche nicht immer dem scheinbar un­auf­haltsamen Lauf des Schicksals entsprechen. Die Beziehung von Aufstieg, Blüte und Verfall ist das zentrale Thema des Buches. Allerdings setzt de Winter der fatalistischen Grundkomposition immer wieder heterogene Ereignisse und Entscheidungen entgegen, kleine Glücksmomente, die darauf hoffen lassen, dass die Geschichte vielleicht doch einmal anders verlaufen könnte, als der Pessimist behauptet.
Dass Geschichtlichkeit immer wieder im Werk des Niederländers thematisiert wird, beginnend schon mit seinem 1981 geschriebenen Buch »Place de la Bastille«, verweist darauf, dass der Holocaust eine Vergangenheit geschaffen hat, die nicht vergeht. Immer wieder legt de Winter Spuren frei, die zum Verdrängten führen und das Geschehene mit Gegenwart und Zukunft verbinden. In diesem Sinne ist Leon de Winter sicher als moralischer Autor zu bezeichnen. Doch es ist nicht der enervierende Ton politischer Engagiertheit, der hier Klage führt, sondern ein Bewusstsein, das gegen die Verdrängung der Ver­gangenheit aufbegehrt.
»Das Recht auf Rückkehr« ist wahrlich kein utopischer Roman. Er spielt zwar (zum größten Teil) in der Zukunft, aber die bedrückende Grundstimmung deckt sich allzu sehr mit aktuellen politischen Entwicklungen. Das Szenario, das de Winter vor Augen führt, kommt dem Leser leider gar nicht so fremd und absonderlich vor, wie es zunächst scheint. Insofern ist das Buch eine Warnung und ein Ausdruck von Protest gegen Zustände, in denen der Wahnsinn voranschreitet und das Glück auf verlorenem Posten steht.

Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes-Verlag, Zürich 2009, 550 Seiten, 22,90 Euro